Das Tauziehen um Idlib

Der Journalist Fehim Taştekin über die regionalen Hintergründe der Kämpfe in Idlib, 04.08.2018

Im Vergleich zu den verschiedenen Fronten in Syrien ist das Gebiet um Idlib Kandidat für einen großen Krieg. Was unterscheidet Idlib von den zuletzt gefallenen Fronten wie Ost-Ghuta, Daraa und Kuneitra?

Es gab es für die Gruppen, die ihre Waffen nicht niederzulegen wollten, eine alternative Front um ihren Krieg und ihre Sache fortzusetzten. Idlib war die Flucht zur nächsten Front. Zehntausende bewaffnete Kämpfer wurden zusammen mit ihren Familien nach Idlib gebracht. Deshalb ist Idlib der Schlussstrich des blutigen Marathons. Es gibt keine andere Front mehr zu der man gehen könnte. Der Osten des Euphrats, der unter Kontrolle der Kurden und ihrer Verbündeter steht, ist aufgrund des gegenwärtigen Fokus auf „Verhandlungen“ nicht in diese Bewertung mit inbegriffen. Der Osten des Euphrat ist sowieso für die Kriegsherren in Idlib geschlossen. Darüber hinaus schlagen die Kurden der syrischen Armee vor gemeinsam gegen Idlib vorzurücken.

Der zweite Punkt, der Idlib schwierig macht, ist, dass es vollgestopft ist mit Organisationen, die die Aufgabe der schweren Waffen und die Kompromisse wie in Daraa und Kuneitra als „Verrat“ bewerten.

Drittens sind die Haiʾat Tahrir asch-Scham und ihre Verbündeten, die einen bedeutenden Teil von Idlib beherrschen, in der Terrorliste aufgelistet. Man kann mit ihnen also keine Abkommen schließen.

Viertens konzentrieren sich hier auch die ausländischen Kämpfer. Sie sind nicht Teil irgendeines politischen Prozesses. Tschetschenen, Uiguren, Usbeken und Dschihadisten aus dem Mittleren Osten, Nordafrika, den arabischen Ländern, Europa und natürlich aus der Türkei. Diese Krieger, ausgezeichnet in der Rhetorik des globalen Dschihad als Muhadschir, werden entweder bis zum Ende kämpfen, oder in die Türkei „verschwinden“. Der fünfte Faktor ist die Position des Nachbarlandes, das die Front nährt. Die Haltung der Türkei in der Position als „Pufferland“ und „logistischer Linie“ ist für das Schicksal von Idlib von kritischer Bedeutung.

Die Fronten in Daraa und Kuneitra wurden von Jordanien und Israel aus unterstützt. Die erste gefallene Front im Gebiet Kalamun hingegen vom Libanon aus. Im Libanon wurde durch das gemeinsame Agieren der Armee mit der Hisbollah die Grenzregion von der al-Nusra-Fronz und dem IS befreit und der grenzüberschreitende logistische Fluss abgeschnitten. Der entscheidende Faktor in Daraa war das Umdenken der Akteure in Amman. Die USA hat den bewaffneten Gruppen in Daraa offen die Botschaft gegeben, dass sie ihre Unterstützung einstellt und sie nun auf sich selbst gestellt sind. Israel ist ebenfalls nach der Zusicherung von Russland, den Iran und die Hisbollah von ihrer Grenze fernzuhalten, davon abgekehrt die an den Golan-Höhen befindlichen bewaffneten Gruppen als Schutzschilde für sich zu nutzen und dafür zu schützen. In Idlib sind nun die Augen auf die Türkei gerichtet. Der Weg Ankaras, wird den Kurs der Lösung bestimmen.

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Die Option des Krieges hat für die Türkei grob formuliert drei Bedeutungen: eine Flüchtlingswelle, der Andrang der bewaffneten Gruppen in die Türkei und das Ende des Traums von Ankara, dass einen Teil der Zukunft Syriens mitgestalten möchte. Der Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan versucht gegen solch einen Krieg sein Gewicht in die Waage zu legen.

Das Telefongespräch zwischen Erdoğan und dem russischen Präsidenten Putin soll sich um Warnungen und alternative Vorschläge gedreht haben. Beim Zusammentreffen beider in Südafrika wurde ebenfalls kein Mittelweg gefunden. Das Thema wurde am 31. Juli in Sotschi beim Treffen der sogenannten Garantiemächte diskutiert. Auch wenn von gewissen Annäherungen gesprochen wird, gab es keine Vereinbarung in Sotschi. Es wird wohl Ende August am Dreier-Gipfel in Teheran zu konkreten Beschlüssen kommen.

Der Syrien-Beauftragten des russischen Präsidenten, Alexander Lawrentiew hat nach dem Treffen in Sotschi erklärt: „Es gibt keine große Operation gegen Idlib. Wir erwarten, dass die gemäßigte Opposition und unsere türkischen Verbündeten ihrer Verantwortung die Stabilität in dem Gebiet zu sichern gerecht werden. Die Gefahr aus dem Gebiet ist immer noch groß.“ Es wird also immer noch auf das Ende der von der Türkei übernommen Aufgabe gewartet. Baschar al-Dschafari, UN-Botschafter von Syrien, erklärte hingegen, dass sie im Falle das Verhandlungen nichts nützen, Gewalt einsetzten werden: „Es gibt kein Zugeständnis oder Mittelweg für die vollständige Kontrolle der Regierung über syrischen Boden“.

Ahmet Tuma, Vertreter einer oppositionellen Delegation, rief dazu auf den Plan der „Deeskalationszonen“ zu „Zonen der Waffenruhe“ umzuwandeln.

al-Dschafaris Vorstoß ist auf das Endziel gerichtet, die des russischen Vertreters hingegen ist auf die Roadmap fokussiert, die zu diesem Ziel führen soll.

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Auch wenn Russland seinen Handel mit der Türkei fortsetzt, wird es wohl aber eine begrenzte Operation nicht verschieben um die Angriffe auf den Militärflugplatz Hmeimim zu beenden. Von Idlib aus werden Angriffe durch unbemannte Drohnen auf den Militärflugplatz Hmeimim gesteuert. Zudem haben Ansar al-Islam und die dschihadistische Gruppe Fursan el İman am 9. Juli die syrische Armee am Turkmenen-Gebirge angegriffen und dabei 25 Soldaten getötet. Diese Angriffe erhöhen den Druck auf die Türkei. Die Türkei und Russland können sich um einen Mittelweg bemühen so viel sie wollen, es gibt jedoch vor Ort konkrete Entwicklungen. Während die syrische Armee mit Unterstützung Russlands von Abu z-Zuhur aus einen Korridor für die Evakuierung der Zivilisten in Idlib nach Aleppo öffnet, ist sie gleichzeitig auch dabei eine Operation von Latakia und Hama zu starten um Idlib einzuengen. Die Stadt Dschisr asch-Schughur wird bei dieser Operation in Reichweite des Feuers sein. Während es immer heißer im südlichen Bogen um Idlib wird, wird Russland von der Türkei erwarten die bewaffnete Gruppe ohne Gefechte dem Regime auszuliefern. Wenn nicht wird es eine „großangelegte Operation“ geben.

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Was schlägt nun Ankara vor um die Operation abzublasen? Dem Bericht der Zeitung Asharq Al-Awsat vom 26. Juli zufolge, hat die Türkei Russland eine Roadmap mit folgenden Punkten vorgelegt:

  • Alle oppositionellen Gruppen sollen unter der Schirmherrschaft der Türkei zusammenkommen und eine Konferenz abhalten.
  • Diese Gruppen sollen der von der Türkei im „Schutzschild Euphrat“-Gebiet aufgebauten Syrischen Nationalen Armee beitreten.
  • Darauf soll die Übergabe aller schweren Waffen an die türkische Armee folgen.
  • In der Deeskalationszone soll für die alltäglichen Funktionen und den öffentlichen Dienstleistungen eine einheitliche Zivilverwaltung gegründet werden.
  • Der Weg zu Aleppo und Damaskus (Autobahn M5), wo sich die Wege der Oppositionellen kreuzen, soll unter türkisch-russischer Schirmherrschaft geöffnet werden.

Russland möchte nicht, dass der Astana-Prozess zusammenbricht, bevor das endgültige Ziel erreicht ist. Deswegen könnte Russland diese Vorschläge als eine Zwischenformel bewerten und der Türkei die Chance geben ihr Glück zu versuchen.

Falls Ankara auf diese Weise erfolgreich sein sollte, wird Russland folgendes erklären: „Die Zeit für deinen Rückzug und die Übergabe an die syrische Armee ist gekommen.“ Alexander Lawrentiew hat es sanft ausgedrückt: „Wenn wir von den Gebieten zu sprechen kommen, die die türkische Armee kontrollieren, ist dies ein sehr großes Gebiet zwischen Azaz und Jerablus. Wenn sich die Türkei in Idlib befindet, hat sie bestimmte Verantwortungen übernommen um die Ordnung zu gewährlisten. Wenn die Bedingungen für ein sicheres Leben der Zivilisten gegeben sind, werden wir auf den Rückzug der türkischen Soldaten beharren.“

Wie so oft wiederholt sind die türkischen Bedingungen für einen Rückzug im Großen und Ganzen klar. Die Kurden sollen keinen Status bekommen; keiner der drei Garantiemächte von Astana soll bezüglich der PYD und YPG einen Schritt tun ohne die Türkei zu informieren; Ankara soll Mitsprecher der Zukunft Syriens sein und die Türkei soll bei den Wiederaufbauarbeiten ihren Anteil bekommen. Der Vorschlag an Russland kann als die Bestrebung der Türkei bewertet werden, den bewaffneten Widerstand in Idlib als Hebel für die eigenen Interessen zu nutzen. Dies würde aber auch gleichbedeutend damit sein, dass die Türkei die Verantwortung den Aufstand zu pazifizieren übernimmt. Die Türkei agiert mit einem aufgeblasenen Selbstvertrauen, als ob die Loyalität der bewaffneten Gruppen, die der dschihadistischen Elemente miteingeschlossen, sicher wäre. Doch diejenigen die die Natur dieser Organisationen kennen, wissen dass dem nicht so ist. Ein Teil dieser Organisationen, besteht auch wenn sie der Türkei dankbar sind, aus Menschen die ihrer eigenen Sache verpflichtet sind.

Das erste, was sie angesichts einer größeren Offensive tun werden, ist, sich zum Kampf vereinen. Falls es stimmt, gründet die Haiʾat Tahrir asch-Scham mit ihren Erzfeinden Ahrar al-Scham, Nureddin al-Sinki, Sukur al-Scham und Feylak al-Scham eine gemeinsame Front. Ahrar al-Scham und Nureddin al-Sinki haben vor kurzem die Befreiungsfront Syriens gegründet.

Der russische Generalmajor Aleksey Tsıgankov erklärte im Gespräch mit der russischen Nachrichtenagentur TASS, dass diese Organisationen sich auf die Gründung eines gemeinsamen Kommandozentrums geeinigt hätten. Das oppositionelle Radio Idlib erklärte, dass sich der Operation auch die Islamische Turkestan-Partei (TİP) und Huras el Din anschließen. Die Islamische Turkestan-Partei ist eine Organisation, die an die Taliban und al Qaida gebunden ist. Die im Februar hervortretende Huras el Din hingegen wurde von al Qaida nahestehenden Zellen wie Ceyş el Melahim, Ceyş el Badiye, Ceyş el Sahil, Saraya el Sahil und Cund el Aksa gegründet, die die al-Nusra- Front und Haiʾat Tahrir asch-Scham als nicht genügend kompromisslos betrachten.

Das bedeutet, dass sich die zerstrittenen Zusammenhänge der al Qaida mit den ehemaligen al Qaida-Anhängern, den salafistischen Dschihadistischen und den westlichen „Gemäßigten“ vom Neuen zusammenschließen. Im gewissen Sinne entsteht die zweite Version der Dschaisch al-Fatah, die 2015 von der Türkei gegründet wurde, um Aleppo zu erobern.

Die Türkei könnte auf das nahende „schlechte Ende“ hinweisen und einige der Organisationen in die Syrische Nationale Armee aufnehmen. Doch der Plan die al Qaida und ihre anderen Varianten zusammenzubringen und gefechtslos dem Regime zu überlassen kann auch fehlschlagen. Das ist ein Vorstoß ohne Garantie auf Erfolg. Es gibt viele Beispiele für diejenigen, die eine Einigung als „Beleidigung“ auffassen und ihre Waffen auf die ursprünglichen Besitzer richten.

Heute verschanzt die Türkei ihre Soldaten in den Betonblocks der 12 Beobachterpunkte. Eine Vorbereitung für den kommenden Sturm. Aber gegen wen? Um den Sturm auf Idlib zu verhindern? Oder sich vor den Gefahren die von Organisationen ausgehen, die bislang unter eigener Schirmherrschaft standen, zu schützen? Während Russland seit 2015 das Spiel in Syrien entwirft, sticht die Türkei mehr mit Übertreibungen hervor. Mit solchen Taktiken können sie das Spiel noch etwas in die Länge ziehen. Die Tatsache, dass die Parteien den Verhandlungen noch Zeit geben, ändert nichts an der Tatsache, dass der Countdown für Idlib begonnen hat.

Im Original erschien der Artikel am 02.08.2018 unter dem Titel “ Savaşların anası ve nevzuhur İttihatçıların çaresizliği” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.