„Wenn es einen Diktator gibt, dann ist es die Wahlhürde“

pinar_oguncPinar Ögünç, Journalistin, Kolumnistin der Zeitung Radikal

Ich habe diesen Satz in Istanbul, im Abbasaga-Park beim ersten Treffen der Bevölkerung gehört, die sich auf den Park ausgeweitet und mehr als 50 Mal stattgefunden haben. Ein höchstens 30-jähriger Mann sprach darüber, dass er mit der Bezeichnung Diktator nicht einverstanden ist, dass Menschen vergänglich sind und der eigentliche Punkt die Wahlhürde ist. Es ist unglaublich, aber in der Nacht haben sich auf eigene Initiative fast 1000 Personen zusammengefunden.

Die Menge hatte rasch Methoden zum Zuhören und um Einwände erheben zu können entwickelt. Zu später Stunde sind aus umliegenden Wohnungen Kisir [ein beliebter Salat] geschickt worden. Am Ende des Treffens ist alles, bis zum letzten Zigarettenstummel, entsorgt und gereinigt worden.

Am folgenden Tag bin ich zum Forum im Yogurtçu-Park in Kadiköy gegangen, habe auch von vielen Parks Nachrichten erhalten und Notizen gelesen. Ich spürte von Anfang an dieses Potential, das aus dem Seite an Seite zu stehen entstand, verfolgte still und voller Achtung, Angst mich zu irren oder es überzubewerten, diesen neuen Geist, der sich im Gezi-Park und anderen Parks oder Plätzen im Land ausgeweitet hatte.

Was dann geschehen ist, wisst ihr. Wir sind mit der Menge, die zusammen Zehntausende sind, und dennoch eine begrenzte Zahl an Menschen ausmacht, unter einem Baum zu tagelang andauernden Parktreffen zusammengekommen. Und auch wenn es nach einer bestimmten Schicht von Gesellschaftsklasse aussieht, war noch vor einem Monat nicht daran zu denken. Der Satz, „ich wusste nicht, dass ich so liebe Nachbarn habe“, zeigt einmal mehr die emotionale Seite dessen. Hinzu kommt, dass dies nicht unwichtig ist. Und ich möchte hinzufügen, dass ich neben Austritten aus der Politik gesehen habe, wie gesagt wurde: „Ihr werdet mir nie im Leben Sportschuhe anziehen können, ich bin in meinen Lederschuhen hier.“

Wer es geringschätzt, dass jede Nacht Tausende Menschen, von denen der Großteil junge Menschen, aber Menschen jeden Alters, über demokratische Politik, über die zu sprechende Sprache zu den anderen 50 % und über die Möglichkeiten der regionalen Politik spricht, der möge es geringschätzen. Es gab Menschen, die „ich rede zum ersten Mal zu einer Menge“ sagten, die in ihrer Art gegen neoliberale Kommunalpolitik sprachen, die Kampangen zum Boykott der Einkaufszentren und Unterstützung der Kleingeschäfte, die zu Tauschhandel in den Stadtteilen, zu Stadtteilkommissionen vorschlugen … Zustimmende ausgestreckte Hände … All dieses bietet eine Möglichkeit. Im Kern geht es darüber, über Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und demokratische Politik und die Gemeinsamkeiten, Faschismus, Militarismus und alle möglichen Symbole zu sprechen.

„Das ist bereits eine demokratische Autonomie“
„Paragrafen des Antiterrorgesetzes, die die Meinungsfreiheit einschränken, Reformen im Demonstrations- und Versammlungsrecht, die Aufhebung von Verboten im Presserecht, Änderung der Wahlhürde im Parteienrecht …“ Ich weiß, dass seit einigen Tagen im Park über solche Dinge gesprochen wird. Aber all das, was ich aufgezählt habe, befindet sich auch im der Regierung übergebenen Paket, wie der BDP-Kovorsitzenden Selahattin Demirtas (in der Özgür Politika) erklärt hat. Es gibt auch eine Erklärung von Demirtas, der über die aus dem Park erhobenen Stimmen über Demokratie und Forderungen über eine stärkere regionale Politik sagte: „Das ist bereits eine demokratische Autonomie.“

Auch wenn es mir bereits so vorkommt, als sei es sechs Monate her, so war die Ende Mai in Ankara stattfindende „Konferenz für Demokratie und Frieden“ eine Einladung der Kurden an alle demokratischen Kräfte und Linken in der Türkei, sich mit an den Verhandlungstisch zu setzen. Könnte es sein, dass sich innerhalb eines Monats eine Chance in diese Richtung ergeben haben könnte?

Ich möchte eine weitere Frage stellen: Wäre das alles passiert, wenn es den „Friedensprozess“ nicht gegeben hätte? In den letzten Tagen werden bei den KCK-Verhandlungen nur einzelne Menschen freigelassen, in den Regionen, aus denen sich die PKK zurückzieht, werden neue Militärwachen aufgestellt, während sich die Trauer in Roboskî verhärtet, überschreiten „Aufklärungsflüge“ kilometerweit die Grenzen und gesetzliche Reformen kommen keinen Schritt voran.

Es wurden große Schritte für das Ende dieses Krieges getan. Jedwedes Stocken des Friedensprozesses, jedwede Sabotage ist, im Vergleich zum vorherigen Monat, nun die Sache einer noch größeren Schicht des Volkes. Ist es nicht so?

Quelle: Radikal, 21.06.2013, ISKU

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