Das KCK-System und die demokratische Lösung in Kurdistan

Abdullah Ocalan2Abdullah Öcalan*

Während im Nationalstaat die Mentalität vom Nationalismus geprägt wird, ist das Wesensmerkmal der demokratischen Nation das Freiheits- und Solidaritätsbewusstsein. Für die Kurden hat das zur Folge, dass einer Einigung mit Nationalstaaten die Akzeptanz der Demokratischen Autonomie zugrunde gelegt wird. Sie ist das Mindesterfordernis für das politische Zusammenleben mit Nationalstaaten, deren ethnische Dominanz im Vordergrund steht.

Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) verkörpert in Bezug auf die kurdische Frage das Selbstbestimmungsrecht, das nicht auf einer staatlichen, sondern auf einer demokratischen Deutung beruht. Für die Lösung nationaler Probleme stellt das ein grundlegend neues Konzept dar. Die durch die kapitalistische Moderne verursachten nationalen Probleme wurden immer mit nationalstaatlichen, nationalis­tisch orientierten Lösungsmodellen und Paradigmen zu lösen versucht. Der Nationalstaat an sich wurde als ein wesentlicher Protagonist für die Lösung präsentiert.

Wenn die Sprache auf ein nationales Problem kam, dann drängte sich sofort der Gedanke auf: „Wir sollten auch einen Nationalstaat haben.“ Für beinahe jede Ethnie und jede Nationalität war ein eigener Staat vorgesehen. Ein Konzept, das vor allem von England vorangetrieben wurde, das seinerseits globale Hegemonie anstrebte. Mit diesem Konzept, also der Zersplitterung großer Staaten in kleinere Nationalstaaten, wollte es seine „Teile-und-herrsche-Politik“ umsetzen.
Der Nationalstaat ist hierbei für die Hegemonialmacht das passende Mittel für ihre, auf dem kapitalistischen System basierende, Hegemonie; er ist diejenige Staatsform, mit der Gewinnmaximierung und Industrialismus realisiert werden können. Um die Nationalstaaten besser begreifen zu können, ist es erforderlich, ihre Stellung im hegemonischen System, ihre Verbindung zu Kapitalismus und Industrialismus zu analysieren.
Ein eigener Staat für jede Ethnie, für jede Glaubensgemeinschaft und für jedes Volk – das bedeutet einen Beitrag zur Globalisierung des Kapitalismus, was gleichzusetzen ist mit der zunehmenden Ausbeutung und dem ausufernden Industrialismus (also der ökologischen Zerstörung). Wir haben immer wieder betont, dass der Zerfall des Realsozialismus aufgrund dieses Beitrages zustande kam.
Wir haben versucht zu erklären, dass die PKK (Arbeiterpartei Kurdistan), die anfangs den Realsozialismus als Grundlage für ihre Ideen auffasste, in der nationalen Frage aufgrund dieser Haltung ins Stocken geriet. Wir haben bereits zum Ausdruck gebracht, dass die PKK diesbezüglich durch Selbstkritik Transformationen erfahren hat. In der nationalen Frage bildet der Verzicht auf die nationalstaatliche Lösung die Basis der Wandlung, wobei die demokratische Lösung als Alternative zu gelten hat. Die demokratische Lösung bringt in diesem Sinne die gesellschaftliche Suche nach Demokratie über eine nationalstaatliche Lösung hinaus zum Ausdruck. Der Nationalstaat ist zusammen mit dem Kapitalismus nicht als Lösung für gesellschaftliche Probleme, sondern als Ursache für zunehmende Probleme zu betrachten.

Die Krisen des Kapitalismus sind dauerhaft und strukturell
Dass die nationalen und gesellschaftlichen Missstände dem Nationalstaat zugeschrieben werden, stellt eine despotische Seite der Moderne dar. Wenn die Lösung von Problemen in einem Umstand gesucht wird, aus dem sie erst hervorgehen, dann führt dies nur zu einer Vermehrung der Schwierigkeiten und zu gesellschaftlichem Chaos. Der Kapitalismus ist per se die krisenreichste Ära in der Geschichte der Zivilisation. Und der Nationalstaat stellt in dieser krisenreichen Phase die am weitesten entwickelte Organisierung von Gewalt dar. Die Tendenz zu Gewinnmaximierung und grenzenloser Kapitalakkumulation im kapitalistischen System führt dazu, dass diese Gewalt im Übermaß angewandt wird. Gäbe es die Gewalt­organisation in Form des Nationalstaates nicht, würden die Gesetze der kapitalistischen Akkumulation nicht funktionieren.

In der Phase des globalen Finanzkapitals sind Gesellschaft und Umwelt mit Erscheinungen völliger Auflösung konfrontiert. Die Krisen, die zuerst vorübergehender Natur waren, haben einen permanenten und strukturellen Charakter erhalten. In diesem Zustand hat sich der Nationalstaat selbst zu einem das System hemmenden Hindernis entwickelt. Diese Situation hat sich so weit verschärft, dass sogar der Kapitalismus es sich auf die Tagesordnung gesetzt hat, den Nationalstaat loszuwerden.
Die Herrschaft des Nationalstaates ist nicht nur die Quelle für gesellschaftliche Probleme, sondern auch ein Haupthindernis für deren Lösung. Es ist nicht mit der Natur der Gesellschaft vereinbar, sich dieses System für die Gesellschaft, die Völker und die Arbeiter als ein Mittel für Lösungen vorzustellen, denn dies käme der Verleugnung ihrer eigenen Natur gleich. Für die Lösung nationaler Probleme, die einen bedeutenden Teil der gesellschaftlichen Probleme ausmachen, ist es vor allem angebracht, der Natur der Gesellschaft, der Völker und der Arbeitenden entsprechend das demokratische Modell zugrunde zu legen.

Das demokratische Lösungsmodell ist nicht lediglich eine Option, sondern es ist die hauptsächliche Lösungsmethode. Wenn die Sozialisten und die nationalen Befreiungsbewegungen erfolgreich sein wollen, dann sollten sie zu keinem anderen Mittel zur Lösung als der Demokratie greifen. Das demokratische Modell sollte man sich nicht als eine Umwandlung des Einheits- bzw. Nationalstaates in eine föderale oder konföderale Form vorstellen. Der Nationalstaat in Form einer Föderation oder Konföderation ist nicht das demokratische Lösungsmodell. Es sind andere Formen staatlicher Lösung; und so tragen sie eigentlich nur zum Anwachsen der Probleme bei. Die Transformation des Nationalstaates in föderalistische und konföderalistische Formen im Rahmen des kapitalistischen Systemdenkens kann zu einer partiellen Problemlösung verhelfen, aber eine Lösung, die das Problem an der Wurzel packt, wird ausbleiben.
Die föderalen und konföderalen Formen einer Lösung sind sozusagen als Mittelweg zwischen den Kräften, die eine demokratische Lösung wollen, und denjenigen, die auf einem nationalstaatlich basierten Weg beharren, zu verstehen.
Allerdings sollte, nur weil diese Mittel eingesetzt werden, keine wirkliche Lösung von ihnen erwartet werden, denn das wäre ein Irrtum. Wir wissen auch, dass es ein Irrtum war, auf den Nationalstaat in Form des nationalen Befreiungsstaates oder des (real-)sozialistischen Staates mit linker Maske zu setzen. Dabei hat sich herausgestellt, dass diese Ausprägungen noch anfälliger waren für Diktatur und Faschismus.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass das demokratische Lösungsmodell nicht völlig unabhängig vom Nationalstaat ist. Demokratie und Nationalstaat können als zwei Autoritäten unter demselben politischen Dach eine Rolle spielen. Die Rahmenbedingungen für ihr Handeln werden durch die demokratische Verfassung festgeschrieben.
Die politischen Veränderungen, die sich derzeit in der Welt entwi­ckeln, beruhen auf einer theoretischen und praktischen Überwindung des Nationalstaates. Je autonomer die demokratische Lösung, desto größer ihr Beitrag zur politischen Transformation. Die Veränderung des Nationalstaates in positivem Sinne steht mit der Demokratisierung, mit dem Aufbau der autonomen Verwaltung, demokratischen Nation und lokalen Demokratie und mit dem Entwi­cklungsgrad der demokratischen Kultur in allen gesellschaftlichen Bereichen in engem Zusammenhang.
Die KCK ist der konkrete Ausdruck der demokratischen Lösung für die kurdische Frage. Sie unterscheidet sich von den traditionellen „Lösungsschablonen“. Die Lösung wird nicht in einer Teilhabe am Staat gesehen. Ein föderaler oder konföderaler Staat wird hierdurch weder angestrebt noch als eigene Lösung in Betracht gezogen.
Vom Staat wird eigentlich eingefordert, das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung anzuerkennen und sie nicht daran zu hindern, sich als demokratisch-nationale Gesellschaft zu entfalten. Wenn sich die herrschenden Nationalstaaten nicht nur dem Anschein nach, sondern tatsächlich an die demokratischen Grundsätze halten, dann sollten sie die demokratische Gesellschaft nicht verhindern und verbieten, auch wenn sie sie nicht unterstützen würden. Die demokratische Lösung wird nicht von Staaten oder Regierungen entwickelt.
Die gesellschaftlichen Kräfte tragen eigenständig die Verantwortung für die Lösung. Sie zielen auf eine Einigung mit den Staaten oder Regierungen im Rahmen einer demokratischen Verfassung ab, welche die Kompetenzverteilung zwischen den gesellschaftlichen und den staatlichen Kräften festlegt. Weder die Forderung nach absoluter staatlicher Kompetenz noch nach absoluter Demokratie scheint realistisch. Ein Beharren darauf wäre auch nicht im Sinne einer Lösung.

Der Nationalstaat als Falle, die zu Repression und Ausbeutung führt
Demokratische Lösung heißt grundsätzlich, dass eine demokratische Nation entsteht. Die Gesellschaft nimmt damit das Recht in Anspruch, sich als demokratische Nation zu kons­tituieren. In diesem Sinne scheint es erforderlich, die Nation neu zu definieren. In erster Linie sollte klargestellt werden, dass es nicht nur eine [einzige] Definition der Nation gibt. Wenn die Errichtung durch den Nationalstaat erfolgt, dann heißt die allgemeine Definition Staats-Nation.
Wenn das vereinigende Element die Ökonomie ist, dann ist es durchaus möglich, von Markt-Nation zu sprechen. Wenn aber das Recht vorherrscht, dann ist die Bezeichnung Rechts-Nation angebracht. Außerdem ist es möglich, dieses Faktum als politische und kulturelle Nation zu definieren. Wenn eine Gesellschaft durch ihre Religion vereinigt wird, ist ohnehin die Rede von „millet“ [türk. für „Nation“].
Die Religionsgemeinschaft ist eine Gemeinschaft, die alle Völker vereinigt, die derselben Religion angehören. Demokratische Nation bedeutet jedoch, dass das freie Individuum und freie Gemeinschaften auf der Basis ihres freien Willens gemeinsam eine Gesellschaft bilden. Die vereinende Kraft der demokratischen Nation ist der freie Wille des Individuums und der Gruppierungen, die sich entschließen, derselben Nation anzugehören.
Jene Auffassung, welche die Nation von einer gemeinsamen Kultur, einem gemeinsamem Markt und einer gemeinsamen Geschichte abhängig macht, beschreibt die Staats-Nation, und eine Verallgemeinerung wäre dann nicht zulässig, d.?h. die Auffassung von der einzigen Nation kann nicht verabsolutiert werden. Diese Ansicht über die Nation, die sich der Nationalsozialismus auch zu eigen gemacht hatte, betrifft das Gegenstück zur demokratischen Nation. Diese Version, die vor allem von Stalin für die Sowjetunion entwickelt wurde, hat zum Zerfall der Sowjetunion geführt. Solange dieser von der kapitalistischen Moderne entwickelte Typus der Nation nicht überwunden wird, gerät auch die Lösung der nationalen Probleme ins Stocken.
Nationale Gesellschaften dieser Art, die in die Grenzen des steifen Nationalstaates gezwängt wurden und unter starkem Einfluss der Macht stehen, werden durch die nationalistischen, fundamentalistischen, sexistischen und positivistischen Ideologien betäubt. Für eine Gesellschaft ist das Modell des Nationalstaates eine Falle, was zu Repression und Ausbeutung führt.
Die demokratische Nation verwandelt diese Definition in ihr Gegenteil. Die demokratische Nation in jener Interpretation, die nicht an politischen Grenzen sowie an einer einzigen Sprache, Kultur, Religion und Geschichte festhält, zeichnet sich durch das Zusammenleben einer pluralistischen, freien und gleichberechtigten Bürgerschaft aus. Eine demokratische Nation kann einzig mit diesem Modell verwirklicht werden. Das Modell des Nationalstaates ist hingegen seiner Natur gemäß der Demokratie gegenüber nicht aufgeschlossen.
Der Nationalstaat bezeichnet weder die universelle noch die lokale Wirklichkeit; ganz im Gegenteil wird sowohl das Universelle als auch das Lokale verleugnet. Die Zugehörigkeit zu einer eindimensionalen Gesellschaft bedeutet den Tod des [gesellschaftlichen] Menschen. Im Kontrast zu dieser Realität ermöglicht die demokratische Nation die Neuerrichtung des Universellen und des Lokalen. Alle anderen Definitionen der Nation bewegen sich irgendwo zwischen diesen zwei Polen.

Die gemeinsame Mentalitätswelt und die Kurden
Trotz der großen Bandbreite an Definitionen für die Baupläne der Nation gibt es eine allgemeine Bestimmung, die alle anderen verbindet – jene Veranschaulichung der Verbindung zwischen Nation und Mentalität, Bewusstsein und Glauben. In diesem Fall ist die Nation eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Weltanschauung.
Für den Begriff der Nation sind Sprache, Religion, Markt, Geschichte und politische Grenzen nicht bestimmend, denn sie spielen nur eine physische Rolle. Wenn die Nation über eine gemeinsame Mentalität definiert wird, so verfügt der Begriff über einen dynamischen Charakter.
Während sich der Nationalismus auf die Mentalität im Nationalstaat auswirkt, wird die demokratische Nation durch das Freiheits- und Solidaritätsbewusstsein geprägt. Dennoch bleibt die Definition lückenhaft, wenn nur der Mentalitätszustand als wesentliches Element hervorgehoben wird. Den Körper der nationalistisch orientierten Nationen bildet die Institution des Staates. Aufgrund dessen werden diese Nationen als Staats-Nation bezeichnet. Wenn aber der Schwerpunkt auf die rechtlichen und ökonomischen Institutionen gelegt wird, dann ist zur Differenzierung dieser Nationen wichtig, sie entweder als Markt- oder Recht(s)-Nation zu bezeichnen. Den Körper der mit Freiheits- und Solidaritätsbewusstsein ausgestatteten Nationen bildet die Demokratische Autonomie. Die Demokratische Autonomie bedeutet eigentlich, dass sich Individuen und Gemeinschaften derselben Weltanschauung eigenständig verwalten. Dies kann aber auch als demokratische Führung oder Autorität bezeichnet werden, und diese Beschreibung zeigt vor allem Offenheit gegenüber der Universalität.
Im Lichte dieser Definitionen von Nation steuert die KCK bei der Lösung der kurdischen Nationalfrage die Umsetzung der Demokratischen Autonomie an, indem sie staatsnationalis­tische Annäherungsweisen ablehnt. Gemeinsam mit anderen Nationen, wie z.?B. der türkischen, kann ein übergeordnetes Nationenverständnis geschaffen werden. Die Definition der übergeordneten Nation lässt sich in dem Sinne erweitern, dass viele andere Nationen mit einbezogen werden. Die weltweite Gemeinschaft der Muslime kann als Prototyp dieser Darstellung verstanden werden. Die gesellschaftlichen Kulturen im Mittleren Osten werden mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später durch eine gemeinsame Volks-Nation (erneuerte Form der oben genannten Gemeinschaft) vereinigt werden.
Die Nationenwerdung der Kurden ist im Zusammenhang mit diesen Begriffen in zwei Dimensionen vorstellbar. Die erste ist die mentale Dimension. In diesem Kontext wird die gemeinsame Geisteshaltung bzw. Mentalität angesprochen. Grundlegendes Kriterium ist, dass das auf Vielfalt beruhende gleichberechtigte und freie Weltideal bzw. Projekt in mentaler Hinsicht geteilt wird. Diese Mentalitätswelt kann auch als eine kommunale Welt oder Utopie der freien Individuen bezeichnet werden. Es ist wichtig, jene Haltung durchzusetzen, die Vielfalt nicht ablehnt.
Die zweite Dimension ist der Körper, auf den sich die Welt der Mentalität beziehen wird. Mit Körper ist gemeint, dass die gesellschaftliche Existenz der mentalen Struktur entsprechend neu organisiert wird.

Die physische Dimension und die Demokratische Autonomie
Die mentale Dimension betrifft die Gedanken- und Traumwelt sowie das Solidaritätsgefühl von Individuen und Gemeinschaften, die eine Nationenwerdung anstreben. Um diese mentale Dimension reifen zu lassen, ist wissenschaftlicher, philosophischer und künstlerischer Unterricht zu fördern, und zu diesem Zwecke sollten im ersten Schritt Schulen eröffnet werden. Aufgabe dieser Schulen ist der Unterricht über Mentalität und Psyche zur Nationenwerdung.
Es muss also auch möglich sein, Erklärungen über die wissenschaftliche, philosophische und künstlerische Wahrheit der kurdischen Realität in diesen Schulen frei zu präsentieren und zu lehren. Dafür muss die Forderung nach der absoluten Umsetzung von Gedanken- und Meinungsfreiheit gegenüber den herrschenden Nationalstaaten umgesetzt werden.
Wenn diese mit den Kurden nach denselben Standards leben wollen, dann sollten sie bereit sein, die für die den Aufbau einer nationalen Gesellschaft erforderlichen Normen wie z.?B. die Gedanken- und Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich zu garantieren. Der Weg zur Bildung einer gemeinsamen Nation führt über eine umfassende Bindung an Gedanken- und Meinungsfreiheit.
Die zweite Dimension der Bildung einer demokratischen Nation betrifft die Erneuerung der körperlichen Existenz. Die Grundlage der körperlichen Dimension bildet die Demokratische Autonomie. Sie ist entweder enger oder allgemeiner zu definieren. Die allgemeinere Definition bezeichnet die demokratische Nation. Diese weist vielerlei Dimensionen auf, kultureller, ökonomischer, sozialer, rechtlicher, diplomatischer Natur. Im engeren Sinne drückt die Demokratische Autonomie die politische Dimension aus. Auf dem Wege zur Bildung der demokratischen Nation bedeutet sie ein Problem mit den herrschenden Nationalstaaten. Denn diese lehnen das Modell ab. Solange sie sich nicht gezwungen fühlen, kommt für sie eine Anerkennung nicht in Betracht. Für die Kurden kommt eine Einigung mit den Nationalstaaten nur in Form einer Einigung über die Demokratische Autonomie infrage. Die Demokratische Autonomie ist das Mindesterfordernis für das politische Zusammenleben mit den herrschenden Nationalstaaten.

Das Recht der Kurden auf eine demokratische Nation
Die Lösung der Demokratischen Autonomie kann auf zwei Wegen realisiert werden: Der erste Weg ist eine Einigung mit den Nationalstaaten. Ihren konkreten Ausdruck findet sie in der demokratischen Verfassung. Das historische und gesellschaftliche Erbe der Völker und Kulturen wird respektiert. Die Demokratische Autonomie ist die Norm für diese Rechte.
Die maßgeblichen Bedingungen für diese Grundsätze sind vor allem der Verzicht der herrschenden Nationalstaaten auf jede Verleugnungs- und Vernichtungspolitik und auch das Verwerfen der Idee der Gründung eines eigenen Nationalstaates aufseiten der unterdrückten Nation. Wenn nicht beide Nationen in dieser Hinsicht Abstand nehmen von ihren staatlichen Tendenzen, wird die Umsetzung der Demokratischen Autonomie erschwert.
Die europäischen Staaten sind nach ihrer 300-jährigen Erfahrung zu der Erkenntnis gelangt, dass für die Nationalstaaten zur Lösung regionaler, nationaler und minderheitenrechtlicher Probleme ein Modell demokratischer Autonomie zu akzeptieren ist. Zur Lösung des kurdischen Problems ist der konsequente und sinnvolle Weg die Demokratische Autonomie. Alle anderen Lösungswege außer diesem führen nur zum Aufschub der Probleme und zur Vertiefung der Konflikte. Die Geschichte der nationalen Probleme ist hierbei äußerst lehrreich.
Die europäischen Staaten, die immer eine Herberge nationaler Konflikte waren, haben die letzten 60 Jahre unter anderem auch deshalb in Frieden und Wohlstand verbracht, weil sie die demokratische Autonomie anerkannten und weil sie auch für die regionalen, nationalen und minderheitenrechtlichen Probleme flexible und kreative Positionen entwickelten. In der Türkei war jedoch das Gegenteil der Fall. Die Türkei kann ihren Frieden und Wohlstand erst dann erlangen, wenn alle anderen Kulturen, und im Besonderen die kurdische, durch die Demokratische Autonomie akzeptiert werden.

Der zweite Lösungsweg der Demokratischen Autonomie, der nicht auf einer Einigung mit den Nationalstaaten basiert, führt über die eigenständige Realisierung des Projekts. Im weiteren Sinne heißt das, dass die Dimensionen der Demokratischen Autonomie umgesetzt werden und die Kurden das Recht auf die Bildung einer demokratischen Nation in Anspruch nehmen.
Zweifelsohne werden im letzteren Fall die Konflikte mit den Nationalstaaten zunächst noch weiter eskalieren. Die Kurden werden gegenüber möglichen Angriffen einzelner Staaten und einer Allianz dieser Staaten ihre Position stärken und sich zu verteidigen wissen, um dadurch ihre Existenz zu schützen und frei zu leben. Bis entweder eine Einigung erzielt oder die Unabhängigkeit erreicht wird, werden sie sich im Hinblick auf die Bildung der demokratischen Nation im Rahmen der Selbstverteidigung nicht zurückhalten.

Dieser Text Abdullah Öcalans wurde seiner 537-seitigen Verteidigungsschrift „Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü-Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak“ (Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation – Unter der Bedrohung durch den Genozid die Kurden verteidigen) entnommen, die in türkischer Sprache im März 2012 im Mezopotamya Verlag Neuss erschien.

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