Wahlbeobachtungsberichte – Parlamentswahlen 2015 in der Türkei/Nordkurdistan

WahlurneCivaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 13.06.2015

Am 7. Juni fanden die Parlamentswahlen in der Türkei statt. Die Demokratische Partei der Völker HDP startete bereits im Januar 2015 einen internationalen Aufruf zur Wahlbeobachtung, weil sie erfahrungsgemäß Versuche des Wahlbetrugs und der Wahlmanipulation befürchtete, die ihren Eintritt in das Parlament hätte verhindern sollen. Um demokratische Wahlen zu sichern, schlossen sich allein aus Deutschland über 60 Menschen dem Aufruf der HDP an.

Wie üblich begann der Wahlkampf bereits Monate vor den Parlamentswahlen. Während diesem Zeitraum kam es in den kurdischen Regionen, in denen die HDP ihre Hochburgen hat, zu Angriffen und Provokationen gegenüber den HDP Wählern. Der letzte große Anschlag, den auch die deutschen Wahlbeobachter der HDP selbst miterlebten, ereignete sich am Nachmittag des 5. Juni in Amed (Diyarbakir). Kurz nach den Anschlägen setzten die türkischen Sicherheitskräfte gegen die Menschen, die spontan den Bombenanschlag protestierten, Wasserwerfer und ihr Tränengas ein. Letztlich war es dem Appell des Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas an die Zivilbevölkerung zu verdanken, dass es kurz vor den Wahlen in Amed und anderen Orten zu keinen schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den Sicherheitskräften kam.

Im Schatten dieser angespannten Stimmung reisten die Wahlbeobachtungsdelegierte aus Deutschland ihre Missionen am Wahltag in den Provinzen Bedlis (Bitlis), Adana, Wan (Van) und Elaziz (Elazig). Die Wahlbeobachtungsgruppen hatten eine Größe von sechs bis zehn Personen und haben sich in der Region selbst nochmal in kleinere Gruppen aufgeteilt. Die Kleingruppen wurden von einem HDP Mitglied und im besten Fall einem Anwalt begleitet, sodass die Kleingruppen zeitgleich mehrere Wahllokale in Begleitung erfahrener Personen besuchen konnten. Die Aufgaben der Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter bestand darin, verschiedene Wahllokale zu besuchen und darauf zu achten, dass faire, geheime und gleiche Wahlen stattfinden. Jeder Versuch einer Wahlmanipulation wurde dokumentiert und an die Öffentlichkeit weitergeleitet, sodass im Nachhinein mögliche juristische Schritte hätten eingeleitet werden können.

Die Wahlen verliefen im Südosten der Türkei mit starker Militärpräsenz in Form von Gendarmerie und Dorfschützern. Vor allem in den Dörfern der Regionen zeigte sich das Militär verstärkt. So kam es in der Region Bedlis und Elaziz vor, dass die Wahllokale von Dorfschützern belagert wurden, sodass den Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachtern der Weg in die betroffenen Wahllokale verwehrt wurde. Zudem befanden sich des Öfteren auch Polizisten unmittelbar vor den Wahllokalen oder innerhalb der Wahllokale, sodass Wahlen nach demokratischen Prinzipien nicht möglich waren. In einigen Orten kam die Beschwerde ein, dass Wahlvorsitzende den Wählern Andeutungen machen würden, welche Partei sie zu wählen haben. In anderen Wahllokalen beschwerten sich die Wähler darüber, dass Wähler für mehrere Personen wählen würden. Die Wahlbeobachtungsdelegationen gingen den Beschwerden nach und versuchten, die Verantwortlichen auf die Wahlmanipulationen hinzuweisen. Während einige Wahllokale den Appell der Wahlbeobachtungsdelegationen positiv nachkamen, entstanden in anderen Wahllokalen lautstarke Wortgefechte, die die Stimmung in den Lokalen negativ beeinflusste. In vielen Wahllokalen waren mehr Wahlzettel und Umschläge als registrierte Wählerstimmen vorhanden. Gehbehinderten Wählern wurden keine freien Wahlen gewährleistet. Sie wählten in den meisten Fällen in Anwesenheit von mehreren Menschen und vertrauten ihre Stimmzettel den Wahlhelfern an, die diese in die Wahlurnen warfen. In keinem Wahllokal wurden die Mobiltelefone abgenommen, sodass Wähler die Möglichkeit gehabt hätten, ihre Stimme zu fotografieren, um sie an die Partei zu schicken, die ihre Stimme abgekauft gehabt haben könnte. In einem Wahllokal der Region Bedlis wurde ein unabhängiger Kandidat als Wahlbeobachter zugelassen, was den rechtlichen Richtlinien widerspricht.

Insgesamt wurden die Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter wurden von den Wählern positiv angenommen. Die Polizei und einige Wahlhelfer waren von der Präsenz der Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter nicht sehr begeistert und betrachteten deren Anwesenheit eher als störend. In den Städten war die Atmosphäre in den Wahllokalen entspannter, während in den ländlichen Gebieten seitens der Bevölkerung Misstrauen gegenüber dem Wahlvorstand und dem Militär herrschte.

Im Folgenden möchten wir die bei uns eingegangenen Berichte der deutschen Wahlbeobachtungsgruppen mit Ihnen teilen:

Tatvan (Provinz Bedlis/Bitlis)

Fast alle Wahlvorstände haben bereitwillig Auskunft gegeben.

Nur in einer Schule hat ein Polizist versucht uns aus dem Wahllokal fernzuhalten und zwei Wahlvorstände betrachteten unsere Anwesenheit als unnötig.

In fast allen Wahllokalen waren mehr Wahlzettel und Umschläge als registrierte Wählerstimmen vorhanden. Der Wahlvorstand hat versichert, dass sie die überzähligen Wahlzettel und Umschläge protokolliert haben und sie an das Wahlamt separat zurückschicken werden.

In allen Wahllokalen war der Wahlvorstand vollständig. In einem Wahllokal wurde ein unabhängiger Kandidat als Wahlbeobachter zugelassen. Fehlende Personen in den Wahlvorständen, sind nachgewählt worden.

In 3 Wahllokalen gab es eine Präsenz der Polizei in den Wahllokalen. In einem Wahllokal hat die Polizei versucht uns an der Wahlbeobachtung zu hindern. Diesem haben wir klar gemacht, dass es von der Erlaubnis der Wahlvorstandes abhängt und haben die Situation geklärt. In einem weiteren Wahllokal,dass in einer ländlichen schule aufgestellt war, gab es eine Diskussion ob eine ältere gehbehinderte Dame im Auto wählen kann. Die angehörigen wollten darauf bestehen, dass ein Angehöriger für die Dame stellvertretend wählt. Wir haben den Angehörigen erklärt, dass es rechtlich nicht vorgesehen ist. Die Einsicht folgte anschließend.

In keinem Wahllokal wurden Handy abgenommen, so dass Wähler ihre Stimme fotografieren konnten, als Beweismittel, wem sie ihre Stimme gegeben haben. In einem Wahllokal ist der Sohn einer älteren Dame mit in die Wahlurne und hat ihren Wahlzettel in die Urne geworfen, während die Dame sich an seinen Arm eingehakt hatte. Der Wahlzettel wurde ihr nicht erklärt. In fast allen Wahllokalen sind die Menschen im 15m Umkreis der Wahlurne sitzengeblieben, obwohl diese längst gewählt hatten. In einem Wahllokal hab ich fast 7 junge Männer rausgeschickt während eine junge schwangere Frau mit Kind wählen wollte. In allen Wahllokalen waren die Gänge voller Menschen, obwohl diese gewählt hatten, haben sie das Wahllokal nicht verlassen. Mit einem hab ich diskutiert, dass er der Bitte des Wahlvorstandes den Raum zu verlassen, folgen müsse. Er wollte seine Stimme hüten. Als ich ihm erklärt habe, dass dafür die Wahlbeobachter der Parteien zuständig sind, von der HDP waren 3 Personen anwesend, während von den anderen Parteien max. Nur eine Person war, sah er es ein und ging aus dem Gebäude. In der Stadt war die Atmosphäre in den Wahllokalen entspannter während in den Dörfern eher ein Misstrauen die Zusammenarbeit zwischen Wahlvorstand, Wähler und Polizei/Militärpolizei erschwerte. Nach unseren erklärender/vermittelnder Intervention beruhigte sich die Lage in vielen Fällen. Wie konnten in keinem Wahllokal bei der Auszählung dabei sein. Die Präsenz der unabhängigen Wahlbeobachter war insgesamt positiv für das konstruktive miteinander in den Wahllokalen. Die HDP Wähler fühlten sich unterstützt und ernstgenommen. Bitlis stellt insgesamt 3 Abgeordnete, 2 stellt nun die HDP und 1 die AKP.

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Ahlat (Provinz Bedlis/Bitlis)

In dem Kreis Ahlat der Region Bitlis fanden die Parlamentswahlen in 44 Wahllokalen mit insgesamt 84 Wahlurnen statt. Die Wahlen in Ahlat verliefen trotz starken Militärpräsenz in Form von Gendarmarie-Einheiten und Dorfschützern ruhig. Natürlich wurde versucht, durch die beschriebene Militärpräsenz psychologischen Druck auf die Bevölkerung auszuüben. Das wurde allerdings durch die Anwesenheit der Wahlbeobachter gezügelt. Beispielsweise verließen die Dorfschützen das Wahllokal im Dorf Hulîk, als die Wahlbeobachter am Wahllokal ankamen. In einem der Wahllokale im Zentrum von Ahlat wurde den Waglbeobachtern mitgeteilt, dass der Wahlvorsitzender den Wählern andeutet, wen sie wählen sollten. Die Situation wurde durch die Anwesenheit der Wahlbeobachter besänftigt und ging daraufhin etwas angespannt weiter.

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Wan

Wir waren mit sechs Personen in Van und Ercis als Beobachter eingesetzt. Wir waren in zwei Gruppen aufgeteilt, in Van und Ercis. Beide Gruppen haben im Grunde genommen keine besonderen unüblichen Unregelmäßigkeiten festgestellt. Auffällig war nur die Polizeipräsenz in mehreren Wahllokalen, teilweise viel zu nah an den Wahlräumen. An einem Wahlort hat die Polizei versucht, uns an der Beobachtung zu verhindern. Nach einer kurzen Diskussion haben wir sie jedoch unter Hinweis auf die Mitteilungen des Hohen Wahlrates überzeugen können.

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Elaziz

Unsere Gruppe bestand aus fünf Beobachtern. Einem HDP Mitglied, einem Anwalt, der ebenfalls als Übersetzer diente, eine Person aus einem Menschenrechtsverein, sowie einer weiteren aus Bundesrepublik angereisten Person. Unsere Aufgabe bestand darin Stichproben in verschiedenen Wahlzentren zu machen und darauf zu achten, dass die Wahlen zum Beispiel geheim ablaufen. Wir fuhren immer zu den Orten, wo uns HDP Wahlbeobachter Probleme meldeten. Es hieße, wir können bei Verstößen nicht einschreiten, sondern diese nur notieren. Situationsbedingt war ein Einschreiten allerdings zu einem gewissen Maße möglich. Zum Beispiel befanden sich verbotener Weise Polizisten in einem Wahlraum. Wir sagten unserem Übersetzer, er sollte ihnen weitergeben, dass dies nicht erlaubt sei, worauf sie zügig den Raum verließen. Wir sind auch direkt in die Wahlräume reingegangen, nur einmal wurde uns der Eintritt verwehrt. Uns ist sehr häufig aufgefallen, dass oft Begleiter in die Wahlkabinen reingingen. Da die Wahlen geheim sein sollten, ist dies natürlich nicht gestattet. Oft befand sich die Polizei in den Gängen vor dem Wahlräumen und die Wahlkabinen waren teilweise offen. Nach der zweiten Schule fuhren wir in ein Dorf ein paar Kilometer außerhalb von Elazig. Wir bekamen von einem anderen Wahlbeobachter in einem Wahllokal den Hinweis, dass ein Wahlvorsitzender für mehrere Menschen gewählt hat. Angekommen in dem Wahlräumen des Dorfes fiel uns auf, dass der Vorhang viel zu hoch angebracht war. Von allen Seiten konnten Menschen im Raum sehen, welche Partei abgestempelt wird. Der Aufforderung dieses zu begleichen, gingen sie sofort nach. Aufgrund unserer Anmerkung, dass es nicht gestattet ist, für mehrere zu wählen, kam es zu einem lauten Wortgefecht zwischen unserem Begleiter und dem Wahlvorsitzenden. Zu dieser Auseinandersetzung wurde dann noch ein weiterer Anwalt gerufen. Zurück in der Stadt beobachteten wir einen älteren Herrn, der zwar den Weg vom Auto in die Schule schaffte, jedoch kurz vor dem Wahlzimmer auf einer Bank abgesetzt wurde, wo er umzingelt von ca. 10 Menschen seine Stimme abgab.