“Wir sind für eine starke Selbstorganisation der Êzîden”

salih-muslimInterview mit dem PYD Co-Vorsitzenden Salih Muslim, Êzîdî-Press, 09.04.2015

ÊzîdîPress: Herr Muslim, vielen Dank, dass Sie trotz Ihres engen Zeitplans in Moskau die Zeit für ein Interview mit unserer Redaktion gefunden haben!

Salih Muslim: Ich danke Ihnen!

ÊzîdîPress: Herr Muslim, glauben Sie, dass der Angriff der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) vom 3. August 2014 in Shingal verhindert hätte werden können?

Salih Muslim: Der Angriff hätte verhindert werden können, wenn die Êzîden zu der Zeit selbst militärisch organisiert gewesen wären. Wir als Partei der Demokratischen Union (PYD) und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) waren immer für eine starke Selbstorganisation der Êzîden. Als Mosul an die Terroristen des IS fiel, warnte die PKK vor der drohenden Gefahr für die Êzîden. Es lag auf der Hand, dass die Terrororganisation eines der am schwächsten geschützten Gebiete angreifen wird – Shingal. Die PKK-Einheiten waren bereit die Sicherheit in Shingal als Schutzkraft zu verstärken, alle Argumente dieser Notwendigkeit aber wurden von einigen Mitgliedern der Regierung Südkurdistans ignoriert. Dem Vorschlag, die Bewohner der Gemeinden durch PKK-Guerilla zu schützen, wurde mit Ablehnung begegnet. Trotz dieser ablehnenden Haltung, hat sich eine kleine PKK-Einheit nach Shingal begeben um dort die Selbstverteidigung der Êzîden zu etablieren; sie wurde aber von den Sicherheitskräften vor Ort aufgegriffen und verhaftet.

ÊzîdîPress: Was waren Ihrer Meinung nach die Gründe für die Flucht der Peshmerga, dass Sie die Zivilisten den Terroristen überließen?

Salih Muslim: Einige der führenden Kommandeure haben unser Volk verraten, wir erwarten daher eine ernsthafte Untersuchung dieses Vorfalls. Die Untersuchung muss alle Entscheidungsträger umfassen, die für den Rückzug der Peshmerga-Einheiten verantwortlich sind. Sie müssen vor Gericht gestellt und bestraft werden.

ÊzîdîPress: Die Êzîden in Shingal sind dankbar für Hilfe der kurdischen Einheiten der YPG und HPG (PKK), die als erste kamen um die Êzîden zu unterstützen. Wer war in diesem schwierigen Moment für die Koordinierung der Einsatztruppen verantwortlich, der die Rettung der Menschen für so notwendig hielt?

Salih Muslim: Die Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Volkverteidigungskräfte (HPG) sind für alle Fälle vorbereitet, um in solchen Situationen die Kurden zu verteidigen, wo auch immer unsere Menschen bedroht werden. Diese Kämpfer stehen stets bereits, für die Verteidigung zu kämpfen. Am ersten Tag der Tragödie der Menschen aus Shingal, haben lediglich 12 Kämpfer der YPG und PKK den IS-Terroristen standgehalten und die Menschen verteidigt, bis weitere Einheiten zur Verstärkung nachrückten.

ÊzîdîPress: Wie sehen sie die Zukunft Shingals? Sind Sie bereit, die Êzîden in ihrem Wunsch nach einem Sonderstatus für ihre Region zu unterstützen?

Salih Muslim: Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass die Menschen selbst über sich entscheiden müssen. Welche Entscheidungen auch immer die Êzîden in Shingal treffen, wir sind bereit sie zu unterstützen. Lassen Sie mich hinzufügen: Wir unterstützen sie nicht nur auf ihrem Weg, sondern sind auch bereit notwendige politisch, militärische und wirtschaftliche Hilfe zu leisten.

ÊzîdîPress: Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der PKK und der südkurdischen PDK sind bekannt; man war dennoch in der Lage einen Kompromiss zu finden, um in Kobani und Haseke gemeinsam zu kämpfen. Wieso existiert für Shingal eine solche Einigkeit nicht?

Salih Muslim:  Für den Fall von Kobani und anderen Teilen West-Kurdistans (Rojava) konnten wir Kompromisse eingehen, aufgrund der Tatsache, dass wir diese Gebiete kontrollieren. Zweitens, die Haltung der Menschen in den von uns kontrollierten Regionen ist eindeutig, d.h. es existiert kein Chaos. So können wir die Situation vor Ort beeinflussen und unsere Stimme ist maßgeblich für jede Entscheidung.

Im Fall von Shingal sieht die Situation jedoch anders aus. Erstens: Seit dem August 2014 steht die Region unter der tatsächlichen Kontrolle der PDK, die weiterhin der Meinung ist, dass die Region fester Bestandteil ihrers Herrschaftsgebietes ist und dort keine andere Streitkraft duldet. Mit anderen Streitkräften sind nicht nur die PKK und die YPG gemeint, sondern auch die der Êzîden in Shingal, die ihre eigene Sicherheit gewährleisten wollen. Zweitens: Die Haltung der Êzîden für die Zukunft ihrer Region ist nicht eindeutig. Einige favorisieren die Etablierung einer Selbstverwaltung, andere lehnen diese ab. All dies zusammen erschwert es, einen gemeinsamen Konsens für die Region Shingal zu finden. Dennoch stagniert nichts, der Kampf geht weiter und der Wille und die Ausdauer unserer Kämpfer sind ungebrochen.

ÊzîdîPress: Herr Muslim, wie bewerten sie die Verhaftung von Heydar Shesho durch Erbil, weil ein êzîdîscher Kommandeur zum Symbol des Freiheitskampfes der Êzîden geworden ist?

Salih Muslim: Die Verhaftung von Heydar Shesho ist ein großer Fehler, der sofort behoben werden muss. Die Wunden der Êzîden sind noch offen und zu frisch, es ist unmöglich, sie durch solche Aktionen wieder bluten zu lassen. Die Zeit verlangt es von uns. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen und alles daran setzen, die Schmerzen, die uns quälen, zu heilen.

ÊzîdîPress: Vielen Dank Herr Muslim, Ihnen und den Menschen in West-Kurdistan alles Gute und Frieden!