Das schwedische Modell 2.0 in Sachen Kriminalisierung?

Das trilaterale Memorandum, das am 28. Juni 2022 als Ergebnis der von der NATO angeleiteten Verhandlungen zwischen der Türkei, Schweden und Finnland unterzeichnet wurde, sagt unter anderem viel über die Funktionsweise und Struktur der langjährigen Kriminalisierungs­politik gegen das kurdische Volk aus. Im Unterschied zur ersten fand diese zweite Phase der Kriminalisierung, in deren Mittelpunkt Schweden steht, vor den Augen der ganzen Welt statt. Wir wurden alle zu Zuschauer:innen des Feilschens um das Schicksal eines Volkes, das wie ein Verhandlungsgegenstand behandelt wurde.

Der Mord an Olof Palme und seine Folgen

Es ist notwendig, die besondere Rolle Schwedens zu Beginn der Kriminalisierungspolitik gegen das kurdische Volk, in deren Zentrum die PKK steht, zu betonen. Unmittelbar nach der Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme am 28. Februar 1986 wurde die These einer »kurdischen Verwicklung« in dem Mordfall aufgestellt und Ermittlungen gegen Kurd:innen wurden aufgenommen. Infolgedessen gerieten sowohl die in Schweden lebende kurdische Gemeinschaft und alle in der Diaspora lebenden Kurd:innen unter Generalverdacht.

Nicht nur die in Schweden inhaftierten Kurd:innen, sondern auch ihre Verwandten und ihr gesamtes soziales Umfeld erfuhren schwere Ausgrenzungen, Marginalisierung und psychischen Druck. Wie sehr diese Vorgehensweise des Staates die in Schweden lebende kurdische Gemeinschaft traumatisiert hat, ist auch heute noch, trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, in Gesprächen mit den Menschen spürbar.

Die Erklärung der schwedischen Außenministerin, dass es nach dem trilateralen Memorandum keine »Jagd auf Kurd:innen« geben werde, zeigt, dass man sich sehr genau der Folgen des repressiven Vorgehens nach der Ermordung von Olof Palme für die kurdische Gesellschaft bewusst ist.

Am 10. Juni 2020 schloss der schwedische Polizeichef, der die Untersuchung im Mordfall Olof Palme leitete, die Akte mit der Feststellung, dass bei diesem Mord keine »kurdische Spur« gefunden worden sei. Es ist klar, dass die auf diesem Treffen abgegebene Erklärung, die PKK sei eine Organisation, die gegen die Türkei einen Freiheitskampf führe, nicht ausreicht, um den Schaden der seit 34 Jahren andauernden Politik gegen die Kurd:innen ungeschehen zu machen.

Zur Zeit des Mordes an Palme befand sich der kurdische Freiheitskampf noch in seinen Anfängen. Die Anschuldigung, die PKK sei für die Ermordung eines von allen fortschrittlichen Menschen geliebten und respektierten Politikers wie Palme verantwortlich, stieß Entwicklungen an, deren Folgen bis heute zu spüren sind. Seither werden der kurdische Freiheitskampf und die Forderungen des kurdischen Volkes nach demokratischen Rechten kriminalisiert und mit einem Terrorstempel versehen.

Die schwedische Kriminalisierungspolitik

Es scheint, dass der schwedische Staat es vorzieht, den Mord an Palme aus seinem eigenen Gedächtnis zu löschen, indem er ihn in die Abteilung »ungelöste Mordfälle« einordnet. Er vermeidet damit auch die Auseinandersetzung mit dem Schmerz, der der kurdischen Gemeinschaft durch den Umgang mit diesem Mord zugefügt wurde. Er zieht es vor, so zu tun, als ob alles so nicht geschehen wäre und alles bereits vergessen sei. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass Kriminalisierung im wirklichen Leben nicht vergessen wird, sondern kontinuierlich fortbesteht und damit die Kurd:innen immer im Fokus bleiben.

Die schwedische Kriminalisierungspraxis gegen die kurdische Gemeinschaft konzentriert sich auf zwei Bereiche. Der erste Bereich betrifft das Aufenthaltsrecht. Vor kurzem stand der Fall der Kurdin Zozan K. auf der Tagesordnung. Sie ist verheiratet mit einem schwedischen Staatsbürger und Mutter zweier Kinder. Das Aufenthaltsrecht wurde ihr trotzdem verweigert und sie wurde nach Belgien zurückgeschickt. Der ausschlaggebende Grund war die Einstufung als Gefahr für die nationale Sicherheit durch die Sicherheitspolizei, dem nationalen Nachrichtendienst (Säkerhetspolisen, kurz Säpo). Die Gründe für diese Einschätzung wurden nicht genannt, Widerspruch war nicht möglich.

Die schwedische Tageszeitung ETC berichtete, dass mindestens 38 Kurd:innen im Jahr 2021 aufgrund der vagen und zweideutigen Einschätzung der Säpo abgeschoben wurden. Anderen Angaben zufolge hat die Migrationsbehörde im Zeitraum 2015 bis 31. Oktober 2021 992 vergleichbare Fälle an die Säpo weitergeleitet. Aus dieser Statistik ergibt sich, dass in den Jahren 2019 und 2021 die meisten Fälle an die Säpo weitergeleitet wurden.

Nach dem Präzedenzurteil des schwedischen Berufungsgerichts für Migration vom 16. April 2021 kann eine Person, die eine Bedrohung für die Sicherheit darstellt, trotz familiärer Bindungen abgeschoben werden. In einigen Urteilen des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) wurde jedoch festgelegt, dass der Vorwurf vor der Abschiebung konkret formuliert sein muss und nachrichtendienstliche Bewertungen ausreichend Beweise, die einer kritischen Überprüfung standhalten, enthalten müssen.

Ein zweiter Bereich betrifft die Staatsbürgerschaft. Diese Frage gibt sehr aufschlussreiche Einblicke, um Schwedens Haltung gegenüber den Kurd:innen, insbesondere gegenüber Rojava, zu verstehen. In einem Beschluss der schwedischen Regierung vom 4. September 2004 heißt es, dass Personen, die »Organisationen angehören oder sich an ihnen beteiligt haben, welche systematische, weit verbreitete und schwere Verstöße wie Folter, Mord und außergerichtliche Hinrichtungen begangen haben«, erst 25 Jahre nach dem Austritt aus diesen Organisationen schwedische Staatsbürger werden können. Die schwedische Migrationsbehörde hat eine Liste von Organisationen erstellt, deren Mitglieder von dieser Regelung betroffen sind. Darunter sind auch die PYD (Partei der Demokratischen Einheit), die YPG (Volksverteidigungskräfte) und die QSD (Demokratischen Kräfte Syriens).

Obwohl keine Untersuchungsergebnisse bzw. Beschuldigung vorliegen, die beweisen, dass die PYD, die YPG und die QSD diese schweren Verbrechen begangen haben und auch wenn Personen, die die Staatsbürgerschaft beantragen, in keiner dieser Organisationen aktiv waren, wird ihnen die Einbürgerung verweigert. Dies geschieht unter Verzicht auf eine individuelle Prüfung und nur unter Berücksichtigung der Teilnahme an Solidaritätskundgebungen mit Rojava in Schweden. 

Diese Regelung steht im Gegensatz zu einer Rede der schwedischen Außenministerin Ann Linde, in der sie formulierte: »Die QSD sind ein wichtiger Partner der Internationalen Anti-IS-Koalition, der auch Schweden angehört. Die Kräfte der QSD standen im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Kampfes gegen den IS, der noch nicht vorbei ist. Wir haben großen Respekt vor ihren Opfern. Mehr als 11.000 Menschen haben im Kampf gegen die Terrororganisation ihr Leben verloren.«

Einige Quellen führen diese Haltung Schwedens auf die Nähe der betreffenden Organisationen zur PKK und die Tatsache zurück, dass die PKK auf der EU-Terrorliste steht. Doch erscheint es zutreffender, diese Haltung als eine aktualisierte Version der »Jagd auf die Kurd:innen« zu betrachten, die nach der Ermordung von Palme begann und seither ununterbrochen fortgesetzt wurde.

Schweden 2.0

Vor diesem Hintergrund können wir mit Blick auf das trilaterale Memorandum vom 28. Juni 2022 feststellen, dass vor allem Schweden seine Kriminalisierungspraxis weiter verstärken wird.

Die Behauptung der schwedischen Vertreter:innen nach Unterzeichnung dieses Memorandums, sie hätten dem Druck von R. T. Erdoğan nicht nachgegeben und keine Kompromisse in Bezug auf die Demokratie gemacht, ist unehrlich. Auch Kommentare, die die Haltung vertreten, dass dieses Memorandum in der Praxis nichts ändern werde und die türkische Regierung ihre Ziele nicht erreicht habe, sind Selbstbetrug.

Es ist unbestritten, dass in der Türkei ein autoritäres Regime herrscht im Sinne einer »Ein-Mann-Diktatur«. Zutreffender ist die Formulierung, dass die Türkei zurzeit eine faschistische und völkermörderische Politik betreibt. Von diesem Regime gehen Krieg, Gewalt und Aggression aus. Es breitet sich von Syrien über Libyen und Armenien bis in den Irak aus.

Dasselbe Regime bedrohte europäische Länder mit dem IS, woraufhin es zu blutigen Anschlägen in Europa kam, die erst endeten, als der IS unter großen Opfern von den Kurd:innen besiegt wurde. Wir sollten nicht vergessen, dass Schweden mit einem Regime verhandelt hat, das die Entscheidungen des EMRK und anderer internationaler Gerichte nicht anerkennt und das Fehlen von Recht und Gerechtigkeit im eigenen Land leugnet.

Das wahre Gesicht dieses Regimes zeigt sich jedoch anhand seiner völkermöderischen Vernichtungspolitik gegen die Kurd:innen. Die Zerstörung dutzender kurdischer Städte in Nordkurdistan in den Jahren 2015 bis 2016, die Verbrennung von mehr als 200 jungen Menschen in Kellern dieser Städte, die Unterstützung des IS und anderer salafistischen Kräfte in ihrem Kampf gegen die Kurd:innen in Rojava, die Besetzung von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî, die ethnischen Säuberungen in diesen Gebieten, die schrittweise militärische und politische Besetzung Südkurdistans, die gezielten Angriffe gegen Mexmûr und Şengal und die täglichen Drohnenangriffe auf die kurdische Gesellschaft sind Elemente dieser Vernichtungspolitik. Es ist klar, dass das Hauptziel des türkischen Staates darin besteht, die Kurd:innen zu vertreiben und auszulöschen, wo immer sie sich aufhalten.

Diese oben beschriebene Politik ist unübersehbar, während man mit diesem Regime verhandelt und schamlos sagt, »wir teilen die Sorgen der Türkei«. Durch diese Haltung wird man zum Partner der türkischen Völkermordpolitik. Was als »Sorgen der Türkei« bezeichnet wird, ist nichts anderes als die praktische Umsetzung der von Erdoğan in der UN-Vollversammlung gezeigten Karte des geplanten Völkermords. Infolge dieser so genannten »gemeinsamen Sorgen« ist Efrîn zu einem Ort geworden, an dem sich IS-Führer aufhalten. In den Berichten der UN-Sonderkommission für Syrien kann man die schrecklichen Morde, ethnischen Säuberungen, Vergewaltigungen, Entführungen, Lösegelderpressungen, Plünderungen religiöser Stätten und Gräber, die Zerstörung von Olivenbäumen, Beschlagnahmungen usw. in Efrîn nachlesen. Dieser Politik wird nicht widersprochen, und es wird grünes Licht für die Besetzung neuer Gebiete gegeben, indem man auf die angeblichen Sicherheitsbedenken der Türkei verweist.

Auf Grundlage des Memorandums soll nun das kurdische Volk vor den Augen der Weltöffentlichkeit unter Verweis auf PKK, PYD und YPG einer der brutalsten Mächte der Gegenwart ausgeliefert werden. Inwieweit dies der Türkei gelingen wird, ist eine andere Frage, aber mit diesem Memorandum möchte man den legitimen Kampf des kurdischen Volkes delegitimieren. Die Kriminalisierung zielt bereits auf dieses Ziel ab. Darüber hinaus wurde der Weg für eine noch brutalere Verfolgung des kurdischen Volkes geebnet.

Die illegitime Kriminalisierung von Kurd:innen ist unrechtmäßig

Es ist für Schweden und Finnland moralisch und politisch inakzeptabel, mit dem unrechtmäßigsten und brutalsten Regime der heutigen Welt über die Existenz des kurdischen Volkes zu verhandeln. Dieser Prozess zeigt uns jedoch, dass die Politik Schwedens und anderer Länder in Bezug auf den Kampf des kurdischen Volkes für seine demokratischen Rechte nicht legal, gerecht und legitim ist. Diese Politik erfolgt vielmehr im Rahmen eines Kriminalisierungs- und Terrordiskurses. Es ist offensichtlich, dass die im Zuge des Memorandums vom 28. Juni umgesetzte schmutzige Politik unter dem Deckmantel des Terrorvorwurfs gegen die Kurd:innen nicht akzeptiert werden kann. Dies gilt auch für die völlig illegitimen politischen Abkommen, die in der Vergangenheit auf ähnliche Art und Weise geschlossen wurden.

Wir wissen nicht, welche Kräfte und Entwicklungen dazu beigetragen haben, die Ermordung von Palme einem Volk anzulasten, das aktuell am stärksten seiner Rechte beraubt wird. Wir wissen auch nicht im Detail, wer genau für die Entscheidung verantwortlich ist, diesem Volk den Mord an Palme zur Last zur legen und auf diesem Vorwurf 34 Jahre lang zu bestehen. Doch ein Blick in die jüngere Vergangenheit schürt den Verdacht, dass diese Entwicklungen von der NATO vorangetrieben wurden.

Wir können davon ausgehen, dass in anderen Ländern, die die PKK auf ihre Terrorliste gesetzt haben, ähnliche Prozesse ablaufen. So besuchte Erdoğan zum Beispiel Australien erstmals am 6. Dezember 2005. Und Australien setzte die PKK daraufhin am 17. Dezember 2005 auf seine Terrorliste. Ähnlich war es in Neuseeland. Warum hat dieses Land, in dem nur sehr wenige Kurd:innen leben, die PKK am 10. Februar 2010 auf seine Terrorliste gesetzt?

Europol stellt 2021 in einem Bericht fest, dass die PKK in Europa keine Gewalttaten begangen habe. In ihren früheren Berichten finden sich ähnliche Aussagen. In seiner Bewertung der terroristischen Bedrohung im Jahr 2017 kam das NCT (National Centre for Terrorist Threat Assessment), das alle schwedischen Nachrichtendienste umfasst, zu dem Schluss, dass die PKK nicht beabsichtige, in Schweden Gewalttaten zu begehen, die als Terroranschläge eingestuft werden könnten. Diese Einschätzung hat sich bis zum heutigen Tag gehalten. In der Begründung Australiens für die Aufnahme der PKK in die Terrorliste findet sich ebenso die Aussage, dass die PKK keine Bedrohung für die australische Bevölkerung darstelle. Nur unter Missachtung aller logischen und rechtlichen Abwägungen konnte die australische Regierung zu der Einschätzung gelangen, dass australische Staatsbürer:innen, die Urlaub in der Türkei machen, potentiell der Gefahr von Angriffen ausgesetzt seien.

Das Gleiche gilt für Neuseeland. Warum wird die PKK immer wieder im Zusammenhang des »terroristischen Diskurses« adressiert, wenn doch klar ist, dass sie keine Gewalttaten begangen hat und keine Bedrohung darstellt, sowohl in den Ländern, die die EU-Terrorliste gebilligt haben, als auch in den Ländern, die ihre eigene Liste haben?

Das trilaterale Memorandum kann uns eine aktuelle Antwort auf diese Fragen geben. Denn der Druck der NATO und die unmoralischen Verhandlungen mit der Türkei sind die wahren Gründe dafür. In diesem Zusammenhang haben weder juristische Argumente noch Gesetze und Vorschriften, die sich auf den »Terrorismus-Diskurs« konzentrieren, einen wirklichen Wert. Die Tatsache, dass das Verbot in Deutschland trotz wechselnder Regierungen seit 1993 wie eine verfassungsmäßige Verpflichtung aufrechterhalten wird, ist ein Beweis dafür, dass ein rechtlicher und objektiver Diskurs und daraus folgende Maßnahme als nicht notwendig betrachtet werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die gesamte fortschrittliche Öffentlichkeit beobachten und dokumentieren muss, welche Folgen die neue schwedische 2.0 Version der Kriminalisierungspolitik haben wird. Inwieweit dieses Memorandum die Gewalt gegen die Kurd:innen verstärken und ausweiten wird, sollte ebenfalls in diesen Beobachtungsprozess einbezogen werden. Denn im Gegenzug für die Zustimmung der Türkei zur NATO-Mitgliedschaft geben Schweden und Finnland dem Land grünes Licht für jedwede Art von Angriffen gegen die Kurd:innen, insbesondere für Angriffe gegen Rojava.

Nach der erfolgten Verabschiedung des Memorandums stehen wir nun vor der Aufgabe, die Verbotspraxis gegen die PKK und die daraus abgeleitete Kriminalisierung als Ergebnis schmutziger Verhandlungen zu entlarven und ihnen entgegenzutreten. Grundlegend wichtig ist es, Verbot und Kriminalisierung nicht als einen neuen Kampfbereich zu verstehen, sondern sie zum Hauptthema des kurdischen Volkes und der internationalistischen Solidarität mit dem kurdischen Volk zu machen und die laufenden Kämpfe in dieser Richtung zu verstärken.

Mahmut Şakar ist Vorstandsmitglied des Kölner Vereins für Demokratie und internationales Recht (MAF-DAD e.V.) und ehemaliger Verteidiger von Abdullah Öcalan.


 Ausd dem Kurdistan Report 223 | September/Oktober 2022

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