Öcalans historische Erklärung zu Newroz 2013

newroz 2013Abdullah Öcalan, 21. März 2013, Gefängnis Imrali

Ich gratuliere zum Newrozfest der Freiheit der Unterdrückten.
Ich grüße die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens, die Newroz, den Tag des Erwachens und des neuen Lebens, gemeinsam und in großer Zahl feiern.
Gegrüßt seien die Geschwistervölker, die Newroz, das Licht und den Beginn einer neuen Ära, mit Begeisterung und in demokratischer Toleranz feiern.

Gegrüßt seien alle, denen demokratische Rechte, Freiheit und Gleichheit auf ihrer langen Reise den Weg weisen. Euch grüßen von den Hängen von Zagros und Taurus, aus den Tälern von Euphrat und Tigris die Kurden, eines der ältesten der antiken Völker, das in Anatolien und Mesopotamien die Landwirtschaft, die dörfliche und die städtische Zivilisation hervorgebracht hat.

Die Kurden haben mit Angehörigen anderer Völker, Religionen und Konfessionen Tausende von Jahren freundschaftlich und geschwisterlich zusammen in diesen Zivilisationen gelebt und sie gestaltet. Für sie sind die Flüsse Euphrat und Tigris die Geschwister von Sakarya und Mariza, die Berge Ararat und Dschudi sind die Freunde von Pontus und Erciyes. Die Tänze Halay und Delilo sind die Verwandten von Horon und Zeybek.

Diese großen Zivilisationen, diese verschwisterten Gemeinschaften wurden durch politischen Druck, Interventionen von außen und Partikularinteressen gegeneinander ausgespielt. Ordnungen wurden errichtet, die nicht auf Recht und Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit aufgebaut waren. Die Eroberungskriege der letzten 200 Jahre, die imperialistischen Interventionen des Westens und repressives und ignorantes Denken hatten zum Ziel, arabische, türkische, persische und kurdische Gemeinschaften durch Mikro-Nationalstaaten, künstliche Grenzen und künstliche Probleme zu ersticken.

Die Zeit der Kolonialregime, des repressiven und ignoranten Denkens ist abgelaufen. Die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens wachen endlich auf. Sie wenden sich einander und ihren Wurzeln zu. Sie wollen nicht mehr verblendet und in Kriegen aufeinander gehetzt werden.

Die Menschen, vom Feuer von Newroz ergriffen, füllen zu Hunderttausenden und Millionen die Plätze und wollen endlich Frieden, Geschwisterlichkeit und eine Lösung.

Durch diesen Kampf, der mit meinem individuellen Aufstand gegen die Ausweglosigkeit, in die ich geboren wurde, gegen Ignoranz und Knechtschaft begann, wollte ich ein Bewusstsein, ein Denken, einen Geist gegen jede Art von Zwang schaffen. Heute sehe ich, wie weit dieser Aufschrei geführt hat.

Unser Kampf war niemals gegen ein Volk, eine Religion, eine Konfession oder Gruppe gerichtet, das könnte niemals der Fall sein. Unser Kampf richtete sich gegen Unterdrückung, Unwissen, Ungerechtigkeit und erzwungene Rückständigkeit, gegen alle Formen von Repression und Knechtschaft.

Heute wachen wir in einer neuen Türkei, einem neuen Mittleren Osten auf und sehen in eine neue Zukunft.

Jugend, die meinem Ruf folgen will; Frauen, die meine Botschaft in ihr Herz lassen; Freunde, die meine Worte respektieren; Menschen, die mich anhören wollen:

Heute beginnt einen neue Ära.

Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik.

Es beginnt eine Ära, die sich vorwiegend um Politik, Soziales und Wirtschaft dreht; es entwickelt sich ein Denken, das auf demokratischen Rechten, Freiheit und Gleichheit beruht.

Wir haben Jahrzehnte unseres Lebens für dieses Volk geopfert und einen großen Preis gezahlt. Keines dieser Opfer, keiner dieser Kämpfe war umsonst. Die Kurden habe zu sich selbst zurückgefunden und ihre Identität zurückgewonnen.

Wir sind an dem Punkt zu sagen: Die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken und Politik sollen sprechen. Das Paradigma der Moderne von Ignoranz, Verleugnung und Ausgrenzung ist zerschlagen. Ob Türken, Kurden, Lasen oder Tscherkessen – die Menschen bluten und mit ihnen blutet das Land.

Vor Millionen von Zeugen, die diesen Aufruf hören, sage ich: Endlich beginnt eine neue Ära, nicht die Waffen, sondern die demokratische Politik wird im Vordergrund stehen. Die Zeit ist gekommen, unsere bewaffneten Kräfte hinter die Grenze zurückzuziehen.

Ich bin der Überzeugung, dass alle, die an unsere Sache glauben und mir vertrauen, in höchstem Maße auf den sensiblen Charakter dieses Prozesses Rücksicht nehmen werden.

Dies ist kein Ende, sondern ein Neubeginn. Der Kampf ist nicht zu Ende, sondern ein neuer, anderer Kampf beginnt.

Ethnisch reine und mono-nationale Gebiete zu schaffen, ist eine unmenschliche Praxis der Moderne, die unseren Wurzeln und unserer Identität widerspricht.

Um ein Land zu schaffen, das der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist und das allen Völkern einschließlich der Kurden Gleichheit, Freiheit und Demokratie bietet, kommt allen eine große Verantwortung zu. Ich rufe anlässlich dieses Newrozfestes genauso wie die Kurden auch die Armenier, Türkmenen, Aramäer, Araber und alle anderen Völker dazu auf, das Licht der Freiheit und Gleichheit, das aus den heute angezündeten Feuern leuchtet, auch als ihre eigenes Licht der Freiheit und Gleichheit zu betrachten.

Verehrtes Volk der Türkei,

das türkische Volk, das in der Türkei, dem antiken Anatolien, lebt, soll wissen, dass das beinahe tausendjährige Zusammenleben mit den Kurden unter der Flagge des Islam auf dem Gesetz von Geschwisterlichkeit und Solidarität beruht. In diesem Gesetz der Geschwisterlichkeit in seiner wahren Bedeutung ist kein Platz und darf kein Platz sein für Eroberung, Verleugnung, Zurückweisung, Zwangsassimilation und Vernichtung.

Die Politik des letzten Jahrhundert basierte auf Repression, Vernichtung und Assimilation und stützte sich auf die kapitalistische Moderne. Sie stellte das Bestreben einer kleinen Machtelite dar, welche die Geschichte und das Gesetz der Geschwisterlichkeit in ihrer Gänze leugnete, aber nicht den Willen des Volkes repräsentierte. Heute ist offensichtlich, dass dieses Joch der Tyrannei der Geschichte und der Geschwisterlichkeit widerspricht. Um es gemeinsam abzuwerfen rufe ich uns alle als die beiden grundlegenden strategischen Mächte des Mittleren Ostens dazu auf, die demokratische Moderne in einer Weise aufzubauen, die unseren Kulturen und Zivilisationen gerecht wird.

Die Zeit des Streits, der Konflikte und der gegenseitigen Verachtung ist vorbei, die Zeit ist reif für Einheit, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung.

Türken und Kurden sind gemeinsam bei Çanakkale gefallen, sie haben den Befreiungskrieg zusammen geführt, 1920 das Parlament gemeinsam eröffnet.

Die Tatsache unserer gemeinsamen Vergangenheit legt uns nahe, auch unsere gemeinsame Zukunft zusammen aufzubauen. Der Gründungsgeist der Nationalversammlung der Türkei erleuchtet auch die neue Ära, die heute beginnt.

Ich rufe alle Vertreter der unterdrückten Völker, Klassen und Kulturen, die Frauen als älteste Kolonie und unterdrückte Klasse, die Angehörigen unterdrückter Konfessionen, Glaubensrichtungen und anderer kulturellen Gruppen, die Repräsentanten der Arbeiterklasse und alle vom System Ausgegrenzten auf: Das System der Demokratischen Moderne ist die neue Option des Wegs aus der Unterdrückung. Nehmt Euren Platz darin ein und eignet Euch seine Mentalität und Form an.

Der Mittlere Osten und Zentralasien sind auf der Suche einer zeitgemäßen Moderne und einem demokratischen Konzept, das ihrer eigenen Geschichte entspricht. Die Suche nach einem Modell, welches das freie und geschwisterliche Zusammenleben aller zulässt, ist zu einem so dringlichen Bedürfnis wie Brot und Wasser geworden.

Es ist unvermeidlich, dass wieder Anatolien und Mesopotamien, die dortige Kultur und Zeit, Vorreiter bei seinem Aufbau sein werden.

Es ist, als erlebten wir eine aktualisierte, kompliziertere und verschärfte Version des Befreiungskriegs, der sich in der jüngeren Geschichte im Rahmen des Nationalpaktes [1920] unter Führung der Türken und Kurden entwickelte.

Wir arbeiten daran, ein neues Modell aufzubauen, welches trotz aller Fehler und Defizite der letzten neunzig Jahre von Neuem alle Betroffenen, alle Völker die schlimmes Leid erlitten haben, alle Klassen und Kulturen einbezieht. Ich rufe alle diese Gruppen dazu auf, sich auf egalitäre, freie und demokratische Weise zu organisieren.

Kurden, Turkmenen, Aramäer und Araber, die in Verletzung des Nationalpaktes geteilt wurden und heute in Syrien und der Arabischen Republik Irak schweren Konflikten und Problemen ausgesetzt sind, rufe ich auf, gemeinsam auf einer “Nationalen Solidaritäts- und Friedenskonferenz” ihre Situation zu diskutieren, ein Bewusstsein zu schaffen und Beschlüsse zu fassen.

In der Geschichte dieser Gegend der Welt spielt der Begriff “Wir” eine wichtige Rolle. Dieser breite und umfassende Begriff wurde von elitären Machtcliquen auf ein “Einzig” reduziert. Die Zeit ist reif, dem Begriff des “Wir” seine frühere Seele und Praxis zu verleihen.

Wir werden uns zusammenschließen gegen diejenigen, die uns spalten und aufeinander hetzen wollen. Wir werden uns vereinen gegen diejenigen, die uns teilen wollen.

Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, wandert auf den Müllhaufen der Geschichte. Wer sich gegen den Strom des Wassers stellt, wird auf den Abgrund zugetrieben.

Die Völker der Region werden Zeugen einer neuen Morgendämmerung. Die Völker des Mittleren Ostens sind der Kriege, der Konflikte und der Spaltungen müde und wollen endlich auf ihren eigenen Wurzeln neu erblühen, Schulter an Schulter aufstehen.

Dieses Newroz ist für uns alle eine frohe Botschaft.

Die Wahrheiten in den Botschaften von Moses, Jesus und Mohammed werden heute mit neuen frohen Botschaften lebendig. Die Menschen versuchen, das Verlorene zurückzugewinnen.

Wir leugnen nicht komplett die gegenwärtigen zivilisatorischen Werte des Westens.

Wir nehmen ihre Werte von Aufklärung, Freiheit, Gleichheit und Demokratie und führen sie in eine lebendige Synthese mit unseren eigenen Werten und universellen Formen des Lebens.

Die Basis des neuen Kampfes sind Gedanken, Ideologie, demokratische Politik und der Beginn einer großen demokratischen Offensive.

Gegrüßt seien alle, die diesen Prozess und eine demokratische und friedliche Lösung unterstützen!

Gegrüßt seien alle, die Verantwortung übernehmen für Gleichheit, die Geschwisterlichkeit der Völker und demokratische Freiheit!

Es lebe Newroz, es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker!

Gefängnis Imrali, 21. März 2013

Abdullah Öcalan

[Übersetzung aus dem Türkischen: Internationale Initiative “Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan”]

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