Das Gerangel um Idlib

Der Journalist Seyit Evran zu den Hintergründen der türkischen Militäroffensive auf die nordsyrische Provinz Idlib, 10.10.2017

Die Rangelei um die nordsyrische Provinz Idlib hat offiziell begonnen. Der Grundstein für die Zukunft der Region wurde bereits im vergangenen Jahr in Moskau bei einer Versammlung russischer Vertreter mit der Türkei und dem Iran gelegt. In den darauffolgenden Astana-Gesprächen wurde das Vorhaben schließlich konkretisiert. Nun sollen diejenigen Gruppen, die gemeinsam mit der Türkei die nordsyrischen Gebiete um Dscharablus und al-Bab besetzt halten, auch die Kontrolle über Idlib erlangen. Mit Teilen der Nusra-Front, die in Idlib stark präsent ist, hat man sich bereits in diesem Sinne geeinigt. Doch einige Teile des syrischen al-Kaida Ablegers haben hingegen angekündigt, dass sie eine türkische Kontrolle über Idlib nicht akzeptieren werden.

Eine Entwicklung, die in Aleppo ihren Anfang nahm

Der Plan, dass Idlib von der Türkei besetzt werden soll, ist eigentlich nicht neu. Seinen Anfang nahm dieses Vorhaben im Prinzip bereits im letzten Jahr mit der Situation in Aleppo. Denn in der lang umkämpften Stadt wurde damals der Beschluss gefasst, dass die von der Türkei unterstützten Gruppen Aleppo verlassen und das Feld den Kräften des syrischen Regimes und Russland überlassen. Der Türkei wurde hierfür eine Gegenleistung versprochen. Diese bestand im Wesentlichen darin, dass ein türkischer Einmarsch im Norden Syriens und damit die Überlassung der Kontrolle über die Städte Dscharablus und al-Bab von russischer Seite geduldet wurde. Somit wurde dem Wunsch Ankaras entsprochen, einen zusammenhängenden Korridor zwischen den Kantonen Kobanê und Afrin zu unterbinden.

Im Rahmen dieses Planes marschierte die Türkei am 26. August in Dscharablus ein. Mit großen Verlusten in den eigenen Reihen und vielen zivilen Toten wurde schließlich auch al-Bab eingenommen. Die Türkei hatte allerdings noch größere Vorstellungen. Nachdem sie diese beiden Städte vom IS übernommen hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Minbic, das von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) kontrolliert wurde. Außerdem stellte man sich auch für die Operation auf die vermeintliche IS-Hauptstadt Rakka zur Verfügung. Doch nach Gesprächen zwischen den Kommandanten der SDF mit russischen und amerikanischen Vertretern wurde dem Vorhaben der Türkei ein Riegel vorgeschoben.

Neue Mission der Türkei: Zusammenpferchen der Dschihadisten in Syrien

Russland und das Regime hatten ihrerseits eigene Pläne mit der Türkei in Syrien. Das AKP-Regime sollte seinen Einfluss auf die dschihadistischen Gruppen, die sie seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien unterstützt hatte, spielen lassen, um die Entwicklungen im Land im Sinne des Machterhalts von Assad zu beeinflussen. Was die Türkei in Aleppo begann, setzte sie später in Homs und Hama fort. Zahlreiche dschihadistische Gruppierungen wurden Schritt für Schritt  mit Einverständnis des Regimes abgezogen und in die von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien umgesiedelt. Angelockt wurden die Islamisten mit der Aussicht auf eine Beteiligung bei vermeintlich geplanten Operationen auf Minbic und Rakka. Doch das russische Interesse galt Idlib, wo die Nusra-Front als einflussreiche Kraft gilt, auch wenn andere islamistische Gruppen wie Ahrar al-Sham ebenfalls versuchen, in der Region Präsenz zu zeigen.

Für die Türkei hingegen entstand mit dem Scheitern der Pläne in Richtung Minbic oder gar Rakka vorzudringen, ein ganz neues Problem. Sie musste nun auf irgendeine Weise eine ganze Bande konkurrierender, mehr oder minder islamistischer Gruppen bei Laune halten. Doch das war ein schwieriges Unterfangen. Es wendeten sich bereits einige Gruppen von der Türkei ab. Manche ergaben sich dem Regime. Andere suchten Zuflucht in der Türkei, was kein minder großes Problem für die AKP darstellt. Um dieser Lage in irgendeiner Weise Herr zu werden und gleichzeitig den Entwicklungen, die sich im Sinne der Föderation Nordsyrien gestalteten, Einhalt zu gebieten, begab sich Ankara im Syrienkonflikt noch stärker in die Abhängigkeit Moskaus. Unter diesen Bedingungen entstanden letztlich die Astana-Gespräche, bei denen Russland, der Iran und die Türkei in einer Dreierkoordination über die Zukunft Syriens verhandeln.

Russland hatte eine klare Zielsetzung mit der Einberufung der Astana-Gespräche: Die dschihadistischen Gruppierungen, die sich seit Jahren im Kampf gegen Assad befinden, sollten zu Terroristen deklariert und aus Syrien verbannt werden. Der Iran hingegen versuchte seinen Einfluss in Syrien zu stärken, indem sie die Türkei auf ihre Seite zog und die Widersprüche Ankaras mit den USA zu vertiefen suchte. Aus diesem Grund wollen weder Russland noch der Iran, dass die Türkei aus Syrien hinausgedrängt wird. Im Gegenteil, mit einem türkischen Einmarsch in Idlib soll Ankara noch tiefer in den „syrischen Sumpf“ hineingezogen werden, um den Interessen seiner Verhandlungspartner in Astana Vorschub zu leisten. Die Türkei hingegen will ebenfalls um jeden Preis ihre Zeit in Syrien verlängern, um gegenüber dem Erstarken der Föderation Nordsyriens nicht bloß als passiver Zuschauer beizuwohnen. Gleichzeitig möchte sie den dschihadistischen Gruppen, die unter ihrer Kontrolle stehen, ein neues Feld eröffnen, auch wenn das letzten Endes bedeutet, dass diese in Idlib zusammengepfercht und durch die Hand Assads und Russlands vernichtet werden sollen.

Ist nach Idlib Afrîn an der Reihe?

Die Türkei wird sich mit Idlib selbstverständlich nicht zufriedengeben, gilt doch ihr Interesse in der Region dem Kanton Afrin. Doch bereits jetzt erfährt die AKP einen harten Gegenwind, und zwar aus den USA. Denn trotz ihrer Mitgliedschaft in der NATO hat man sich in Ankara entschieden, im Syrienkonflikt Schritte mit Russland und dem Iran zu machen. Noch am ersten Tag der Offensive hat die USA die Bearbeitung türkischer Visa-Anträge mit sofortiger Wirkung ausgesetzt. Ländern bei denen die USA bereits die Bearbeitung von Visa-Anträgen ausgesetzt hatte, sind der Iran, Libyen, Syrien, Jemen, Kambodscha und zum Teil Weißrussland. Die von Trump verkündeten neuen Einreisebeschränkungen, die ab dem 18. Oktober gelten sollen, gelten für den Tschad, Nordkorea und Venezuela. Die Türkei wird von den USA nun in dieser Angelegenheit ähnlich behandelt wie die aufgelisteten Länder.

Die USA und Russland sind die beiden Länder, die sich letztlich beim Thema Syrien einigen müssen. Denn es ist im Interesse von beiden Mächten, das Öl aus der Region nach Europa und in andere Länder umzuleiten und hierbei die Türkei zu umgehen. Russland hält daher die Kontrolle über die Küstenstädte Latakia, Tartus und Dschisr asch-Schughur. Diese Städte könnten den Ausgangspunkt für mögliche Öltransporte darstellen. Die Eroberung von Idlib bedeutet bei einem zukünftigen Handel stärker am Verhandlungstisch zu sitzen.

Deshalb lässt Russland, anstatt mit eigenen militärischen Kräften gegen die Nusra Front und andere Gruppen in Idlib zu kämpfen, dies von der Türkei erledigen. Doch es ist noch nicht bekannt, für was für eine Gegenleistung die Türkei dies tut. Nach der Besatzung von Dscharablus und al-Bab war die Türkei auch auf Şehba und Afrin aus. Russland versucht diesen Umstand zugleich dazu auszunutzen, die Kurden unter Druck zu setzen und zu Zugeständnisse zu zwingen. Die “Bedrohung durch die Türkei” für Afrin soll die Kurden dazu führen, ihrerseits Zugeständnisse gegenüber den russischen Forderungen einzugehen. Gehen die Kurden darauf ein, würde Russland die Türkei sicherlich stoppen. Doch da die Kurden sich nicht erpressen lassen wollen, besteht die Möglichkeit eines Angriffs der Türkei auf Afrin. Auch wenn es keine militärischen Angriffe sind, wird die Türkei mit einer Belagerung und Umzingelung ein Embargo gegen Şehba und Afrin aufbauen. Solch eine Situation wäre gleichbedeutend mit Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Regime auf der einen und den Kurden und der Bevölkerung Nordsyriens auf der anderen Seite. Um noch mehr Zugeständnisse zu ergattern wird Russland wohl weiterhin die Türkei als Bedrohung gegen die Bevölkerung in Afrin und Şehba nutzen.

Schwere Auseinandersetzungen in Idlib und Anschläge in der Türkei sind möglich

Eigentlich hatte die Türkei geplant, von Dscharablus und al-Bab aus eine Offensive in Richtung Afrin zu starten. Als dieser Plan nicht aufging, wurden nun die dafür vorgesehenen Truppen entsprechend der Entscheidungen der Astana-Gespräche für die Besatzung von Idlib nach Reyhanlı und Antakya verlegt. Seit vergangenem Monat gibt es zudem Gespräche mit der Nusra Front aus Idlib in den türkischen Städten Antep, Antakya und Ankara. Bei den Treffen wurde versucht, die Nusra Front zu einem Zusammenschluss mit den anderen dschihadistischen Gruppen zu bewegen. Als Alternative wurde dem al-Kaida Ableger die Möglichkeit gegeben, Idlib kampflos zu verlassen. Während Teile der Nusra Front darauf eingingen, haben sich Abu Muhammad al-Dschaulani und weitere führende Kommandanten der Organisation gegen eine türkische Besatzung von Idlib ausgesprochen. Deshalb hat Russland am 3. Oktober Idlib mit Kampfflugzeugen bombardiert. Das russische Verteidigungsministerium verkündete in einer Erklärung, dass bei einem Luftangriff auf eine Sitzung der al-Nusra Anführer in Idlib 12 Kommandanten und 50 Leibwächter getötet worden seien. Al-Dschaulani sei schwer verletzt worden.

Doch die Führungsriege der Nusra-Front weicht weiterhin nicht von ihrer Haltung ab. Diese Situation macht deutlich, dass bei einem Einmarsch der Türkei in Idlib mit schweren Auseinandersetzungen zu rechnen ist. Auch ein großer Teil der Bevölkerung von Idlib ist gegen eine Intervention. Es kann also einen ernsthaften Widerstand gegen die türkische Armee und ihre Gruppen geben. Während in Idlib die türkische Armee also mit Widerstand rechnen muss, könnte al-Nusra auch auf Anschläge innerhalb der Türkei setzen.  Es ist bekannt, dass der Organisierungsgrad der al-Nusra in der Türkei ähnlich stark wie in Syrien ist.

Die Türkei blickt gefährlichen Tagen entgegen. Sie ist in Idlib nun mit einer Organisation konfrontiert, welcher sie zuvor im eigenen Land viel Aktions- und Bewegungsfreiheit zugestanden hat.