„Selbstbestimmung kann nicht auf Staatswerdung reduziert werden“

manheim festDie Journalistin Filiz Gazi im Gespräch mit Dr. Ahmet Hamdi Akkaya aus der Universität Complutense Madrid; 06.10.2017

Es ist bekannt, dass die USA an der Entführung von Öcalan in Kenia 1999 beteiligt war. Auch ist bekannt, dass die USA in der Vergangenheit den südkurdischen Luftraum für türkische Militärflugzeuge geöffnet hat und eine geheimdienstliche Zusammenarbeit geführt wurde. Nun liefert die USA der YPG und YPJ Waffen. Was ist hierbei das Ziel der internationalen Politik, die sich den jeweiligen Bedingungen anpasst. Wie bewerten sie die Kritiken, die von Hoffnungen der kurdischen Bewegung gegenüber dem Imperialismus sprechen?

Ein Teil derjenigen, die solch eine Kritik zur Sprache bringen, versuchen damit ihre eigene Last abzuwerfen. Das Agieren von Russland und dem Iran wird plump als Anti-Imperialismus ausgelegt, ihre Rolle im syrischen Bürgerkrieg bewusst nicht beachtet. Die Kurden hingegen sollen mit dieser Kritik diskreditiert und isoliert werden. Wir erinnern uns, dass beim Großangriff des IS auf Kobanê im Oktober 2014 die USA lange zögerte, sich einzuschalten, bevor sie sich auch aufgrund des internationalen Drucks dann anders entschied.   Die Haltung einer Person, die sich gegen die Unterstützung aus der Luft stellt, kann man in etwa mit folgenden Worten übersetzen: „Es ist okay, wenn ihr dort stirbt. Aber es lebe der Anti-Imperialismus.“ Ich denke, dass eine solche Positionierung weder moralisch noch politisch zu verteidigen ist. Ich verstehe die Warnung an die Kurden in Bezug auf die USA. Aber während man dies tut, darf man nicht den seit 2012 in Rojava geführten Kampf und das dort aufgebaute System verleugnen. Auf der anderen Seite ist die die Annäherung der USA gegenüber Rojava eine militärische. Wenn sich dies auf eine politische Ebene verschiebt, dann ist eine Feindschaft gegenüber der PKK sehr wahrscheinlich. Zuletzt ist es hilfreich auf historische Beispiele zu schauen. Ich beziehe mich hierbei auf Beispiele wie das Bündnis zwischen der Sowjetunion und den USA währen dem zweiten Weltkrieg oder die Annäherung von Ho Chi  Minh in Vietnam gegenüber den USA im Jahr 1941-74. Hätten solche Kreise die Fotografien von Ho Chi  Minh und General  Giap mit OSS-Experten gesehen, hätten sie wohl auch sie geächtet.

Wie kann man ohne Staatswerdung in der internationalen Politik existieren? Die Massaker an staatenlosen Völkern beschäftigt die internationale Agenda. Ist das nicht im gewissen Sinne die Sackgasse im Mittleren Osten? Wie muss man sich der Selbstbestimmung annähern?

Um die Richtigkeit des Selbstbestimmungsrechtes zu beweisen, braucht es diese Argumente nicht. Die südkurdische Regionalregierung war eine Staatsstruktur und hat die letzten 15 Jahre auf der internationalen Politik existieren können. Die wesentliche der Diskussion stützt sich auf das mehr als 350 Jahre alte Westfälische System und dem einhundert Jahre alte Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ersteres definiert die Staaten als Grundentität im internationalen System. Das zweite behandelt die Frage, wer das Recht auf einen Staat hat und wie es ihm zuerkannt wird. Beide Fragen haben mit der Zeit ernsthafte Wandel erfahren. Es gibt enge legalistische Herangehensweisen für und wider dem Selbstbestimmungsrecht. Ein aktuelles Beispiel ist die Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts, das Referendum in Katalonien für illegal zu erklären, weil es sich bei den Katalanen vermeintlich um kein eigenständiges Volk handeln soll.

Auf der anderen Seite ist die Selbstbestimmung als ein politisches Prinzip entstanden und hat dann die Form eines Gesetzes erhalten. Im Kern geht es bei dem Recht darum, dass die Völker dadurch ihren Status bestimmen, sich wirtschaftlich, sozial und ökonomisch weiterentwickeln und darüber entscheiden können, wie sie ihre natürlichen Ressourcen und Reichtümer nutzen wollen. In diesem Sinne kann man die Selbstbestimmung nicht auf die Separatismus oder Staatsgründung reduzieren. Wie die Arbeiten im Kontext der UNO und der Venedig-Kommission darlegen, kann die Verwirklichung der Selbstbestimmung auf sehr verschiedene  Art und Weise umgesetzt werden.

Was denken sie über die Ergebnisse des Referendums in Südkurdistan? Wie kann sich die Lage nun weiterentwickeln.

Es ist ein klarer politischer Wille hervorgetreten. Nun ist die Frage, ob sich hieraus bindende rechtliche Beziehung entwickelt oder nicht. Wie wird diese politische Willensbekundung, gegen die sich Staaten wie die Türkei oder der Iran vehement stellen, in die Praxis umgesetzt werden? Die Autonome Regierung Südkurdistans hat erklärt, dass sie mit dem Referendumsergebnissen im Gepäck nach Bagdad reisen will, um mit der irakischen Regionsregierung zu verhandeln. Die Nachbarstaaten hingegen sprechen über all möglichen Sanktionen, vom Embargo bis zum Krieg. Es reicht nicht aus, diesen Drohungen zu entgegnen, dass man respektvoll gegenüber dem Willen der Bevölkerung sein muss. Die kommende Phase wird in Hinsicht auf die wirtschaftliche, politische und diplomatische Lage Südkurdistans sehr intensiv. Ich hoffe, diese Phase wird nicht in einer militärischen Intervention wie durch die türkischen Armee 1991 oder dem Einmarsch der Truppen Saddams 1996 in Hewler (Erbil) münden.

Als Politikwissenschaftler stimmen Sie mir bestimmt zu, dass egal welcher Ideologie man anhängt, der Machtgewinn durch eine Gruppe stets zu denselben Ergebnissen führt. Als ich den Gesellschaftsvertrag Rojavas las, tauchte folgende Frage in meinem Kopf auf: Was könnte auf die dort lebenden Êzîden und Arabern im schlimmstem Fall zukommen?

Das ist ein Risiko oder eine Gefahr, mit der jede Revolution und soziale Bewegung konfrontiert ist. Deshalb ist es nicht sinnvoll, dieses Risiko kategorisch abzulehnen. Im ersten Schritt kann es richtig sein, solch ein vorhandenes Risiko immer wieder zu benennen oder dementsprechend bewusst zu handeln. Im Weiteren muss man sich mit den Entwicklungsphasen der kurdischen Bewegung auseinandersetzen. Es gibt  bei diesem Thema ein Bewusstsein, das sich auf theoretischer bzw. gedanklicher Ebene zunehmend weiterentwickelt. Die kurdische Bewegung hat bislang einen Ansatz verfolgt, in dem sie die Stärke und eigene Organisierung der unterdrückten Kreise verteidigt und gefördert hat – sowohl politisch, als auch militärisch. Das kann man in Şengal und Rojava sehen. All dies bedeutet für die Zukunft einen positiven Anfang. Damit dieser, in ihrer Frage genannte “schlimmste Fall” nicht eintritt, muss diese Annäherungsweise und Praxis noch weiter vertieft werden.

Das Interview ist im Original am 05. Oktober 2017 beim Nachrichtenportal Artı Gerçek unter dem Titel „Politik tercih bağlayıcı hukuki ilkeye dönüşmeli“ erschienen.