Zerbricht die Ordnung im Mittleren Osten?

Mitleren OstenÜber vordergründig widerstreitende und objektiv gemeinsame Interessen
Dr. Haluk Gerger, 19.06.2014

Die Fragen, die sich uns stellen, lauten: Bricht die Ordnung im Mittleren Osten zusammen? Erleben wir derzeit die Begleiterscheinungen eines »Zusammenbruchs der Ordnung«? Falls die Ordnung zusammenbricht, wird in der Region eine neue Ordnung geboren?

Um diese Fragen beantworten zu können, muss zunächst die »Ordnung des Mittleren Ostens« definiert werden. In der gängigen Literatur lautet die Kurzbezeichnung die »Sykes-Picot-Ordnung« oder »-Anordnung«. Während des Ersten Weltkriegs knüpften die gegen die Osmanen aufbegehrende arabische Unabhängigkeitsbewegung und die gegen die Osmanen kämpfenden Kräfte, also England und Frankreich, Kontakte miteinander. Die »Abmachung« zwischen ihnen war klar: Wenn die Osmanen bezwungen werden sollten, würden England und Frankreich die Unabhängigkeitsforderungen der Araber unterstützen. Im Gegenzug würden diese den bewaffneten Kampf gegen die Osmanen zeitgleich mit den Verbündeten verstärken.

Und genau zu der Zeit, da überall auf der Welt ein Krieg um ihre Aufteilung stattfindet, kommen die führenden der kolonialistischen Kräfte, England und Frankreich, in einem heimlichen Abkommen darin überein, die Beute der Region, also den Mittleren Osten, nach dem Bezwingen der Osmanen unter sich aufzuteilen. Nach dem Ersten Weltkrieg wird also die Ordnung im Mittleren Osten auf diese Weise mit den Namen der Führungskräfte, die dieses geheime Abkommen unterschrieben haben (des französischen Diplomaten François Georges-Picot und des Engländers Mark Sykes), bedacht.

Die Kolonialisten haben dann, nach ihrem Sieg im ersten großen Verteilungskrieg, die Araber in der Region in kleine Stückchen zersplittert, je nach Interesse Grenzen gezogen und in ihren Herrschaftsgebieten Clanchefs, die in Blutfehde miteinander lagen, zu Königen und Führern gemacht, damit sie sich auch in Zukunft ständig bekriegen und dadurch von Frankreich und England abhängig bleiben. Sie haben, wie in Syrien und im Irak, unterschiedliche ethnische, religiöse und konfessionelle Gruppen in denselben Sack gestopft, bestehende Staaten wurden zerteilt, andere wie Jordanien ganz neu erschaffen und natürlich die Ölreichtümer der Region okkupiert. Und die feudalen Despotien des Golfs haben sie in Verwaltungsregime und imperialistische Militärbasen verwandelt. Die Region ging letztendlich aus der osmanischen Tyrannei in die Fänge des klassischen Kolonialismus über und wurde nach heutiger Diktion »designt«. Während dieses Tumultes wurde Kurdistan geteilt und die Kurden wurden in jedem Teil zur Statuslosigkeit verurteilt. Die erdölreichen Teile Kurdistans wurden auf die von Frankreich bzw. England kontrollierten Staaten Syrien und Irak aufgeteilt, während die Türkei den nördlichen Teil Kurdistans erhielt.

Später wurde diese Ordnung nach den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs mit gewissen Erneuerungen verfestigt. Der Staat Israel wurde in dem nach Sykes-Picot den Engländern übertragenen Gebiet Palästina errichtet. Arabische Regime »linker Nationalisten« verbündeten sich mit den Sowjets, der Rest blieb dem westlichen Lager vorbehalten. Und die Gegensätze und Widersprüche innerhalb dieser Ordnung, derselben Staaten, Grenzen und Gefüge, blieben der Region weiterhin erhalten.

Mit der Auflösung der Sowjetunion kam es zu zwei neuen Entwicklungen. Erstens begannen die USA, wie von ihren Zügeln befreit, mit brutalem Appetit in der gesamten Welt und insbesondere im Mittleren Osten militärisch ihr »Pax Americana« zu formen. Auf diese Weise sollte die Region unter der regionalen Hegemonie Israels im Zuge der Globalisierung dem internationalen Kapitalismus einverleibt werden und ein integrativer Bestandteil der neuen Weltordnung sein.

Und die zweite Entwicklung war, dass neue Zugehörigkeiten und Widerstandsherde den Klassenkampf in der Region verdrängten und sich dadurch vor allem der radikale Islam in der Region herausbildete. Daraus ergab sich, wie beispielsweise zwischen den Golfstaaten und dem Iran, dass der Kampf um die Herrschaft untereinander auch durch die Aufstachelung des intervenierenden Imperialismus zu chaotischen neuen Kämpfen führte, die schließlich mit der Intervention der USA in der Region einen neuen Charakter erhielt. Die nach der Besetzung des Irak von den USA neu geordnete schiitische autoritäre Herrschaft im Land führte dazu, dass nicht nur die alten Widersprüche zwischen Baath-Regime und Sunniten aus der Welt geschafft wurden, sondern durch die Intervention ein Bündnis zwischen beiden geschaffen worden ist, das heute seine Früchte zeigt und wie ein Bumerang auf jeden zurückzuschlagen beginnt, der das Baath-Regime zuvor bekämpft hat.

ISIS stellt für die klassische Ordnung im Mittleren Osten eine tödliche Gefahr dar, denn sie steuert darauf zu, sowohl die gegebenen Grenzen (derzeitige Grenze Irak/Syrien) als auch das Ergebnis der Neuordnung von Staaten (der jetzige Irak) aufzuheben. Objektiv betrachtet ist das die Folge, denn zwei Staaten brechen auseinander und natürlich fallen dadurch auch ihre Grenzen weg. Somit bleiben zudem Schiiten und Sunniten konfessionell, die Christen als religiöse Minderheit und die Kurden als organisierter, ethnischer Teil außerhalb des Rahmens der Sykes-Picot-Ordnung.

Aber bricht denn die alte Ordnung zusammen und zeichnet sich am Horizont eine neue ab?

Wenn dem so ist, müsste doch von den herrschenden Kräften, also denjenigen, die für die Neuschaffung des derzeitigen Status quo sind (mit einigen Korrekturen und dem Zutun neuer Akteure), Bestrebungen und Anläufe zur »Restauration« erwartet werden. Das trifft tatsächlich auch so zu. Iran und USA nähern sich einander an, die Beziehungen zwischen der Türkei und ISIS lösen sich, die Saudis sind unruhig, und sogar in Syrien erleben wir einen Rückzug, der einhergeht mit dem Abfinden mit Assad. Wenn die Türkei oder die USA beispielsweise von der »Beibehaltung der Grenzen Iraks und Syriens« sprechen, dann meinen sie eigentlich, dass sie »für den Fortbestand der Sykes-Picot-Ordnung« seien. Der Iran und die USA versuchen zwar aus unterschiedlichen aktuellen Gründen, Notwendigkeiten und Zwecken, gemeinsame Aktivitäten gegen ISIS zu kreieren, aber der eigentliche tiefgreifende Grund, der sie gemeinsam bindet, ist die Gefahr des Zusammenbruchs der Sykes-Picot-Ordnung. Innerhalb dieser haben sie zwar auch Widersprüche miteinander und sie bekämpfen sich, aber eben innerhalb dieser Ordnung …

Genau an diesem Punkt findet eine Zäsur statt … Und es ist möglich, genau hier die Antwort auf unsere erste Frage zu finden.

Für eine »Ordnung« braucht man drei Elemente. Erstens muss es zwischen »den Ordnung schaffenden Mächten« ein Bewusstsein über das gemeinsame (reelle oder fiktive) Interesse an der Erhaltung der Ordnung geben. Zweite Notwendigkeit sind charakteristische und alle mehr oder weniger bindende Normen, Werte und Grundsätze, die für alle Mitglieder dieser Ordnung gültig sind. Und drittens ist die Existenz von Organisationen erforderlich, die diese Grundsätze umsetzen und durchführen und Verletzungen ahnden.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien vor allem die ersten beiden Faktoren für die Sykes-Picot-Ordnung, also den derzeitigen Status quo des Mittleren Ostens, nicht vorhanden. Es hat aber eben nur den Anschein, dass es so ist. Und was ist der »Kern« hinter diesem »Anschein«, also die Realität?

Die Ordnung im Mittleren Osten ist zweifellos im Hinblick auf die oben genannten drei Elemente ziemlich problematisch. Genau aus diesem Grund wird die Region auch durch permanente Krisen erschüttert.

Die kolonialistisch-imperialistischen Kräfte, die diese Ordnung geschaffen haben, also vor allem die westliche Welt, sind dennoch dafür, ihre eigene Ordnung neu zu schaffen. Die integrierten Teile dieser Ordnung, die durch sie entstandenen, regionalen Staaten, sind ebenfalls für die Fortdauer dieser Ordnung. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, denn ihre Existenz ist an die Fortdauer dieser Ordnung geknüpft. Auch wenn die gegenwärtige Ordnung nicht mehr durch Werte und Grundsätze zusammengehalten wird und auch wenn die Organisationen, die Verstöße gegen die Grundsätze ahnden sollen, zusammenbrechen, so glauben sie dennoch daran, diese Ordnung mit gemeinsamer, subjektiver Gewalt aufrechterhalten zu können, und sind entschieden darin, alles Notwendige dafür zu tun. Die Beweggründe jedes Einzelnen von ihnen und ihre Ziele mögen sich unterscheiden. Wichtig ist, dass alle zusammen diese Ordnung fortführen, von neuem hervorbringen und an der Restauration ein gemeinsames Interesse haben. Die Grundabsicht der Türkei mag sein, den Kurden keinen Status oder kein eigenes Land zusprechen zu wollen. Der Iran mag zudem insbesondere hegemoniale Ziele in der Region verfolgen. Der Westen mag es für richtig halten, für sein System einzutreten und innerhalb dessen seine Herrschaft von neuem zu generieren. Durch die aus Bushs radikaler Art von Herrschaftsfestigung gewonnenen Erfahrungen sind die Reformen, Obamas Strategie, im Gegensatz dazu ein neuer Weg, dasselbe zu schaffen.

Ein strategisches Hindernis, wenn es darum geht, die jetzige Ordnung zu zerstören und eine neue an ihre Stelle zu setzen, liegt darin, dass es dafür an einer politischen Kraft oder einer Kräftekoalition, gemeinsamen Werten und Organisationen sowie an einer gemeinsamen Ideologie mangelt. Jede Ordnung, die keine sie überbietende Alternative hervorbringt, kann irgendwie ihre Existenz behaupten und gegebenenfalls restaurieren. Damit eine gegebene Ordnung gestürzt werden kann, bedarf es eines Willens, der eine alternative Ordnung mit allen Komponenten konkretisieren und hervorbringen kann. Unglücklicherweise gibt es dies im heutigen Mittleren Osten nicht. Die Hervorbringung dessen bleibt also eine dringende Notwendigkeit.

Für alle, die Verfechter einer neuen Ordnung sind, ist es von Vorteil, wenn sie die Entwicklungen auch einmal aus diesem Blickwinkel betrachten. Das bedeutet nicht Pessimismus oder Entmutigung, sondern die Notwendigkeit zu revolutionären Schritten.

Haluk Gerger ist marxistischer Politikwissenschaftler und Nahostexperte aus Istanbul. Er war Dozent an der Fakultät für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen an der Universität Ankara gewesen. Nach Inkrafttreten der Militärputsch-Verfassung von 1982 war auch seine Tätigkeit wegen seiner kritischen politischen Meinung beendet. Er ist Mitbegründer des Menschenrechtsvereins (IHD). Zwischen 1996 und 1999 war er Gastdozent an der TU Darmstadt. Neben sechs auf Türkisch erschienenen Büchern publiziert er als Kolumnist bei mehreren Zeitungen und Zeitschriften. Auf Deutsch erschienen »Die türkische Außenpolitik nach 1945 – vom Kalten Krieg zur Neuen Weltordnung« (isp Verlag, Karlsruhe 2008) und »Widerstand im Nahen Osten – Die Politik der USA, der Westmächte und der Türkei gegen die arabischen Länder von 1945 bis in die Gegenwart« (Zambon Verlag, Frankfurt/M. 2013).

 

Kurdistan Report 174 | Juli/August 2014