Kandil und der Niedergang des türkischen Regimes

Amed Dicle über die Hintergründe der Militäroperation der türkischen Armee in Südkurdistan (Nordirak), 08.06.2018

Mit dem Näherrücken der Wahlen am 24. Juni mehren sich die Anzeichen für den Niedergang Erdogans. Während „friedliche Zeiten“ vor gewisser Zeit noch für den Wahlerfolg instrumentalisier wurden, ist die einzige Hoffnung Erdogans nun Krieg und Konflikt. Ziel sind wie immer die Kurden.

In den letzten Tagen ist ein möglicher Angriff auf Kandil mehrfach öffentlich zum Thema gemacht worden. Doch es gibt im Grunde schon lange diesbezügliche Pläne. Diversen Erklärungen zufolge ist die kurdische Seite über solch einen Angriff informiert und dementsprechend vorbereitet.

Die türkische Regierung hat mit dem Frühling ihre Angriffe auf Südkurdistan (Nordirak) intensiviert. Einige Gebiete in der Grenzregion wurden de facto besetzt. Gebiete, in denen Stellungen der Guerilla vermutet werden, werden seit Monaten bombardiert. Drohnen überfliegen die Gebiete 24 Stunden am Tag.

Den Erklärungen der Volksverteidigungskräften (HPG) zufolge, verteilen sich die Guerillakräfte auf das Gebiet, um nicht Ziel der Luftangriffe zu werden. Die türkische Armee hingegen setzt nach der intensiven Bombardierung aus der Luft Soldaten mithilfe von Helikoptern in den genannten Gebieten ab. Die Stationierung der Soldaten wird immer unter dem Schutz und der Beobachtung von Kriegsflugzeugen und Drohnen durchgeführt. Die Soldaten errichten mit Unterstützung der Luftwaffe Stellungen und Lager in der Region. Die Guerilla hingegen umstellt diese Stellungen und greift sie regelmäßig an. Entsprechende Aufnahmen wurden in den letzten Tagen mehrfach auf der Internetseite „Gerilla TV“ veröffentlicht.

Diese Entwicklungen konzentrieren sich in den letzten zwei Monaten vor allem auf das Bradost-Gebiet. Die türkischen Kräfte haben dort einige Stellungen errichtet, doch die Gefechte dauern an.

Die türkische Armee ist jedoch nicht so nah an Kandil, wie in den türkischen Medien behauptet wird. Die derzeit umkämpften Gebiete liegen eher in der Nähe des Gebiets Sideka. Ziel der türkischen Angriffe ist es Xinere von Sideka zu trennen und dort Stellung zu beziehen. Es erscheint derzeit wahrscheinlich, dass die Gefechte bis zum Herbst andauern werden.

Der jetzige Standort der türkischen Soldaten ist ca. 100 Kilometer von der Kandil-Region entfernt. Um nach Kandil zu gelangen, müssen die türkischen Soldaten Soran, Çoman, Rewanduz und Diyana durchqueren. Diese Gebiete sind jedoch mit Fahrzeugen unpassierbar. Es ist unklar, was in den steilen Bergen und tiefen Tälern der Region alles passieren kann.

Der türkischen Armee ist dies durchaus bekannt. Deswegen ist es sehr wichtig zu beobachten, welche Vorbereitungen für den Angriff auf Kandil getroffen werden. Es wird von geplanten Luftangriffen, Attentaten und Entführungen gesprochen. Es wird in diesem Zusammenhang auch von Forderungen an die USA gesprochen. Wenn möglich, möchten sie die Angriffe vor den Wahlen durchführen, um die Wahlergebnisse in ihrem Sinne zu beeinflussen. Doch ein Erfolg ist schwer. Es finden sehr umfassende Operationsvorbereitungen gegen die Kandil-Berge statt. Die USA hat dafür grünes Licht gegeben (für Gegenleistungen in den Beziehungen mit Russland und den Entwicklungen in Syrien), doch verweist sie die Türkei an Bagdad weiter. Ankara wartet wiederum auf den Abschluss der  Regierungsbildung in Bagdad.

Auch ohne den Iran wird ein Marsch auf Kandil nicht möglich sein. Denn Kandil liegt größtenteils an der Grenze zum Iran. Für den Iran ist die Situation noch komplizierter, denn ein derartiger Angriff auf die kurdischen Kräfte kann diverse Probleme für Teheran mit sich bringen.

Die KDP steht den türkischen Angriffsplänen wohlgesonnen gegenüber. Die anderen kurdischen Kräfte hingegen nicht. Vertreter der KCK gehen davon aus, dass ein Angriff insbesondere vor den Wahlen möglich ist. Das Mitglied des Exekutivrats der KCK, Mustafa Karasu, erklärte gegenüber ANF: „Die AKP ist zu allem fähig, aber in Falle eines Angriffs können die Kurden dies zu größeren Erfolgen für sich selbst verwandeln“.

Wenn man den türkischen Vertretern und Medien Glauben schenkt, ist der Angriff auf Kandil nur noch eine Frage der Zeit. Sogenannte Experten, die nicht einmal wissen, wo Kandil auf der Landkarte liegt, behaupten, die PKK ziehe ihre Kräfte nach Sengal ab.

Es wäre keine Überraschung, wenn in nächster Zeit an irgendeinem Ort in Südkurdistan eine türkische Flagge gehisst wird und dieser Ort im Fernsehen als Kandil verkauft wird. Und das werden sie versuchen vor den Wahlen durchzuführen. Man kann auch erwarten, dass die erlittenen Verluste und getöteten türkischen Soldaten vor den Wahlen noch öfter zum Thema gemacht werden, um den dringend benötigten psychologischen Krieg für die innere Kontrolle des Landes zu führen. Es gelingt ihnen derzeit nicht ihre eigenen Themen auf die Agenda zu setzen, die Wirtschaft auf den Beinen zu halten und die Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Aber mit einer Operation gegen Kandil zwingen sie der Gesellschaft und dem politischen Leben im Land den Krieg auf.

Sie werden diesen Plan auch nach dem 24. Juni weiter verfolgen. Wenn die AKP und MHP am 24. Juni ihre Mehrheit im Parlament verlieren, könnten sie Neuwahlen ansetzen. Um die Neuwahlen zu gewinnen, brauchen sie einen noch umfassenderen Krieg. Das Kriegsgebiet wird Kurdistan sein. Sie werden also ihren Plan aus der Zeit des 7. Juni 2015 „updaten“. Sie werden der Gesellschaft erklären, dass man sich im Krieg befinde und daher keine grundlegenden Änderungen vorgenommen werden könnten. Sie werden versuchen einen „Sieg“ zu erringen und so die Wahlen zu gewinnen. Doch ein Sieg in diesem Gebiet ist nicht möglich. Mit der Beschleunigung der Kriegsmaschinerie können sie nur ihren eigenen Niedergang beschleunigen.