Bilder aus dem Inneren der Häuser von Cizîr: „Mädels wir sind gekommen…wo seid ihr denn gewesen?“

surNurcan Baysal, für das Nachrichtenportal t24, 07.03.2016

Ich bin inmitten der Trümmer von Cizîr (tr. Cizre). Ein Jugendlicher aus der Stadt kommt zu mir und sagt: „Frau Baysal, Sie sehen hier nur die Stadt in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Aber es gibt auch noch eine Seite, die man auf den ersten Blick nicht sieht. Lassen Sie mich Ihnen diese Seite auch vor Augen führen.“

Ich trenne mich von der Gruppe und folge diesem Jugendlichen. Wir erreichen den Eingang eines fünfstöckigen Gebäudes im Stadtteil Cûdî. Das Gebäude sieht von außen relativ gut aus, praktisch unbeschädigt. Allerdings hat jemand sich erlaubt, auf das Gebäude „Straße der Türken“ zu schreiben. Und darunter steht: „Wenn einer von stirbt, erwachen tausend neue von uns.“

Das Hineinschreiten in das Gebäude erweist sich dann doch als nicht so einfach. Aus dem Lebensmittelladen im Erdgeschoss drängen die Gerüche vom vergammeltem Fleisch und Gemüse zu uns durch. Ein Arbeitsfahrzeug versucht den Müll aus dem Laden zu entsorgen. Zwischen den stechenden Gerüchen finden unseren Weg ins Gebäudeinnere.

Im Treppenhaus wird dann doch deutlich, dass das Gebäude in einem zerstörten Zustand ist. Es befinden sich auf jedem Stockwerk zwei Wohnungen. Das Treppenhaus ist nur schwer zu durchqueren. Wir beschreiten nicht nur die Stufen des Treppenhauses, sondern müssen auch zugleich unseren Weg durch den Müll und durch das zerbrochene Glas der Fensterscheiben finden. Alle Wohnungseingänge wurden mit Zündern aufgebrochen. Und alle Wohnungen sind in einem völlig zerstörten Zustand. Man kann sich kaum vorstellen, wie diese Wohnungen wieder aufgeräumt werden sollen.

Frauenunterwäsche und benutzte Kondome…

In einem der Wohnungen begegnen wir Mitgliedern der Stadtverwaltung und von NGO’s, welche die Schäden dokumentieren. Die Gebäude wurden von Mitgliedern der türkischen Spezialeinsatzkräfte während der Belagerung der Stadt benutzt.

Wir schreiten in ein Zimmer, das zuvor als Schlafzimmer genutzt wurde. Was wir dort sehen, ist dass die Frauenunterwäsche im Zimmer ausgelegt worden ist. Der Jugendliche, der mich immer noch begleitet, erklärt mir, dass in jedem der benutzten Wohnungen die Unterwäsche der Frauen aus den Schränken hervorgeholt und im Zimmer ausgelegt wurde. Hier und da finden wir auch benutzte Kondome. Einer der anderen Personen in der Wohnung erklärt mir, dass alle Kondomverpackungen aus dem Laden im Erdgeschoss des Gebäudes entwendet worden sind. Zusätzlich zu diesem Tableau, das sich uns in diesem Zimmer bietet, finden wir auch noch ein Buch mit religiösem Inhalt auf einem Nachttisch.

Der Müll auf dem Boden, die leeren Wasserflaschen, all das macht deutlich, dass die Spezialkräfte hier monatelang gehaust haben. In den Wänden der Wohnung finden sich Löcher, von denen aus wohl geschossen worden ist.

Wir gehen zur nächsten Wohnung. Hier erblicken wir zwischen dem Müll rote Frauenunterwäsche. Mein Begleiter erzählt, dass die Frauen, die in ihre Wohnungen zurückkehren aus Scham zunächst immer die Unterwäsche wegräumen. In einer anderen Wohnung im Gebäude ist das Schlafzimmer deshalb abgesperrt worden. Mir wird erzählt, dass hier eine Beamte aus dem Westen der Türkei gelebt habe. Nach der Verwüstung ihrer Wohnung habe sie das Schlafzimmer abgeriegelt und sei in eine andere Wohnung umgezogen.

Sehr oft begegneten wir auf Schriftzüge an den Wänden der Wohnungen, die wie „Mädels wir sind gekommen“ oder „wir sind gekommen, wo ward ihr denn?“ lauteten.  In einer Wohnung finden wir eine Axt auf dem Boden und es wird schnell klar, dass mit dieser Axt die Inneneinrichtung der Wohnung völlig zerstört worden ist. Wertvolle Gegenstände hingegen wurden geraubt. Ein Mann berichtet mir, dass selbst die Spardosen mit Kleingeld entwendet worden sind.

Wir sind die Mudschahedin des Siegreichen Heeres Mohammeds 

Nun befinden wir uns im Badezimmer einer weiteren Wohnung. Obwohl hier auch eine Toilette zu finden ist, wurde offenbar in Pet-Flaschen uriniert.  Wir fragen uns, was der Grund dafür sein könnte… Wurde vielleicht als Foltermethode bestimmten Leuten, die festgenommen worden, der Urin zum Trinken verabreicht? Wir wissen es nicht. Auch an die Wände und auf den Boden im Badezimmer wurde uriniert.

In der Wohnung fehlt der Fernseher. Der wurde offenbar mitgenommen. Die Musik CDs wurden aus den Hüllen genommen und zerstört. Neben den kaputten CDs finden wir Schminke auf dem Boden liegen.

Die Küche befindet sich ebenfalls in einem katastrophalen Zustand. Auf einem der Küchentische finden wir einen  in leserlicher Handschrift verfassten Brief. Auf diesem heißt es:

“Datum: 8. Februar 2016, Uhrzeit 11:01

Wir sind die Mudschahedin des Siegreichen Heeres Mohammeds ((Name eines Osmanischen Heeres, welches 1826 etabliert und bis zum Ende des Osmanischen Reiches fortbestanden hat, Originalname: Asakir-i Mansure-i Muhammediye; Anm. d. Übersetzers)) der Republik Türkei.

Um den Willen des Staates und der Nation auf dem Wege Allahs umzusetzen ist der Koran unser Wegeführer. Für die Nutzung eures Hauses zur Erfüllung unserer Pflicht lege ich euch eine kleine Gabe bei. […] Dem Vaterland sei Dank.“

An den Brief ist ein 5 Lira Schein geklammert.

Das, was wir sehen, setzt uns zu. Um ein wenig frische Luft zu bekommen, steigen wir auf das Dach des Gebäudes. Von hier aus kann man die gesamte Stadt erblicken. Auf dem Dach wurde eine türkische Fahne gehisst. Wir sehen die Reste eines abgerannten Feuerwerks. Offensichtlich wurde hier etwas gefeiert. Auch auf dem Dach erblicken wir Müll, aber auch benutzte  Matratzen und Decken.

Wir steigen vorsichtig die Treppen wieder hinunter und gelangen auf die Straße zurück.

Was ist das für eine Geisteshaltung, für ein Wahn, für eine Perversität? Diese Fragen schießen mir durch den Kopf. Was ist in diesen Wohnungen geschehen? Es wird erzählt, dass in Cizîr hinter verschlossenen Türen Menschen sexuell belästigt, in einigen Fällen auch missbraucht worden sind.

Und das, was ich hier niedergeschrieben habe, ist nur die Geschichte aus einer der Wohnungen…

Was sich hinter den Mauern dieser Wohnungen abgespielt hat, ist deutlich grauenhafter, als das, was man von der Straße aus erblickt…