Wollen AKP und Fethullah Gülen die Lösung der kurdischen Frage?

Baki GülBaki Gül, Journalist

In der türkischen Republik ist die kurdische Problematik seit dem 20. Jahrhundert eine der essentiellen Fragen der Republik. Aber sie darf nicht losgelöst von den anderen Teilen Kurdistans in Irak, Syrien und Iran betrachtet werden. Wenn auch Kurdistan eines der ältesten Länder des Mittleren und Nahen Ostens ist, wurde dort die politische Organisierung weder zu den Zeiten der Imperien noch danach, wie bei den Arabern, Persern oder Türken, angegangen. Auf dem eigenen Boden wurde bis heute ein eigenes gesellschaftliches Organisierungsmodell bewahrt. In seiner Geschichte hat Kurdistan auch Phasen der Unabhängigkeit erlebt, ansonsten unterstand es fremder Herrschaft. Kurdistan wurde erstmals im Jahre 1639 durch die „Qasr-i Sirin“-Vereinbarung zwischen Persern und Osmanen aufgeteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es nach dem 1. Weltkrieg zwischen Iran, Irak, Syrien und Türkei viergeteilt und der Herrschaft dieser Länder unterstellt.

Nordkurdistan, der größere Teil, hatte in der türkischen Republik in den 1920er Jahren einen Autonomiestatus. Mustafa Kemal Atatürk verkündete in seiner ersten Parlamentsansprache: „Dies ist das Parlament der Türken und Kurden“, setzte dies jedoch später nicht in die Tat um. Nach den 20ern verleugnete die republikanische Türkei die Kurden und setzte sie einer Assimilationspolitik aus. Indem die türkische offizielle Auffassung die Existenz einer kurdischen Identität verleugnete, wurden das Streben der Kurden nach Freiheit und ihre Aufstände als feudal-rückständig unterdrückt. Nach zwanzig kurdischen Aufständen wurde die kurdische Frage noch nicht geklärt, der türkische Staat ergriff härteste Repressionsmaßnahmen gegen die Aufständischen. 1925 wurde Schech Said und 1938 Seyit Riza als Anführer der Aufstände hingerichtet.

Die kurdische Problematik in der Türkei hat immer ihre politische, kulturelle und wirtschaftliche Aktualität behalten. Die Jahre 1920–1940 waren die Phase der Aufstände, 1940–1960 wurde in Nord-Kurdistan die nationale kurdische Freiheitsbewegung mit harter Unterdrückung quasi zum Schweigen gebracht. Die Entwicklung der 1968er-Studentenbewegung und nationale Befreiungsbewegungen in Vietnam und anderen Regionen hatten eine wichtige Wirkung auf die Kurden. Deren Jugend fand mit den Revolutionären in der Türkei eine gemeinsame Basis für den Kampf. In dieser Zeit, 1978, wurde von Abdullah Öcalan und seinen Freunden die PKK gegründet, welche die Vorreiterrolle spielt für den längsten und andauernden kurdischen Aufstand. Sie kam als eine nationale sozialistische Bewegung auf die Tagesordnung der Türkei und nahm den bewaffneten Kampf 1984 auf. Dadurch wurde die kurdische Frage auf eine neue Ebene gehoben.

Dass sie auf der politischen Agenda an erster Stelle steht, haben das Verbot der kurdischen Sprache und Identität, der Wunsch der Kurden nach Selbstbestimmung sowie die globale wie auch lokale Konjunktur bewirkt. Allerdings sind für die kurdische Freiheitsbewegung unter Führung der PKK auch die Schwierigkeiten gewachsen. Sie wurde wegen der NATO-Mitgliedschaft der Türkei und deren „strategischer“ Kooperation mit den USA international in Bedrängnis gebracht. 1999 wurde der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan durch ein gemeinsames Komplott von USA und Israel an die Türkei ausgeliefert, wodurch das kurdische Problem eine neue Dimension erfuhr. Die politische Landkarte der Türkei hat sich verändert. Zunächst trafen die radikalen Nationalisten und die nationalistische Linke eine Vereinbarung. Mit der Parlamentswahl vom 3. November 2002 betrat dann die AKP die politische Bühne.

Vor der Intervention in den Irak wurde die AKP vorbereitet, durch Recep Tayyip Erdogan, Abdullah Gül und deren Freunde organisiert. Die USA haben diese Partei uneingeschränkt unterstützt. Sie besteht aus Liberalen, aus Gruppen, die einer islamischen Tradition entstammen, die Fethullah-Gülen-Bewegung („die Gemeinde“) hat an vielen Punkten ganz pragmatisch eine Organisierung vorangetrieben. Der AKP stehen die (Nachfolgerin der) Gründungspartei der Türkei, die nationalistische „Republikanische Volkspartei“ CHP, die faschistische „Partei der Nationalistischen Bewegung“ MHP und die von den Kurden unterstützte „Partei für Frieden und Demokratie“ BDP gegenüber. Die AKP hat in den Parlamentswahlen 2002, 2007 und 2011 ihre Spitzenposition erreicht und verteidigt. Die Anteile von CHP und MHP sind im Gegensatz zu denen der BDP geschmolzen. Die PKK ist weiterhin Hauptakteurin in der kurdischen Frage.

Die AKP hat mit Unterstützung der Liberalen die militärische Vorherrschaft im Staat zugunsten der eigenen gebrochen. Allerdings agieren in diesem Herrschaftsgefüge unterschiedliche Gruppierungen. Darunter ist die wichtigste die Fethullah-Gülen-Bewegung. „Die Gemeinde“ organisiert sich nach dem türkisch-sunnitischen Islam. Vor dem Militärputsch vom 12. September 1980 war der Imam Fethullah Gülen in den „Vereinen zur Bekämpfung des Kommunismus“ aktiv gewesen und er hatte immer eine starke Beziehung zu den herrschenden politischen Parteien. Er unterstützte zunächst den Militärputsch 1980, danach bei der Parlamentswahlen 1983 den liberalen Turgut Özal, in den Neunzigern die nationalistisch-konservative „Partei des Rechten Weges“ DYP, 1997 den „postmodernen“ Putsch vom 28. Februar1 und 1999 die nationalistische „Demokratische Linkspartei“ DSP von Ecevit. 2002 stützte er die AKP unter Tayyip Erdogan.

Fethullah Gülen hatte immer Schwierigkeiten mit der elitären laizistisch-kemalistischen politischen Linie und der differenzierten islamischen Version des Necmettin Erbakan. Daher ging er vor den kemalistischen Türkischen Streitkräften in Sicherheit und in der zweiten Hälfte der Neunziger in die USA. Er hat sich in Pennsylvania niedergelassen. Sein Ziel ist es, weltweit türkische Schulen zu eröffnen, um mit den privaten Schulen Geld zu verdienen und durch Handelsaktivitäten seine Bewegung zu stärken. Derzeit verfügt er über ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar. Eine der wichtigsten Unternehmungen war es, sich im Polizeiapparat, unter den Gouverneuren, Landräten, in der Richter- und Staatsanwaltschaft zu etablieren und sich damit innerhalb des Herrschaftsblocks seinen Anteil zu sichern.

Weil Gülen sich als Organisierungsmodell den türkisch-sunnitischen Islam zum Vorbild genommen hat, ist er gegen alle anderen ethnischen Gemeinschaften. Auch wenn er sich gern als gemäßigten, liebenswerten Denker darzustellen versucht, wurden wir oft Zeugen seiner Predigten, in denen er die Assimilierung der Kurden, sogar die Vernichtung Tausender predigte. Er will die gesellschaftliche Herrschaft über die Kurden und ein neoosmanisches Herrschaftssystem. Darum ist für ihn auch die Organisierung innerhalb des Polizeiapparats, der Justiz und der Gouverneure wichtig.

Eine demokratische Lösung der kurdischen Frage steht daher nicht auf seiner Agenda. Die Kräfte, die eine demokratische Lösung anstreben, provoziert er und festigt dadurch seine Position im Herrschaftsgefüge. Daraus entsteht der Widerspruch mit der AKP, der anderen Kraft innerhalb dieses Gefüges. Denn auch wenn Gülen und die AKP in der kurdischen Frage eine Übereinkunft erzielt haben, sind sie doch bei einer Lösungsfindung gegen die kurdische politische Kraft gegensätzlicher Ansicht.

Die Gülen-Gemeinde verfolgt, um innerhalb des Staatsapparates ihre Position zu etablieren, gegenüber den Kurden eine Politik der Härte, weil sie auch im Westen der Türkei die Unterstützung der Nationalisten anstrebt. Dabei versucht sie, auf der internationalen Ebene von Gülen das Image eines „gemäßigten, liebenswerten Intellektuellen“ zu schaffen. Der misst dem akademischen Bereich und diplomatischen Aktivitäten große Bedeutung bei und zeigt sich im Westen als islamischer Gelehrter. Allerdings sind seine Bestrebungen auf die Beherrschung des Staatsapparats gerichtet und der türkische Nationalismus überwiegt in seinem Gedankengut den Islam.

Aufgrund seines fundamentalistischen Charakters versucht Gülen, die klassische Assimilations- und Ausbeutungspolitik den heutigen Gegebenheiten anzupassen.

Jüngst gelangte der Widerspruch zwischen den die Herrschaft über den Staatsapparat anstrebenden Gruppierungen nach außen, weil Erdogan gegen die Gülen-Anhänger innerhalb des Polizeiapparates vorgegangen war und tausende Gemeinde-Anhänger in der Istanbuler Polizei über die ganze Türkei verteilt worden waren. Auch durch die „Gerichte mit Sondervollmachten“ wird der Widerspruch zwischen Erdogan und Gülen aktuell gehalten. Die Gülen-Bewegung bezichtigt in diesem Punkt Erdogan einer Übereinkunft mit der kemalistischen Ergenekon-Gruppe; Erdogans Anhänger beschuldigen dagegen die Gemeinde, den Staat als Ganzes vereinnahmen zu wollen.

Im Ergebnis behauptet die Gülen-Bewegung, mit ihrer nationalistischen Linie wieder die türkische Ausbeutungspolitik in Kurdistan organisieren zu können, wofür sie anstelle einer politischen Lösung der kurdischen Frage polizeiliche Maßnahmen und Massenmord als Verfahren propagiert.

1 Ein Memorandum des Nationalen Sicherheitsrates erzwang den Rücktritt der damaligen Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan von der Refah Partisi (Wohlfahrtspartei; der Milli-Görüs-Bewegung zugehörig) aufgrund „fundamentalistischer Umtriebe“; aus der Refah Partisi sind letztendlich die Saadet Partisi und die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) hervorgegangen.

Quelle: Kurdistan Report Nr. 162 Juli/August 2012

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