Wir sind eigentlich von Anfang an an der Revolution in Syrien beteiligt

mithat sancar_salih mslimSalih Müslim im Interview mit Mithat Sancar, 15.08.2013

(…) Infolge dieses Krieges hat die kurdische Sache an Bedeutung gewonnen und sich in einer gewissen Weise internationalisiert. Langsam wird verstanden, dass ohne die Lösung der kurdischen Frage keine Demokratie in Syrien entstehen kann. Aus diesem Grund ist die Angelegenheit um Westkurdistan (Rojava/Nordsyrien) in den Interessensbereich aller getreten(…) 

Im Folgenden ein Interview des Journalisten Mithat Sancar mit dem Kovorsitzenden der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), Salih Müslim, das am 15. August in der türkischen Tageszeitung Milliyet veröffentlicht wurde.

In den letzten Wochen befinden Sie sich in einem intensiven diplomatischen Austausch. Der Besuch in der Türkei, danach eine Reise nach Europa, dann die Einladung in den Iran und wahrscheinlich bald wieder in die Türkei … Über die Gründe und Inhalte dieser Treffen gibt es verschiedene Bewertungen. Können wir nun etwas von Ihnen darüber hören?

Aufgrund der aktuellen Situation in Syrien gibt es einen anhaltenden Krieg im Mittleren Osten. Dieser Krieg hat Syrien längst überholt und hat fast das Ausmaß eines Weltkriegs bekommen. Jeder hat seine Finger mit dadrin. Den Krieg zu beenden und das Problem zu lösen, ist nun nicht mehr alleine mit dem syrischen Volk und den Kräften innerhalb Syriens möglich. Es ist notwendig geworden, für einen Lösungsprozess alle zu berücksichtigen: Iran, Russland, Qatar, Saudi-Arabien, Türkei, USA, Europa … Infolge dieses Krieges hat die kurdische Sache an Bedeutung gewonnen und sich in einer gewissen Weise internationalisiert. Langsam wird verstanden, dass ohne die Lösung der kurdischen Frage keine Demokratie in Syrien entstehen kann. Aus diesem Grund ist die Angelegenheit um Westkurdistan (Rojava/Nordsyrien) in den Interessensbereich aller getreten. Das Bedürfnis uns kennenzulernen ist gestiegen. Wer sind wir, was wollen wir in Westkurdistan?

Haben sie eine kurze und klare Antwort auf diese Frage?

Wir sind eigentlich von Anfang an der Revolution in Syrien beteiligt. Wir standen an der Spitze als die Revolution begann. Nach uns hat die Revolution in Syrien nicht 2011, sondern 2004 begonnen. Im Jahr 2011 hat es eine andere Ebene erreicht, eine neue Dimension.

Warum 2004?

Im März 2004 gab es in Qamislo einen kurdischen Aufstand. Seitdem haben wir nicht stillgestanden. Zu verschiedenen Zeiten haben wir Demonstrationen durchgeführt und den Kampf weiterentwickelt. Tausende unserer Leute wurden festgenommen, unsere inhaftierten Freunde wurden gefoltert und getötet. Besonders unsere Parteimitglieder und -Sympathisanten standen unter schwerer Repression. 2004 waren die Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien sehr gut und bis 2011 hat das auch angedauert. Den Preis für diese guten Beziehungen haben am meisten wir bezahlen müssen. Doch 2011 hat sich die Situation geändert. Dieses Mal ist das ganze Volk Syriens aufgestanden. Anfangs haben wir uns auch an diesem Aufstand beteiligt. Später haben wir gesehen, dass sowohl innerhalb als auch außerhalb andere Kräfte stehen. Wir konnten nicht neben diesen Kräften stehen. Aber es war natürlich auch unmöglich uns auf die Seite des Regimes zu stellen. Wir haben uns für eine andere Strategie entschieden. Wir werden uns selbst verteidigen, wir werden uns selbst organisieren, mit dem Recht auf legitimer Selbstverteidigung werden wir uns schützen. Wir haben uns auf die Organisierung des Volkes gestützt. Auch als Partei haben wir uns gestärkt. Nachdem eineinhalb Jahre sind wir in die Situation gekommen unsere Gebiete selbst zu verwalten. Elemente des Regimes haben wir aus unseren Gebieten entfernt. Seit einem Jahr sind wir die Sprecher unserer eigenen Gebiete.

Der 14. Juli 2012 ist in dieser Hinsicht wohl ein wichtiger Tag. Was machen sie seit dem?

Wir haben eine Vielzahl von Verfahren entwickelt, den Bedürfnissen unseres Volkes entgegenzukommen und uns selbst zu verwalten. In jedem Wohngebiet gibt es unsere Räte. Doch für die Koordinierung all dessen haben wir kein Gebilde, es gibt keine zentrale Organisierung. Ein Jahr später hat sich die Notwendigkeit dieses Themas von selbst aufgezwungen. Wir haben entschiedenen, eine vorläufige zivile Verwaltungsinstanz aufzubauen, für eine administrative Organisierung.

Was sind denn beispielsweise Gründe die solch eine Notwendigkeit veranlassen?

Es gibt viele Gründe. Aus verschiedenen Orten der Welt kommt humanitäre Hilfe nach Syrien, aber diese werden nicht bei den Kurden verteilt. Es gibt keinen Dialog mit den Kurden. Sie suchen eine Adresse für Gesprächspartner. Es wird verhindert, dass mehrere Organisationen und Länder mit uns in Kontakt treten können. Aus diesem Grund ist es notwendig, eine zivile gemeinsame Verwaltungsinstanz in Rojava aufzubauen.

Sie wissen, dass es Einwände gegen solch eine Verwaltungsinstanz gibt, die eine de-facto-Autonomie bedeuten, da es zu einer Separation der Kurden und einer Spaltung Syriens kommen würde. Ihre Bemühungen werden in der türkischen Presse vorwiegend so bewertet.

Ja, ich weiß. Doch das ist falsch. Diese zivile Verwaltung wäre vorläufig. Sie hätte alltägliche Aufgaben zu leiten und die Vorbereitungen für Wahlen zu treffen.

Betrifft der eigentliche Grund für ihre Einladung in die Türkei diesen Punkt?

Es gab auch zuvor Gespräche mit der Türkei. In Kairo hatten wir uns das erste Mal getroffen, im Mai und Juni dieses Jahres. Wir hatten immer erklärt, dass wir mit der Türkei gute Beziehungen aufbauen wollen. Und sie haben uns wohl gerufen, um uns näher kennenzulernen.

Wirklich nur aus diesem Grund?

Die Treffen in Kairo hatten mehr die Absicht des Kennenlernens. Bei diesen Treffen gab es zwei wichtige Themen. Erstens der Punkt bezüglich der vorläufigen Verwaltungsinstanz. Diese Thematik wurde auf eine übertrieben Art in die Türkei getragen. Dazu wollten sie persönlich von uns hören. Zweitens die Sache mit der Al-Nusra-Front. Wir wissen, dass die Gruppe von Anfang an durch die Türkei unterstützt wird. Sie sagen, dass sie Teil der Freien Syrischen Armee (FSA) seien. Und die Türkei unterstützt die FSA sowieso öffentlich. Doch die Al-Nusra-Font steht nun in der Terror-Liste. Eine offene Unterstützung der Türkei ist daher nicht mehr möglich.

War bei den Gesprächen auch der Lösungsprozess in der Türkei auf der Tagesordnung?

Nein, doch dieser Prozess ist für uns sehr wichtig. Das Volk von Rojava erwartet sehr, dass dieser Prozess erfolgreich verläuft. Unser ganzes Volk unterstützt den Prozess ohne wenn und aber. Selbst wenn ich dagegen wäre, könnte ich diese Realität nicht ändern.

Kommen wir zum kurdischen Nationalkongress. Wie sind ihre Erwartungen?

Das wichtigste, was wir vom Kongress erwarten, ist der Aufbau eines Systems. So wie die türkischen Republiken untereinander ein System haben, so wie es die Organisation für Afrikanische Einheit oder die Organisation für Islamische Zusammenarbeit gibt, haben auch die Kurden das Recht solch ein ähnliches System zu gründen. Wir wollen, dass bei dem Kongress einige Kommissionen und Komites gebildet werden. Diese Organe werden sowohl hilfreich für den Aufbau von Beziehungen zwischen den Kurden selbst sein sowie für die Lösung von Problemen sein, und auch die Beziehungen mit anderen Völkern stärken. Jeder fragt, ob wir ein Großkurdistan wollen? Ja, aber im Rahmen eines Demokratischen Konföderalismus im Mittleren Osten. So wie die Deutschen in Deutschland sich mit den Deutschen in Österreich und anderen Nachbarstaaten in der Europäischen Union zusammenschließen, können sich die Kurden in Syrien mit denen in der Türkei und in den anderen Nachbarstaaten auf die gleiche Wiese zusammenschließen. Vielleicht hört sich das jetzt noch wie in einem Traum an, aber warum sollte das nicht klappen?

Quelle: Milliyet, 15.08.2013

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