„Sie haben die Eziden schutzlos zurückgelassen“

sait_hesenInterview mit dem Vorsitzenden der Demokratisch-Freiheitlichen Êzîdischen Bewegung (TEVDA) und Sprecher des Volksrats von Șengal Sêid Hesen
Das Interview wurde geführt von Michael Knapp, Juli 2015

Beginnen möchte ich mit der Frage, was TEVDA ist?

TEVDA ist eine Bewegung, mit einer politischen, als auch eine gesellschaftliche Dimension, die sich vor Allem für die Belange der ezidischen Bevölkerung einsetzt. Sie wurde 2004 gegründet. Ich bin seit 2006 Vorsitzender. Wir haben Mitglieder innerhalb und außerhalb des Iraks. Sie arbeitet politisch, kulturell und macht ebenfalls Bildungsarbeit.

Kannst du uns über die aktuelle Situation in Șengal berichten?

Die Stadt Șengal (Sindschar, liegt ebenfalls südlich des Șengal Massives) ist teilweise befreit und in den übrigen Teilen kämpfen neben der YBȘ (Widerstandseinheiten von Șengal) auch die Einheiten der YPG/YPJ (Volks- bzw. Frauenverteidigungseinheiten aus Rojava) und HPG (Volksverteidigungskräfte) gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Die meisten Eziden lebten im Süden von Șengal in Ba´aj (Kleinstadt, 35km südlich von Sindschar). Dies lag unter anderem auch an Zwangsumsiedlungen ezidischer Bevölkerungen durch das Baath Regime, in die die Ebene bei Ba´aj. Dieser Teil wird weiterhin vom IS kontrolliert, während der nördliche Teil von Șengal in Richtung Südkurdistan und Mossul von YBȘ und HPG verteidigt werden. Es lebten 400.000 Eziden im Șengal, derzeit sind nur noch 10.000-12.000 Eziden dort, der Rest ist geflohen. Vor dem Angriff wurde die Gefahr, die vom vorrückenden IS ausging erkannt, vor allem auch im Westen bei Mossul und Tell Afar, wo ebenfalls EzidInnen lebten. Deshalb wurden die KDP Peschmerga, die dort stationiert sind, und die südkurdische Regionalregierung darüber informiert. Die Warnungen wurden aber ignoriert. Sie haben sogar verhindert, dass sich die Eziden selbst als Verteidigungskräfte organisieren. Stattdessen wurden ihnen gar die Waffen weggenommen. Sie wussten ganz genau, dass wenn der IS in Șengal einmarschiert, sie den Eziden Schreckliches antun würden.

Nach dem 10.06.2014 und dem Überfall des IS auf Mossul und Tell Afar haben viele die Gefahr erkannt und insbesondere die Ältesten, aber auch viele andere wandten sich an TEV-DA mit der Bitte, dass wir die Volksverteidigungskräfte die HPG zur Unterstützung der Verteidigung des Șengal rufen sollten. Das haben wir auch getan, aber vor allem Menschen, die der KDP (Demokratische Partei Kurdistans unter der Führung von Massud Barzani) nahestanden, haben mit Erklärungen wie: „Ihr braucht Euch doch keine Sorgen zu machen, es gibt eine Übereinkunft zwischen KDP und IS, sie werden die Eziden nicht angreifen“, versucht die Bevölkerung hinzuhalten und in Sicherheit zu wiegen. Nach dem Angriff des IS auf Șengal wurden wir von der YPG/YPJ aus Rojava und der HPG gerettet. Die Peschmerga der KDP haben sich zurückgezogen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Die KDP kann auch durch die Lügen, die sie nun verbreitet, ihr Verhalten nicht wieder gutmachen. Sie haben die Eziden schutzlos zurückgelassen, egal wen du von den Überlebenden fragst, jedes fünfjährige Kind kann das, was ich sage, bestätigen. Es liegen Presse und Fernsehberichte vor, die zeigen, wie die Peschmerga weggelaufen sind. Eine Truppe von 30 Peschmerga wurde später nach Șengal geschickt, das wurde von unserer Seite ihnen ermöglicht, aber wenn wir sie nicht geschützt hätten, hätten die Frauen und Kinder sie mit Steinen aus Entrüstung über ihre vorherigen Abzug, angegriffen.

Sind sie weggelaufen oder stand da eine politische Absicht dahinter?

Es gab auf jeden Fall eine Absprache zwischen dem IS und der Peschmerga. Mit Abzug der Peschmerga ist der IS einmarschiert. Der Hintergrund ist ein religiös politischer. Eziden gelten als Ungläubige, deren Tötung angeblich irgendwelche Vorteile für den Mörder bringt. Es muss eine Übereinkunft zwischen der KDP, der internationalen Gemeinschaft und dem IS gegeben haben. Vielleicht wusste die internationale Gemeinschaft nicht, welches Ausmaß das Ganze annehmen würde. Aber der KDP war klar, dass wir als Eziden Freiwild für den IS sein würden. Das Ziel war es, die Eziden komplett auszurotten, aus Șengal zu verjagen. Es gibt auch den Konflikt zwischen der kurdischen Regionalregierung und Zentralregierung im Irak um die Region. Mit der Belagerung Șengals durch den IS erhoffte sich die KDP, sich später gegen den IS wenden und anschließend mit der Begründung, wir haben Șengal befreit, die Region annektieren zu können.

Seit Längerem gibt es ja die Diskussion über die Ausrufung eines Kantons Șengal. Kannst du uns mehr dazu sagen?

Es ist eine Grundlage durch die Gründung des Volksrats Șengal geschaffen worden. Wir führen diplomatische Arbeit in Europa durch und sammeln verschiedene Sichtweisen. Wenn wir die nötige Unterstützung bekommen, dann werden wir den Kanton Șengal ausrufen. Dies würde auch der irakischen Verfassung entsprechen und wir sind guter Dinge, dass wir die Selbstverwaltung bald ausrufen können. Wir wollen das gleiche Modell wie in Rojava aufbauen. In der Stadt Sindschar ist Krieg, daher konnten dort noch keine autonomen Strukturen aufgebaut werden, da dort niemand wohnt und nur Kämpfer von HPG und YBȘ sind, die Peschmerga hingegen sind weit vom Kampfgeschehen entfernt. In den Bergen sind etwa 1200 Familien, also 10.000- 12.000 Menschen. Gegen diese Menschen gibt es ein Embargo der Regionalregierung, was bedeutet, dass die Lebensmittel und Hilfsgüter über den Kanton Cizire/Rojava in die Region kommen. Das Embargo besteht immer noch, so wurden beispielsweise erst vor Kurzem von der KDP 52 Zelte aus Frankreich nicht in die Region gelassen und beschlagnahmt. Es wird keine humanitäre Hilfe durchgelassen.

Wie ist die Situation der vom IS entführten ezidischen Frauen?

Die Zahl der Kinder und Frauen in Gefangenschaft des IS liegt zwischen 7.000 und 10.000. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen noch leben, verkauft oder umgebracht worden sind. Wir wissen, dass die Mädchen im Alter von 13 Jahren zwangsverheiratet werden. Die Kinder werden ihren Müttern entrissen und mit älteren Männern verheiratet. 46 Frauen haben im Suizid ihre Rettung gesehen. Es konnten 996 Gefangene aus den Fängen des IS befreit werden, davon 226 Frauen. Ich muss an dieser Stelle auch kritisieren, dass die internationale Frauenbewegung und Frauenrechtsorganisationen sich diesem Thema viel zu wenig angenommen haben.

Kannst du uns etwas über die Lage in den ezidischen Flüchtlingslagern in Südkurdistan berichten?

Die Situation in den Lagern in Südkurdistan ist für EzidInnen sehr gefährlich. Es gibt viele Krankheiten. Die Menschen werden wohl, wenn keine weitere Hilfe kommt, die Region komplett verlassen. Es gibt Schwierigkeiten in den Lagern, viele junge Menschen wollen der YBȘ beitreten, aber sie werden von der KDP daran gehindert. Selbst Menschen, die ihre Familien besuchen wollen, werden von der KDP festgenommen.