Trotz Ausnahmezustand: HDP bleibt im Parlament

Berichte der Wahlbeobachtungsdelegationen aus Deutschland, 25.06.2018

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat die Zehn-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen in der Türkei überschritten und wurde in elf Provinzen Kurdistans stärkste Partei. Laut vorläufigen Ergebnissen hat sie 11,83 Prozent der Stimmen erzielt und zieht mit 74 Abgeordneten ins Parlament ein.

Wahlen unter dem Ausnahmezustand

Die Parlaments-und Präsidentschaftswahlen fanden unter dem Ausnahmezustand statt, der nach dem sogenannten Putschversuch vom 15. Juli 2016 verhängt worden war, für den die türkische Regierung den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich macht. Unter dem Ausnahmezustand waren Grundrechte bisher ohnehin schon weitestgehend eingeschränkt. Erdoğan konnte per Dekret regieren, die nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar sind. Mit seiner „Wiederwahl“ ist der Wandel der Türkei in ein Ein-Mann-Regime besiegelt. Dabei wird Erdoğan von den erweiterten Befugnissen unter dem Präsidialsystem profitieren, das bei dem umstrittenen Verfassungsreferendum im April 2017 mit knapper Mehrheit gebilligt worden war und nach der Wahl voll in Kraft tritt. Somit wird Erdoğan das Land in eine noch dunklere Zeit führen.

Im Schatten dieser angespannten Stimmung reisten mehrere Wahlbeobachtungsdelegierte aus Deutschland in die Türkei und nach Nordkurdistan. Die Wahlbeobachtungsgruppen hatten eine Größe von sechs bis zehn Personen und haben sich in der Region selbst nochmal in kleinere Gruppen aufgeteilt. Die Kleingruppen wurden von einem HDP-Mitglied und im besten Fall einem Anwalt begleitet, sodass die Kleingruppen zeitgleich mehrere Wahllokale in Begleitung erfahrener Personen besuchen konnten. Die Aufgaben der Wahlbeobachter bestand darin, verschiedene Wahllokale zu besuchen und darauf zu achten, dass faire, geheime und gleiche Wahlen stattfinden. Jeder Versuch einer Wahlmanipulation wurde dokumentiert und an die Öffentlichkeit weitergeleitet, sodass im Nachhinein mögliche juristische Schritte hätten eingeleitet werden können. Insgesamt wurden die Wahlbeobachter von den Wählern positiv angenommen. Die Polizei und einige Wahlhelfer waren von der Präsenz der  Wahlbeobachter nicht sehr begeistert und betrachteten deren Anwesenheit eher als störend.

Im Folgenden möchten wir bei uns eingegangene Berichte der deutschen Wahlbeobachtungsgruppen zu ihren Erlebnissen am Sonntag, den 24. Juni, mit Ihnen teilen.

Wahlbeobachtung in Midyat:

Unser Tag begann heute in der Umgebung von Midyat, in der Yolbaşı-Grundschule. Auf dem Weg zu dem Wahllokal begegnete uns ein aufgebrachter Mann, der sich lautstark darüber beschwerte, dass in dem Wahllokal Personen für mehrere, nicht Anwesende stimmen würden, für Kranke, Verstorbene usw.… Dieser Eindruck bestätigte sich uns bald darauf. Als wir den ersten Wahlraum betraten, führte dies zu einer großen Unruhe und Aufregung in dem Raum. Es wurde lautstark darüber diskutiert, ob ein älterer, sehr gebrechlicher Mann, die Wahlkabine in Begleitung eines jungen Mannes betreten darf. Wir erfuhren später, dass dieser junge Mann in dem Ort dafür bekannt war, dass er für andere Stimmen abgab. Die Stimmung heizte sich weiter auf. Wir und andere Wahlbeobachter wurden von AKP-Wahlhelfern schließlich aus dem Raum befördert.

Als wir daraufhin den nächsten Wahlraum betraten eskalierte auch dort sofort die Situation. Ein Wahlhelfer der AKP beschimpfte lautstark einen Wähler, der ihn zuvor auf die vorherige Situation aufmerksam gemacht hatte. Der AKP-Wahlhelfer sagte ihm, er habe hier nichts zu sagen, er mache was er will, und überzog ihn mit Schimpfwörtern. Daraufhin kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen vielen der anwesenden Wahlhelfer und Wähler. Es dauerte nicht lange, bis sich auch die schwerbewaffnete Gendarmerie einschaltete, den jungen Mann festhielten und aus dem Raum führten, und uns aus der Schule hinaus geleiteten. Draußen angekommen, wurden wir von einem Gendarm gefragt, wer wir sind und das Deutsche bei türkischen Wahlen nichts zu suchen hätten. Daraufhin telefonierte er demonstrativ und verbreitete die Nachricht, dass Wahlbeobachter die Wahllokale besuchen würden. Wir hatten später den Eindruck, dass die Wahllokale, zu denen wir  gingen, auf unseren Besuche vorbereitet waren, und sich bemühten, zumindest während unserer Anwesenheit, keine Auffälligkeiten aufzuweisen.

Die Gendarmerie hielt sich sehr präsent direkt von dem Eingang der Schule mit offenen Gewehren auf. Es war beängstigend die Schule zu betreten. Diese Präsenz der Gendarmerie vor den Wahllokalen bzw. z.T. auch in den Wahllokalen, sollte sich durch den ganzen Tag ziehen.

In Acırlı in der Fathih-Schule gab es die Auffälligkeit, dass die Wahlurne nicht mehr die originale Versiegelung aufwies. Im Gegensatz zu den Originalen, die ein deutliches Siegel mit Wachs und Pappe aufweisen, war hier nur ein kurzes Band mit einem kleinen Knoten und einem Rest Siegelwachs. Zudem war sie für den frühen Tageszeitpunkt auffällig stark gefüllt.

In der Atatürk-Grundschule bei Acırlı war die Gendarmerie selbst in den Wahlräumen mit offenen Gewehren anwesend. Die Gendarmerie erkundigte sich intensiv nach uns und folgte uns auf Schritt und Tritt.

In der Gelinkaya-Mittelschule wurden wir zwar relativ freundlich empfangen, aber auch hier fiel uns wieder eine Wahlurne auf, auf der sich das Siegel eindeutig von den anderen unterschied. Zudem wiesen die Umschläge, die sich in der Urne befanden, nicht die notwendige Anzahl der drei Beglaubigungs-Stempel auf, es waren nur zwei, manchmal auch nur einer. Auf unsere Rückfrage, warum das Siegel anders aussehe, sagten sie, das sei alles richtig so, die Urne ließe sich nicht öffnen, das könnten wir probieren, sie selbst hätten das Siegel angebracht.

Zudem  fiel uns auf, dass dort ein Gendarm einen Wähler mit dem Gewehr bis in das Wahllokal hinein begleitete. Wir wissen nicht, was drinnen weiter passierte.

In der Mittelschule in Gülveren begleitete uns die Gendarmerie bis in die Wahlräume mit offenen Gewehren hinein.

Um nach Kılavuz (Dargeçit) zu kommen mussten wir durch Kontrollposten der Polizei. In diesem kurdischen Dorf erlebten wir das einzige Mal, dass sich die Gendarmerie einen größeren Abstand und entfernt auf dem angrenzenden Parkplatz aufhielt, ohne die Wähler, die die Schule betraten, zu bedrohen. Zum ersten Mal wurden wir auch durchweg freundlich begrüßt. Der Schulleiter hieß uns in seiner Schule willkommen. Hier sahen wir keine Auffälligkeiten.

Bevor wir zur Anadolu Lisesi in Dargeçit kamen, wurden wir von unserem Fahrer darauf vorbereitet, dass es dort große Polizeipräsenz geben würde. Auf dem Schulhof standen vor dem Eingang drei Panzerfahrzeuge, davon eines mit aufgesetztes Maschinengewehr.

Als wir die Schule betraten kamen uns gleich mehrere Zivilpolizisten mit offenen Maschinengewehren und anderen Waffen entgegen. Uns begegnete eine große Unruhe, Menschen liefen aufgeregt herum und die größte Unruhe schien von einem Wahlraum auszugehen.  Wir konnten unseren Begleitern jedoch nicht dorthin folgen, da uns der Weg durch einen der Zivilpolizisten mit Maschinengewehr abgeschnitten wurde. Ein Mann fertigte von uns „unauffällig“ Fotos an. Wie sich später herausstellte, war er einer der Zivilpolizisten.  Es hatte hier eine Auseinandersetzung gegeben. Ein Anwalt hatte die Zivilpolizisten aufgefordert, sich gesetzeskonform zu verhalten und die Waffen außerhalb der Wahlräume zu lassen. Daraufhin richtete ein Zivilpolizist die Waffe auf ihm und drohte ihn zu erschießen. Es wurde Verstärkung der Polizei gerufen, die auch mit ca. 12 weiteren, teilweise mit gezogenen Schlagstöcken eintraf. Es wurden drei Wahlbeobachter, unter anderem der lokale Ko-Vorsitzende der HDP sowie der Anwalt von ca. 20 Polizisten verprügelt. Wir wurden aus der Schule verwiesen und uns wurde gesagt, wir hätten kein Recht uns dort aufzuhalten. Unsere Personalien wurden aufgenommen und von dem Polizisten, der uns schon zuvor fotografiert hatte abfotografiert. Wir sollten uns als Wahlbeobachter ausweisen. Als wir das Papier unserer Bundestagsabgeordneten zeigten, die uns als Wahlbeobachter auswiesen, sagte man uns, diese sei ungültig.

Mit dieser Station endete unsere Wahlbeobachtung auch aus zeitlichen Gründen – die Wahlzeit war fast vorbei. Insgesamt konnten wir an diesem Tag, selbst bei nur kurzer Anwesenheit, viele Unregelmäßigkeiten und zum Teil rechtswidriges Verhalten beobachten. Wir hatten oft den Eindruck, dass die Atmosphäre in und um den Wahllokalen sehr angespannt war und unsere Anwesenheit teils zu heftigen Reaktionen führte.

Wahlbeobachtung in Kocaköy:

Am Wahltag sind wir (4 Beobachter aus der BRD) und ein Rechtsanwalt aus Amed (Diyarbakir) um 8.30 Uhr von Amed aus nach Kocaköy gefahren. Wir konnten in Kocaköy insgesamt 4 Wahlorte mit 12 Wahlurnen beobachten. Zwei weitere Orte konnten wir nur von außen sehen, da wir ab 13.52 Uhr Wahlbeobachtungsverbot hatten. Vor Beginn unserer Beobachtungen gab es ein kurzes Treffen im HDP-Büro von Kocaköy. Dort gab es bis 9.30 Uhr Anrufe, dass in Kocaköy Zentrum noch vor Öffnung der Wahllokale um 8 Uhr Menschen bedroht worden waren, offen zu wählen.

Yaziköy (4 Wahlurnen)

Im Hof der Schule halten sich viele bewaffnete Polizisten und Polizisten mit Sicherheitswesten und Pistolen auf. Ein Panzerfahrzeug steht gegenüber des Hofes, ein weiteres kommt direkt beim Hofeingang hinzu. Im ersten und zweiten Wahllokal sind sehr viele Menschen, es wirkt auf uns unübersichtlich, da Menschen, die bereits gewählt haben, den Raum nicht gleich wieder verlassen. Dort musste geklärt werden, dass Menschen mit Beeinträchtigungen das Recht haben mit Familienangehörigen ersten Grades in die Wahlkabine zu gehen. Aus „Sicherheitsgründen“ wurde die Wahl für das Dorf Saklat nach Yaziköy verlegt. Dies ist durch das neue Wahlgesetz möglich. Die Dorfbewohner mussten deshalb eine Strecke von 4 bis 7 km zu Fuß zurücklegen (38 Grad Hitze). Wir fahren zu dem Dorf, um Bewohner zu befragen: Es gab keine Vorkommnisse, die die Verlegung rechtfertigen könnten. Seitens der Regierung wurde kein Fahrdienst eingerichtet, die HDP hat 2 Kleinbusse organisiert Die 480 Wahlberechtigten wurden auf die 4 Wahlurnen verteilt, so dass schlecht nachvollziehbar ist, wer gewählt hat. Während des Wahlprozesses wurde ein Kandidat der HDP von der Polizei massiv bedroht. Eine Frau fragt im Gespräch mit uns, ob sie jetzt ins Gefängnis müsse, weil sie uns erzählt, dass sie soweit laufen müssen.

Kocaköy Zentrum (4 Wahlurnen)

In den vier Wahllokalen zeigen sich für uns keine Auffälligkeiten. Im Gebäude halten sich Polizisten mit Kleinwaffen auf. Als wir das Ansprechen gehen die meisten hinaus. Als Reaktion darauf kontrolliert der Einsatzleiter mehrfach unsere Ausweise und fotografiert sie. Im Hof steht ein Polizeifahrzeug.

Arkbaci (2 Wahlurnen)

Der Wahlleiter berichtet uns, dass Analphabeten von ihn eine Einführung für die Wahlzettel bekommen und dann alleine in die Wahlkabinen gehen. Uns fallen viele leere Stimmzettel im Wahllokal auf, obwohl die meisten Wähler schon hier waren. Es wird uns erklärt, dass diese nachbestellt werden mussten, alle sind gestempelt und die Anzahl sei zentral registriert. Die unbenutzten würden nach 17 Uhr zurückgegeben.

Im Hof hält sich bewaffnete Polizei auf, der Einsatzleiter schreibt unsere Namen auf.

Tepecik (2 Wahlurnen)

Beim Hineingehen erfahren wird, dass eine italienische Delegation (3 Personen) Wahlbeobachtungsverbot bekommen hat. Unsere Namen werden verglichen.

Gegen 13 Uhr haben hier schon 70% der Wahlberechtigten gewählt. Der militärische Einsatzleiter kommt in Zivil ins Gebäude, holt uns heraus, kontrolliert und fotografiert unsere Pässe. Wir werden im Hof der Schule von acht schwerbewaffneten Militärs festgehalten. Einzelne Militärs legen immer wieder ihr „Montur“ samt Waffen ab und gehen ins Gebäude. Zusätzliche halten sie sich bewaffnet an der Feuertreppe der Schule auf. Der Einsatzleiter lässt uns weder zurück in die Schule noch weiterfahren. Er telefoniert mehrfach mit seinem Vorgesetzten, da er eine Anordnung möchte, dass wir nicht mehr hinein dürfen. Um 13.52 Uhr teilt er uns das Verbot der Wahlbeobachtung unter Strafandrohung mit, weil wir keine Akkreditierung hätten. Der Einsatzleiter verfasst einen Bericht, den der Wahlleiter und er selbst unterschreiben – wir unterschreiben nicht. Wir werden die ganze Zeit sehr gut von dem Anwalt, der uns begleitet, betreut.

Wir entscheiden weiterzufahren, so dass der Anwalt die weiteren Orte besuchen kann und wir außen warten. In zwei weiteren Dörfern, deren Wahllokale verlegt wurden, möchten wir mit den Dorfbewohner sprechen.

Kokulupinar (4 Wahlurnen)

Der Rechtsanwalt geht in Begleitung des HDP-Kovorsitzenden hinein, sie berichten keine besonderen Vorkommnisse. Von außen sind für uns weder Polizei noch Militär erkennbar. Die beiden Dörfer Boyunlu und Güzbasi müssen auch hier wählen.

Gökcen (2 Wahlurnen)

Ein Militärfahrzeug befindet sich an der Straße, schwerbewaffnete Militärs befinden sich rund um den Hof der Schule und im Hof. Der Anwalt geht wieder in Begleitung des HDPlers hinein. Ihnen wird berichtet, dass sieben Menschen nicht wählen durften, weil sie kein Foto im Ausweis hatten.

Güzebasi/Boyunlu

Wir führen mit neuen Menschen aus den Dörfern ein Gespräch. Die Verlegung der Wahllokale wurde wieder mit „Sicherheitsgründen“ begründet. Es gab keinerlei besondere Vorkommnisse, die das rechtfertigen könnten. Bei der Wahl 2015 und beim Referendum wurde in der örtlichen Schule gewählt, dies wäre jetzt auch möglich. Die weite Entfernung sei eine bewusste Schikane der Regierung. In der Vergangenheit hatte die HDP 100% in diesen Dörfern. Nach Aussage der Dorfbewohner sei durch die Zusammenlegung der Dörfer bei der Wahl nicht mehr herauszufinden, ob die Wahl manipuliert worden ist. Die beiden Dörfer sind 12 km und 15 km von Kokulupinar entfernt (38 Grad Hitze). Auch hier wurde seitens der Regierung kein Fahrdienst eingerichtet. Die HDP und die Wahlberichtigten selbst haben Autos organisiert.

Wir bleiben mit dem Anwalt bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses für Kocaköy in Kocaköy. Die veröffentlichten Ergebnisse (81.16 %  HDP Parlament, 79.56 % Selahattin Demirtas) entsprechen nach Einschätzungen der HDP und des Anwaltes nicht dem erwarteten Wahlergebnis.

Bericht einer Frauendelegation aus Berlin zum Bezirk Kocaköy (Diyarbakir/ Amed):

Gemeinsam mit zwei anderen Personen, einer Übersetzerin und einem Anwalt haben wir versucht sechs Wahllokale im Bezirk Kocaköy zu besuchen. Von diesen sechs Wahllokalen befanden sich eins in Yaziköy, eins im Zentrum von Kocaköy, eins in Arkbasi, eins in Tepercik, eins in Kokulupiner und das letzte in Gökcen.

Beginnen möchte ich mit dem Aufbau der Wahllokale. Alle Wahllokale sind in etwa gleich aufgebaut und befinden sich in den Schulen der Dörfer. Innerhalb der Wahllokale gibt es 2-4 Urnen je nach Größe des Dorfes. Dazu muss man sagen, dass teilweise Dörfer zusammengelegt wurden, wodurch noch mehr Menschen in einem Wahllokal bzw. an den verschiedenen Urnen wählen mussten. Dazu jedoch später mehr. Innerhalb eines Raumes des Wahllokales stehen mehrere Tische an denen die Wahlkommission sitzt. Hierauf befinden sich die Stempel „Evet“, die Wahlzettel und die Briefumschläge für die Wahlzettel, sowohl für das Parlament, als auch den Präsidenten, welche gestempelt sind. Die Wahlkommission setzt sich zusammen aus fünf Menschen, sowohl Männer, als auch Frauen, welche von der Regierung berufen wurden. Es gibt einen Wahlleiter. Weiterhin anwesend sind die Wahlbeobachter der einzelnen Parteien. Vor dieser Wahlkommission befindet sich ein durchsichtiger Kasten, dies ist die Urne. Dieser ist verschlossen durch ein paar Schnüre mit einem kartonartigen Viereck, welche durch ein Kerzenwachssiegel verschlossen ist. Je nach Größe des Wahllokales sind innerhalb der einzelnen Wahlräume 1-2 Wahlkabinen vorhanden. Jeder Mensch der wählen will, musste seine Wahlbenachrichtigung und seinen Personalausweis mitbringen. Weiterhin waren auch an jedem Wahllokal Polizei und/oder Militär vor den Wahllokalen vorhanden. Ich denke das gibt eine ungefähre Vorstellung davon, wie die einzelnen Wahllokale aufgebaut sind.

Insgesamt gibt es in Kocaköy 37 Wahllokale, wir haben davon sechs versucht zu besuchen. Der Bezirk befindet sich nordöstlich von Diyarbakir/ Amed.

Im ersten Wahllokal im Zentrum des Dorfes Yaziköy kamen wir am frühen Vormittag gegen 10 Uhr an. Dieses Wahllokal setzte sich aus vier Wahlräumen mit eigenen Urnen zusammen. Auffällig war dabei sofort, dass vor den Schulen mehrere Militärfahrzeuge standen und der gesamte Schulhof von Militärs überwacht wurde. Zusätzlich gab es noch vier zivile Polizisten. Im ersten Wahlraum gab es keine Auffälligkeiten, daher hielten wir uns dort nur sehr kurz auf, begrüßten jedoch die komplette Wahlkommission und den Wahlleiter und erfragten die aktuelle Lage. Die ersten Fragen ergaben sich, als zwei Personen in der Wahlkabine verschwanden. Uns wurde erklärt, dass Menschen mit Schwerbehinderung einen Verwandten Ersten Grades mit in die Wahlkabine nehmen dürfen – zur Unterstützung. Dies gilt jedoch nicht für AnalphabetInnen, welche alleine in die Kabine müssen. Vor allem betroffen sind dabei Frauen, welche ihre Kinder mit in die Kabine nehmen wollten. Die Regelung für AnalphabetInnen ist jedoch, dass der Wahlleiter vor der Wahl die Wahlzettel erklärt und was darauf steht. Die AnalphabetInnen bestätigen ihre Anwesenheit, (dass sie gewählt haben) durch den Stempel ihres Daumens. Es gab keine weiteren Auffälligkeiten auch in den anderen Wahlräumen. Spürbar war jedoch, dass einzelne Menschen der Wahlkommission, als auch teilweise die Leiter nicht begeistert waren über unsere Anwesenheit. Das Besondere an diesem Wahllokal war, dass wie durch Erdogan angekündigt, hier mehrere Dörfer zu einem zusammengelegt wurden. Das Dorf Saklat musste demnach in Yaziköy wählen, als Begründung der Verlegung diente die Sicherheitslage in Saklat. Wir machten uns als auf den Weg zum Dorf Saklat um mit den Menschen zu sprechen und zu sehen, welchen Weg diese Menschen bis zu ihrem Wahllokal zurücklegen mussten. Wir haben bis zum Anfang des Dorfes einen Weg von ca. 4 km zurückgelegt. Es ist also von einem Weg von ca. 4-6 km auszugehen, den die Bevölkerung bei ca. 36 Grad gehen muss um zu ihrem Wahllokal zu kommen. Die Stimmung im Dorf ist sehr ruhig, ich gewinne keinen Eindruck der Bedrohung oder einer schwierigen Sicherheitslage. Allerdings muss man wissen, dass dieses Dorf durch die letzten Wahlen dafür bekannt war, dass es zum Großteil HDP wählt und bereits in den 90er Jahren mit Repression zu kämpfen hatte und vollständig abgebrannt wurde. Im Dorf gibt es ca. 200 Häuser, also 480 Wähler.

Ein 75 Jähriger Mann erzählt, dass er überlegt hat gar nicht wählen zu gehen, wie soll er in seinem Alter diesen langen Weg zurücklegen? Eine andere Frau erzählt über ihren langen Weg von 5 km mit Kind und zu Fuß. Nachdem sie uns diese Information gegeben hat, fragt sie, ob sie nun wegen dieser Aussage ins Gefängnis muss. Bevor die Zwangsverwaltung in den Dörfern eingesetzt wurde, hat die HDP dieses Dorf verwaltet und für Wahlen oder ähnliches die Wahlkampfbusse für den Transport der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Aktuell ist dies jedoch durch den Zwangsverwalter verboten.

Wir machen uns auf den Weg zum nächsten Wahllokal im Zentrum von Kocaköy. Auf dem Weg erzählt uns der Bezirksleiter der HDP, dass er vor den Wahlen offen vom Militär bedroht wurde. Diese stellen ihm die Frage: „Warum stellst du dich zur Wahl? Noch hast du die Möglichkeit zurückzutreten.“ Er fragte daraufhin, ob dies eine Drohung sei. Das Militär antwortete nur, dass er es auffassen kann, wie er es möchte.

Das zweite Wahllokal im Zentrum von Kocaköy beinhaltet drei Wahlräume mit Urnen. Beim Betreten des Schulgebäudes, sehen wir sofort die Polizei, welche sich innerhalb des Gebäudes aufhält. Man muss dazu wissen, dass es der Polizei und dem Militär nicht erlaubt ist mit Waffen das Wahllokal zu betreten und sie müssen mindestens 15 Meter Abstand zu den einzelnen Wahlräumen halten. Das war hier nicht der Fall, daher verlässt die Polizei bei unserer Anwesenheit nach und nach das Gebäude. Es gibt die ersten Probleme, der MHP-Kandidat wollte uns ohne Vorzeigen der Pässe nicht die Wahlräume besuchen lassen. Wir verneinen dies und betreten die Wahlräume. Es gab in diesen Wahlräumlichkeiten ansonsten keine weiteren Auffälligkeiten. Allerdings wurden wir beim Verlassen des Schulgebäudes das erste Mal durch die Polizei angehalten. Sie würden gerne unsere Pässen sehen und wissen was wir hier tun. Erst versuchen sie uns aufzuhalten mit der Begründung, dass die Einreisestempel nicht die richtigen wären, unser Anwalt kann die Situation jedoch klären. Nachdem unsere Pässe das erste Mal abfotografiert wurden, dürfen wir weitergehen.

Als nächstes fahren wir nach Arkbasi, wo es nur wie Urnen gibt. Dort haben bereits 70% der Bevölkerung gewählt und es gab nur Zwischenfälle, wo es um die oben geschilderte Situation mit AnalphabetInnen ging. Uns ist jedoch aufgefallen, dass relativ viele Wahlzettel noch auf dem Tisch liegen. Wir fragen nach, warum noch so viele Wahlzettel dort liegen, wenn 70% schon gewählt hätte. Die Antwort bleibt einsilbig, man hätte einfach nachgelegt und würde restliche Wahlzettel zurückschicken. Am Ende kontrolliert uns noch die wenig motivierte Polizei und schreibt ein paar unserer Namen falsch auf.

In der Mittagspause erreichen uns immer wieder Nachrichten über Manipulationen aus anderen Bezirken, wie Suruc, wo eine komplett gefüllte Wahlurne bereits am Morgen der Wahl aufgetaucht ist.

Das vierte Dorf, welches wir besuchen heißt Tepecik. Hier werden wir sofort nach dem Aussteigen aus dem Auto von 4-6 Militärs überfreundlich empfangen. Ihr Einsatzleiter informiert uns darüber, dass einer Delegation an Wahlbeobachtern verboten wurde weiter zu beobachten. Daher müssen sie unsere Pässe kontrollieren. Da wir jedoch nicht die gesuchten Personen sind, sondern eine italienische Delegation der weitere Zutritt zu den Wahllokalen verboten wurde, dürfen wir erst mal das Schulgebäude betreten.

Als wir jedoch im ersten Wahlraum mit der Beobachtung beginnen wollen, kommt der Einsatzleiter in Zivil herein und bittet uns mit ihm rauszugehen. Wir müssen also gehen, der Anwalt sagt, es ist wahrscheinlich, dass wir die Nächsten sind für ein Verbot.

Alle Pässe werden erneut und dreifach geprüft. Der Einsatzleiter telefoniert lange und immer wieder mit seinem Chef. Während wir warten, beobachten wir immer wieder, dass einige Militärs in ziviler Kleidung das Wahllokal betreten und längere Zeit dort blieben.

Während des Wartens schafft es der Einsatzleiter uns zum Lachen zu bringen in dem er uns sagt, er müsse auf den Befehl seines Chefs warten, dass wir nicht weiterbeobachten dürfen. Fünf Minuten später ruft er seinen Chef an und sagt, dass er nun durchgibt, dass wir nicht weiterdürfen. Wir lachen sehr laut und uns ist klar, dass dies eine Hinhalte-Taktik war und schon zu Beginn klar war, dass wir ein Verbot bekommen. Die Begründung für dieses Verbot ist, dass wir keine offizielle Zulassung als Wahlbeobachter hätten, wie z.B. Parlamentarier aus Deutschland. Ich lache wieder, da offizielle Beobachter gar nicht erst in das Land gelassen wurden, sondern auf dem Flughafen wieder umkehren mussten.

Der Einsatzleiter schribt einen Bericht und erklärt uns, dass wenn wir ein weiteres Wahllokal betreten uns eine Strafanzeige droht und sie uns mitnehmen müssen.

13.52 Uhr ist unsere Wahlbeobachtung vorläufig beendet. Wir einigen uns jedoch darauf, dass wir zu den weiteren Wahllokalen fahren und mit der Bevölkerung sprechen.

Die letzten beiden Wahllokale in Kokulupiner und Gökcen muss unser Anwalt alleine besuchen und richtet den Menschen vor Ort unsere Grüße aus, da die Vorfälle und Übergriffe des Militärs immer mehr zunehmen. In der Zeit von 14-16 Uhr erhalten wir mehrere Nachrichten darüber, dass Wahlbeobachter der Parteien angegriffen wurden und es mehrere Verletzte in Suruc und Bismil gibt.

Das einzige, was wir noch tun können, ist die Bevölkerung der zwei Dörfer Boyunlu und Güzebasi zu besuchen. Diese wurden wie die Menschen in Saklat gezwungen in einem anderen Dorf zu wählen, in diesem Fall Kokulupiner. Die Begründung auch hier: die schwierige Sicherheitslage. Die Bevölkerung des ersten Dorfes muss insgesamt 15 km bis nach Kokulupiner laufen und die Menschen aus dem zweiten Dorf immerhin 12 km, bei mittlerweile 38 Grad. Die Menschen aus den Dörfern verstehen die Entscheidung der Verlegung nicht, da nichts Bedrohliches innerhalb der Dörfer vorgefallen sei. Außerdem konnten sie 2017 beim Referendum, als auch 2015 bei den letzten Wahlen noch normal in ihrer eigenen Schule wählen. Allerdings muss man wissen, dass auch hier z.B. in Boyunlu fast zu 100% HDP gewählt werden. Warum also das Zusammenlegen der Wahllokale?

Ganz einfach, einmal ist es natürlich für die Bevölkerung ein immenser Aufwand und anstrengend den Weg bis zum nächsten Dorf zu laufen. Es wurde, wie oben bereits erwähnt keine Infrastruktur in Form von Bussen oder ähnlichem zur Verfügung gestellt. Allein die HDP versuchte mit privaten Autos die Menschen in den Dörfern zu unterstützen und vor allem alte Menschen, als auch Frauen mit Kindern zu den Wahllokalen zu fahren. Ein weiterer Grund, warum die Wahllokale in andere Dörfer verlegt wurden, ist die nun mögliche Aufteilung der einzelnen Dörfer auf verschiedene Urnen innerhalb eines Wahllokales. Hierbei wird die Manipulation der Wahlzettel vereinfacht. In einem Dorf in dem zu fast 100% HDP gewählt wird, würden andere Stimmabgaben auffallen, d.h. durch die Aufteilung in verschiedene Urnen in einem anderen Dorf, haben wir einmal die Schikane für die Bevölkerung und auf der anderen Seite die bessere Manipulation von Zugabe gefälschter Stimmen.

Zusammenfassend war es von Anfang an spürbar, dass sowohl Wahlkommission, als auch die Polizei und das Militär unsere Anwesenheit in den Wahllokalen nicht sonderlich gut fanden. Im Gegensatz zur Bevölkerung, welche sich sehr interessiert zeigte und beeindruckt von dem ausländischen Besuch war. Gleichzeitig zeigte sich jedoch auch, wie ängstlich und eingeschüchtert die Bevölkerung in einigen Dörfern war, so dass sie sogar Angst hatten ins Gefängnis gehen zu müssen, nur weil sie mit uns sprachen.

Zu Anfang hat sich das Militär stark zurückgehalten, dann folgte die Strategie Vorwände zu suchen um unsere Beobachtung irgendwie zu unterbrechen und zuletzt dann eine Art Hinhalte-Taktik, welche mit dem Verbot der Beobachtung unter Androhung von Strafanzeige endete.

Die Auffälligkeiten in unserem Wahlbezirk blieben zumindest solange wir anwesend waren in einem niedrigen Bereich. Es wurde z.B. nicht überprüft, ob Menschen mit Smartphone in die Kabine gingen. Das ist auch nur dann von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die AKP allen die mit „Evet“ für AKP stimmen und das Fotografieren angeblich eine bestimmte Geldsumme bekommen. Ob das passiert ist, kann ich nicht sagen. Dann wie oben schon beschrieben, gab es mehr Wahlzettel als Wähler. Zum Militär bleibt zu sagen, dass sie mit starker Präsenz vor den Lokalen und teilweise in Zivil in den Wahllokalen zu einer Einschüchterung der Bevölkerung stark beigetragen haben und somit in meinen Augen teilweise eine unabhängige Wahl beeinträchtigt haben. Die zusammengelegten Wahllokale in verschiedenen Dörfern lassen sich nicht anders als Schikane gegen die Bevölkerung, als auch die HDP bezeichnen, welche bisher die meisten Stimmen in diesen Dörfern erlangte.

Erdogan hat es meiner Meinung nach geschafft über viel verdecktere Wege, wie die Zusammenlegung von Wahllokalen, die Verteilung eines Dorfes auf vier Urnen, die Einschüchterung von Oppositionspolitikern und wie immer wieder gemeldet wurde: gefälschten Wahlzetteln, als auch der starken Militärpräsenz ein Klima der Angst und der Ungewissheit bei dem Teil der Bevölkerung zu erzeugen, welche nicht für ihn wählen wollen. Abschließend dazu möchte ich ein Beispiel unseres Anwalts geben, welcher von seinem Cousin erzählte. Dieser war bei einer Demonstration anwesend, die von der Opposition veranstaltet wurde. Daraufhin verlor er, trotz sehr gutem Uniabschlusses und hohem Ranges im Betrieb seinen Job. Es wird für ihn sehr schwer werden innerhalb der Türkei wieder eine Arbeit zu finden und somit seine Familie zu ernähren. Erdogans Taktik hat sich verändert. Nun geht es nicht mehr darum, die oppositionelle Bevölkerung durch Militär und Gewalt zu unterdrücken, sondern durch manipulative, verdeckte Techniken, die auf lange Sicht gesehen das Leben der Menschen, die sich nicht seiner Ein-Mann-Herrschaft beugen wollen, einschränkt, zerstört und zermürbt. Ich habe jedoch auch gesehen, wie stark diese Menschen sind und sie jeden Kampf aufnehmen werden um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Diese Menschen wollen sich nicht damit abfinden, dass sich ein Mensch über sie stellt und diese Macht nur durch Erpressung, Unterdrückung und Gewalt aufrechterhalten kann. Diese Menschen haben mich am meisten beeindruckt und ich möchte versuchen mit diesem Bericht ihrer Zuversicht und ihrem Widerstandsgeist gerecht zu werden.