Die kurdisch-türkischen Beziehungen

Abdullah Öcalan zu möglichen Lösungsoptionen der kurdischen Frage und einer politisch-gesellschaftlichen Wende in der Türkei, 24.07.2017

Der Schlüssel für die Lösung der kurdischen Frage liegt in den kurdisch­-türkischen Beziehungen in der Türkei. Die Kurden im Iran, Irak und in Syrien besitzen nur ein begrenztes Potential, um für sich allein eine dauer­hafte Lösung zu erzielen. Solche Lösungen tragen eher Ersatzcharakter. Die Phasen, die die kurdische Frage im Irak durchgemacht hat, beweisen diese Tatsache. Der heutige kurdische Bundesstaat ist ein Gebilde, welches als Gegenleistung für die Bemühungen der Türkei entstanden ist, die USA und ihre Verbündeten die PKK als „terroristisch“ deklarieren zu lassen. Wenn die Türkei sie nicht zugelassen hätte, wäre eine derartige Lösung nicht mög­lich gewesen. Ergebnis dessen ist das Chaos, in das der Irak hineingeraten ist und dessen Ende nicht absehbar ist. Auch die langfristige Zukunft des Bundesstaates Kurdistan mit seinem feudal-bourgeoisen Charakter und insbesondere seine Wirkung außer auf den Irak auch auf den Iran, die Tür­kei und Syrien sind unabsehbar. Es besteht das Risiko, dass durch ihn ein heftiger Regionalkonflikt im Stile des israelisch-palästinensischen Konflikts losbricht. Der kurdische Nationalismus als systemimmanente ideologische Variante des kapitalistischen Systems trägt stets das Potential, den arabi­schen, persischen und türkischen Nationalismus zu radikalisieren und so die Probleme in eine Sackgasse zu treiben. Im Gegensatz dazu kann ein Lösungsmodell, welches die gegebenen politischen Grenzen akzeptiert, als neues, nichtnationalistisches Lösungsmodell auf die Tagesordnung kom­men. Ein solches Lösungsmodell basiert auf der gesetzlichen Definition des kurdischen Status, verbunden mit der Demokratisierung und spezifischen kulturellen Freiheiten. Da dieses in Frieden und unter Beibehaltung der staatlichen und nationalen Einheit der Länder verwirklicht werden kann, entspricht es den historischen und gesellschaftlichen Realitäten besser. Die Grundlagen und Folgen beider Lösungswege umfassend darzulegen, wird uns helfen, die wahrscheinlichen Entwicklungen der nächsten Zeit besser vorauszusehen.

Das Mittelostprojekt, das die USA neu aufgewärmt und auf die Agenda gesetzt haben, zwingt dazu, die Realität der Kurden in der Türkei und ihre Beziehungen zu den Türken realistischer zu betrachten. Daher gewinnt auch die historische Dimension der türkisch-kurdischen Beziehungen an Bedeu­tung. Es zeigt sich mittlerweile deutlich, dass für die Verleugnungspolitik der jüngeren Vergangenheit die Totenglocke läutet. Wenn das Problem in Zu­kunft auf demokratische Weise und mit einer historisch-gesellschaftlichen Vision konstruktiv angegangen wird, so wird sich eine kurdisch-türkische Tragödie ähnlich der palästinensischen Tragödie vermeiden lassen. Zwar hat es in der letzten Zeit einige verbale Äußerungen bezüglich Demokra­tisierung gegeben, allerdings ist in der Praxis für den gesamten Staat und das gesellschaftliche System immer noch die Verleugnung verbindlich. Dies gibt zu großer Besorgnis Anlass und führt zu einer Atmosphäre, in der von neuem größere Konflikte entstehen können. Damit diese Besorgnisse glaub­würdig zerstreut werden und eine Atmosphäre geschaffen werden kann, die wirklich eine Lösung verspricht, halte ich es für wichtig, gestützt auf meine Erfahrungen, meine Ansichten und Vorschläge darzulegen. (…)

Reform und gesellschaftliche Wende in der Türkei

(…) Die deutlichsten Auswirkungen dieser Entstehungs-und Funktionswei­se des Staates bei den Türken zeigen sich gegenüber den Kurden und der kurdischen Frage. Wer den Staat verstehen will, muss die Situation der Kur­den und die kurdische Frage betrachten, da sie die wichtigsten Symptome darstellen. Der Staat nimmt jeglichen Unterschied, jede Artikulation der Problematik der Kurden einzig als Sicherheitsrisiko wahr. Er erklärt sie also für nicht existent, oder aber nimmt sie bei der kleinsten Forderung nach Freiheit als beängstigende Gefahr wahr, die sofort ausgemerzt werden muss. Dieser Herangehensweise des Staates liegt die Ausweglosigkeit der na­tionalistischen Ideologie zugrunde. Wenn er nicht mit dem Nationalismus infiziert wäre, müsste er der kurdischen Realität nicht auf diese Weise begeg­nen. Wie wir bei der historischen Betrachtung gesehen haben, überwiegt in der Bevölkerung eigentlich die Tendenz zu einem partnerschaftlichen Zusammenleben. Die Haltung der Kurden zum Staat unterscheidet sich zwar von derjenigen der Türken, jedoch sind auch sie geneigt, den Staat als gemeinsames Instrument der Verteidigung gegen äußere Bedrohungen zu akzeptieren. Dies haben wir in der osmanischen Zeit und in den Gründungsjahren der Republik gesehen. Die nationalistische Auffassung, die nur eine Geschichte, eine Sprache, eine Nation und einen Staat kennt, führte gemeinsam mit den Aufständen als einem Faktor dazu, dass für die Kurden nur eine erzwungene Assimilierung übrig blieb. Sie wurden von der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung des Systems ausgeschlossen und zur Gefahr in jeder Hinsicht erklärt. Als bester Kurde galt ein toter Kurde. Selbst eine Lösung, die hundertprozentig zum Vorteil der Türken wäre, könnte sie nicht von dieser Gefahrenwahrnehmung befreien. Die kleinste Regung der Kurden, jede soziale und politische Forderung wurde als „Separatismus“ abgestempelt. Diese Herangehensweise hat mit Wissenschaftlichkeit oder Moderne nichts zu tun, sie wäre sogar im Mittelalter ein Anachronismus gewesen. Es handelt sich um puren Nationalismus, der noch die kleinste Unterschiedlichkeit entweder als Gefahr oder als Anlass zur Assimilation betrachtet. Daher kann sich der Staat keine andere Lösung vorstellen, als mit allen militärischen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Mitteln zu kämpfen.

Seit der Entstehung der kurdischen Freiheitsbewegung unter der Führung der PKK verinnerlichten sowohl die Linke als auch die Rechte, der Staat und die Gesellschaft diese Politik als ein heiliges Ziel. Unter der Parole der „na­tionalen Einheit“ wurden selbst durch und durch demokratische Initiativen bezüglich der Forderungen der Gegenseite als Separatismus gebrandmarkt. Dazu kam noch die sogenannte „Anti-Terror-Politik“. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde alles in der Politik und sämtliche Ressourcen des Staates daran gesetzt, die PKK als terroristisch zu deklarieren. Das Ergebnis war die Krise und das Chaos, in das die Türkei ab den neunziger Jahren geriet. Die totale Mobilmachung wurde ausgerufen, das Recht wurde mit Füßen getreten. Die Wirtschaft versank im Schuldensumpf. Die Politik insgesamt wurde auf ein Instrument der Sicherheitspolitik reduziert. Der Aufbau eines Dorfschützerwesens ((Die Dorfschützer (köy korucusu) sind von Staat bewaffnete und bezahlte paramilitärische kurdische Stammesmilizen, die gegen die PKK kämpfen sollen. Viele der rund 4.500 zerstörten Dörfer wurden entvölkert, weil die Einwohner nicht Dorfschützer werden wollten. Dieses System, das zeitweise mehr als 100.000 Dorfschützer umfasste, stellt nach Ansicht von Menschenrechtlern ein großes Problem dar, da eine große Zahl von Menschen mittlerweile finanziell von diesem System abhängig ist.))  und die Förderung der Bruderschaften ließ bei den Kurden das Stammeswesen und die tariqat wieder erstarken. Die Unterstützung für die primitiv nationalistischen Gruppen in Südkurdistan führte gar dazu, dass sie einen kurdischen Bundesstaat erhielten. Kurdische Nakschibendi-Scheichs bekamen einen Platz im Herzen des Staates. Die wichtigsten Institutionen der Republik wurden so an Gegner der Republik ausgeliefert. Das kann man nicht einmal mehr einen Pyrrhussieg nennen, es ist nichts anderes als der Bankrott der nationalistischen Politik. Mit dem neu­en Greater Middle East Project der USA ist man wieder am Anfang angelangt. Die Türkei sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder mit den Kurden zu kooperieren oder ausgebremst zu werden. Unter den Bedingungen der heutigen Weltordnung gibt es dazu keine Alternative.

Ohne eine unverzügliche Reform der Republik wird nicht nur Fortschritt unmöglich, sondern sogar die Erhaltung der bestehenden Strukturen. Die letzten beiden Jahre haben dies gezeigt. Der Staat hat einige angebliche Reformen auf den Weg gebracht. Da er sich aber an die wichtigste aller Reformen nicht herantraut, müssen alle diese Reformen hinfällig bleiben. Denn das Problem, das sie alle im Sande verlaufen lässt, ist nach wie vor vorhanden. Wegen der kurdischen Problematik kann sich die Gesellschaft, die eigentlich kurz vor einem großen Aufbruch steht, nicht aus der Um­klammerung lösen. Sie ist gezwungen, ständig nach rechts zu tendieren, und verhindert so selbst eine historische Wende. Auch die staatsfixierten Parteien erleiden wegen dieser Problematik eine nach der anderen Bankrott und sind weniger Instrumente der Demokratie als vielmehr Hindernisse für eine wirkliche Demokratisierung. Die Stimmung der Stagnation in Re­publik und Gesellschaft wirkt unmittelbar auf die Individuen und macht selbst vor den Kinder nicht halt. Es wird immer noch nicht verstanden, dass rechter Konservativismus nicht das Schicksal der republikanischen Revolution werden darf. Eine Politik Mustafa Kemal Atatürks, die zu seiner Zeit ihre Gründe gehabt haben mag, zu einem unveränderlichen Dogma zu erheben und mit Tabus zu belegen, kann nur zu Schmerzen und Verlusten führen. Das Fehlen einer positiven politischen Führung hat die Wut der Gesellschaft auf einen Höhepunkt gebracht. Es muss jedoch klar sein, dass der Weg zu einer Reform des Staates und einer gesellschaftlichen Wende über die Freiheit der Kurden führt, die eines der Gründungselemente der Republik darstellen. Ein gemeinsamer Aufbruch von Türken und Kurden im Geist der strategischen Allianzen der Geschichte ist historisch notwendig. Ein realistisches Modell, um die chaotische Situation im Mittleren Osten zu überwinden, muss von einer Einheit in Freiheit von Türken und Kurden ausgehen.

Wie sonst könnte eine Lösung aussehen? Lösungen, die die US-geführte globale Koalition bringen könnte, würden höchstwahrscheinlich selbst zu einer Quelle neuer Probleme werden. Auch die arabischen Staaten behindern eher Lösungen, anstatt sie zu schaffen. Sie vertiefen eher die Widersprüche des politischen und wirtschaftlichen Status quo. Für die nähere Zukunft steht auch nicht zu erwarten, dass die Probleme um Israel überwunden werden. Der Iran hat selbst Probleme mit dem herrschenden Weltsystem, die sich sehr wahrscheinlich noch weiter verschärfen werden. Es bleibt die Türkei. Solange die Türkei ihre „kurdische Prüfung“ nicht besteht, wird sie immer wieder in Krisen geraten. In diesem Fall werden die USA sich noch stärker auf die Kurden stützen, was zu einer Situation führen kann, die nicht weniger problematisch sein wird als die israelisch-­palästinensische. Ältere und jüngere Geschichte sowie die Gegenwart zeigen, dass die Option, die am ehesten zu einer demokratischen Wende in der Region führen kann, der Aufbau einer neuen Systematik in den türkisch­-kurdischen Beziehungen ist. Diese kann dann eine demokratische Lösung für die kurdische Frage produzieren. Wenn man diese Lösungsoption mit einem wissenschaftlichen, soziologischen Ansatz untersucht, so wird man feststellen, dass sie keine Gefahr für die nationale und staatliche Einheit der Türkei darstellt. Ganz im Gegenteil wird sie eine solche Einheit dauerhaft fördern. Dreierlei ist dafür nötig: ein Begriff der Türkei, der von chauvinis­tischem Nationalismus befreit ist und alle Arten von Unterschiedlichkeiten als Reichtum betrachtet, eine „Republikreform“, die den Staat von sinnloser Verfettung befreit und ihn auf die allgemeine Sicherheit und den öffentlichen Raum begrenzt, und eine „gesellschaftliche Wende“ hin zu einem demokra­tischen Gesellschafts-und Politikverständnis, das die Befreiung der Frau und eine ökologische Gesellschaft mit einschließt. Ein Umdenken in diesen drei Kernbereichen und eine darauf aufbauende politisch-gesellschaftliche Wende bieten die größten Chancen für einen ethisch vertretbaren Ausweg aus dem Chaos des Mittleren Ostens.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.


Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.