Zwischen Unabhängigkeitsreferendum und demokratischer Autonomie

Kurdische Perspektiven im Irak nach der Befreiung von Mossul, Civaka Azad Dossier Nr. 12, 30.09.2017

Der Irak steht vor wegweisenden Entscheidungen, die seine Zukunft für Generationen prägen werden. Nach der Befreiung Mossuls und dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum stellt sich die Frage nach einer politischen Lösung der jahrzehntealten Konflikte innerhalb des Landes. Während sich regionale und internationale Kräfte über die Notwendigkeit einer militärischen Zerschlagung des Islamischen Staates (IS) weitgehend einig sind, fehlt es derzeit an klaren politischen Lösungsperspektiven für den Irak in der Post-IS-Ära. Weder die USA oder Russland, noch die regionalen Mächte wie der Iran oder die Türkei haben eine Vorstellung von einer möglichen friedlichen politischen Ordnung für den Vielvölkerstaat. Die angespannte Situation in Mossul, aber auch in den vorwiegend sunnitischen und den kurdischen Provinzen unterstreicht die Dringlichkeit eines politischen Verständigungsprozesses aller Völker, Glaubensgruppen und anderer gesellschaftlicher Gruppen. Folgt auf die Militäroperation gegen den IS keine politische Ordnung, die der gesellschaftlichen Vielfalt des Iraks Ausdruck verleiht, droht die Fortsetzung und Ausweitung der seit der Irakintervention 2003 andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen in dem Land. Vor dem Hintergrund der sich daraus ergebenden notwendigen Demokratisierung des Iraks sind die Diskurse innerhalb der kurdischen Gesellschaft von exemplarischer Bedeutung.

Der Kampf gegen den IS dauert gegenwärtig zwar noch an, doch die politischen Kräfte in der Region konkurrieren bereits um die Gestaltungshoheit bei der Neuordnung der Region. Die kurdischen Akteure sehen in der gegenwärtigen Phase auch ihre Zeit gekommen. Sie haben sowohl in Syrien als auch im Irak einen hohen Tribut im Kampf gegen den sog. Islamischen Staat gezahlt und zahlen diesen weiterhin. Mit hundertjährigem Verzug fordern sie aus diesem Grund die Anerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung. Im Norden Syriens haben die Kurden es geschafft, gemeinsam mit der ethnischen und religiösen Vielfalt der Region ein System zu etablieren, das die Umsetzung dieses Rechts auch ohne Nationalstaatlichkeit ermöglicht. Im Irak hingegen konkurrieren zwei unterschiedliche Ansichten darüber, wie das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung umgesetzt werden kann: Die demokratische Autonomie von Şengal, welche sich am Modell der Demokratischen Föderation Nordsyrien orientiert, und das Modell der kurdischen Nationalstaatlichkeit, welches unter der Führung von Masud Barzani in der Autonomen Region Kurdistan (Südkurdistan) angestrebt wird. Während das erstere Modell staatliche Grenzen für obsolet betrachtet, sie überwinden und auf Grundlage von Basisdemokratie die Selbstbestimmung garantieren will, betrachtet das letztere Modell den eigenen Nationalstaat als einzig möglichen Garant für die Gewährleistung dessen, dass die Kurden im heutigen Irak in Zukunft selbstbestimmt und souverän leben können.

Zwar findet das Unabhängigkeitsreferendum in der Autonomen Region Kurdistan (Südkurdistan) auch hierzulande Eingang in die Medien, doch den Entwicklungen in der Region Şengal wird kaum Beachtung geschenkt. Dabei kann sich das in Şengal ausgerufene Projekt der Demokratischen Autonomie zu einem Modell für die Demokratisierung nicht nur Südkurdistans, sondern des gesamten Iraks entwickeln. Setzen sich die Kräfte durch, die im Namen der Hegemonialpolitik ein Interesse an einer Destabilisierung der Region haben, werden sich die ethnisch und religiös motivierten Konflikte im Irak  intensivieren und angrenzende Länder zunehmend destabilisieren. In diesem Fall wird auch Europa die Folgen in Form anhaltender Geflüchtetenbewegungen spüren.

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