Wird beim Referendum über Unabhängigkeit oder Macht abgestimmt werden?

Kolumne von Meral Çiçek, Yeni Özgür Politika, 10.06.2017

Zu einem Zeitpunkt an dem in Südkurdistan fast niemand mehr daran geglaubt hat, dass es zu einer Volksabstimmung kommen wird, gab der KDP-Vorsitzende Mesut Barzani per Twitter bekannt, dass das Unabhängigkeitsreferendum im September stattfinden werde. Diese Bekanntgabe wurde nach der von Barzani zusammengerufenen Versammlung in Hewlêr gemacht. Barzani hält seit 2005 das Amt des Präsidenten der Region Kurdistan inne, obwohl seine Amtszeit vor 2 Jahren abgelaufen ist. Nach dieser Versammlung  wurde auch bekanntgegeben, dass am 6. November Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden werden.

Das Ganze ist recht eigenartig. Die Entscheidung bezüglich der Volksabstimmung wurde von einer Versammlung, die sich aus Politbüromitgliedern verschiedener Parteien zusammensetzt, getroffen. Dabei haben die Goran-Bewegung, die 2013 ein Viertel der Stimmen erzielt hatte, und die Komala Islami nicht einmal an der Versammlung teilgenommen. Eigentlich müsste solch eine Entscheidung im Parlament getroffen werden. Unter normalen Umständen hätte es wenigstens so sein müssen. Jedoch wird das kurdische Regionalparlament seit zwei Jahren  blockiert und tagt nicht.

Aber wenn dem so ist und die Volksabstimmung jetzt endlich beschlossen worden ist, sollte dann nicht erst das Parlament und der Präsident gewählt und anschließend das Referendum abgehalten werden? Oder wäre es nicht besser die Wahlen und die Volksabstimmung  zusammenzulegen? Während die Gehälter der Beamten seit zwei Jahren nicht gezahlt werden, hat Barzani erklärt, man hätte kein Budget für das Referendum, aber er persönlich würde Sponsoren finden. Wie fühlen sich wohl diejenigen, die ihre Arbeitsplätze nicht verlassen, obwohl ihre Gehälter nicht gezahlt werden, bei diesen Worten von Barzani? Vor allem vor dem Ramadan-Fest. Wenn Geld für die Volksabstimmung aufgetrieben werden kann, warum können dann seit zwei Jahren die Gehälter der Beamten und Peschmergakämpfer nicht gezahlt werden?

Was denkt wohl gerade die Familie von Hujam Surçi, Vater von elf Kindern, der vom IS enthauptet wurde und seinen Kindern vor dem Gang an die Front nicht einmal 1000 Dinaren geben konnte? Oder der Beamte aus Kifri, der letzten Monat nach einem Jahr in Untersuchungshaft vom Gericht wegen Diebstals von Milch und Windeln zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist? Als sein Normalgehalt, das bei 255 Dollar lag, aufgrund der finanziellen Krise auf 139 Dollar gekürzt worden ist, sah er keinen anderen Ausweg als zu stehlen.

Andererseits wird jetzt schon gesagt, dass diese Volksabstimmung zu keinem konkreten politischen Ergebnis führen wird und der Hauptzweck darin liegt, bei den zukünftigen Verhandlungen zur Unabhängigkeit die Position der Kurden zu stärken. Wir wissen alle, dass die Kurden im Süden zu mindestens 95% für die Unabhängigkeit sind. Wenn dem so ist, über was wird hier dann abgestimmt? Warum soll noch vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, auf Grundlage eines Beschlusses nicht gewählter Politiker, ohne vernünftige Vorbereitungen und einen Strategieplan ein Referendum abgehalten werden? Besonders während die Militäroperation in Mosul noch andauert. Dabei wird Mosul gar nicht erwähnt, während erklärt wird, dass das Referendum auch in den strittigen Gebieten Kirkuk, Maxmur, Xaneqin und Schengal, welche verwaltungstechnisch zwar an Bagdad gebunden sind, de facto jedoch von Kurden verwaltet werden, abgehalten werden wird.

Natürlich ist in Südkurdistan Unabhängigkeit dringend nötig. Eine unabhängige Politik, unabhängige Ökonomie und unabhängige Selbstverteidigung sind notwendig. Denn keines davon besteht momentan. Aber darüberhinaus sind Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Freiheit notwendig. Ein demokratisches System ist erforderlich, in dem niemand aufgrund seines Geschlechts,  Klasse, Glauben, Nationalität und politischer Identität unterdrückt wird, politische Ämter nicht für Korruption, sondern für den Dienst am Volk übernommen werden, das Parlament im Interesse des Volks ihre Gesetzgebung durchführt und die Justiz unabhängig ist.

Fragen wir nun: Soll das bevorstehende Referendum der Demokratisierung dienen oder die bestehende politische Macht festigen? Meiner Meinung nach ist das die wesentlich Frage, die gestellt werden muss, um besser verstehen zu können, warum die Volksabstimmung vor den Parlamentswahlen abgehalten werden soll.