Das wahre Ziel der Türkei auf dem Weg nach Idlib: die Kurden

Syrienexperte Fehim Tastekin bewertet die Hintergründe der Mobilmachung der türkischen Armee in Nordsyrien und die Gefahr eines Angriffs auf den Kanton Afrin, 30.06.2017

Angeblich beendete die Türkei die Operation Euphrat-Schild, also ihre militärische Mission in Nordsyrien, am 29. März. Statt jedoch ihre Truppen zurückzuziehen, erweiterte Ankara sogar seine militärischen Aktivitäten zwischen Azaz und Al-Bab. Es wird immer deutlicher, dass die Türkei einen neuen Plan für die Region hat.

Letzte Woche überquerten Konvois, mit hauptsächlich Panzern, Artillerie und bewaffneten Fahrzeugen die Grenze zwischen der Türkei und Syrien über Kilis und stationierten in Azaz, Marea und Tel Rifaat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Verstärkungs-Aktivitäten weitergehen. Die türkischen Streitkräfte (TSK) haben während der Operation Euphrat-Schild bereits Basen in Marea, Tuwais, Kel Jibril und Dabrik aufgebaut.

Zunächst will die Türkei ihre eigenen Truppen in den „Zonen der Deeskalation“, die während den Friedensgesprächen in Astana etabliert wurden, stationieren. Zweitens will die Türkei, und das ist viel wichtiger, einen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz der rivalisierten Gruppen westlich des Euphrat gewinnen. Zwischen den Vereinigten Staaten und den Kurden auf der einen Seite und Russland, Iran und der Syrischen Armee auf der anderen Seite, versucht die Türkei ihr Hauptinteresse in Syrien verwirklicht sehen. Und das ist, den Korridor, der von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) freigekämpft wurde, aufzubrechen. Ankara sieht diesen Landstreifen als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der Türkei an.

Offiziellen Stellungnahmen aus der Türkei zufolge, ist eine Operation im Gange, um Idlib zu den Gebieten hinzuzufügen, die unter der Kontrolle der Türkei sind. Zurzeit ist Idlib zwischen Ahrar al-Sham und Hayyat Tahrir al-Sham aufgeteilt. Obwohl beide salafistisch-militanten Gruppen den Sturz von Präsident Bashar al-Assad zum Ziel haben, sind sie zugleich Gegner.

Informationen zufolge, die durch offizielle Quellen aus Ankara an Nachrichtenmedien durchgesickert sind, wird die türkische Armee Syrien von drei Standorten aus erreichen, um die Kontrolle über ein Gebiet von 35 bis 85 Kilometern (21 bis 52 Meilen) erlangen. Dieser Korridor würde in Daret Izza beginnen und sich über Obin und Khirbet al-Joz ziehen. Ein weiterer Landstreifen, der sich von der Grenze Hatays bis über 35 km nach Sahl al-Ghab zieht, würde auch von der TSK kontrolliert werden. In dieser Sicherheits-Konstellation rund um Idlib würde auch die Freie Syrische Armee (FSA), Partner der Türkei eine Rolle spielen. Bis jetzt wurden 2000 FSA-Soldaten in Alarmbereitschaft versetzt.

Türkischen Medienberichten zufolge bereite die Türkei zugleich aber auch vor, mit zwei Truppenkompanien im Westen Mareas und im Osten Tel Rifaats die Isolierung Afrins somit vollkommen zu gewährleisten.

Die Türkei behauptete eigentlich, dass sie ihre Truppen an die Azaz-Marea Linie verlegen würden, um so Angriffe im türkisch kontrollierten Nordsyrien durch die von der YPG und ihren Alliierten kontrollierten Gebiete zu vermeiden. Türkische Medien behaupteten, dass mobile Raketenflugkörper, Mörsergranaten und 23mm Flugabwehrwaffen aus den von der YPG gehaltenen Basen Menagh und Horbul in Richtung der Gebiete, die von der TSK gehalten werden, geschossen und somit eine Alarmwarnstufe für die türkischen und die FSA-Kräfte ausgerufen wurden.

Ein YPG Kommandeur berichtete Al-Monitor anonym, dass „von der Türkei kontrollierte Gruppen angefangen haben, sich gegenseitig im Westen des Euphrat zu bekämpfen. Die Lösung der Türkei war es, sie gemeinsam gegen die Kurden anzustacheln. In den letzten Tagen haben die türkischen Streitkräfte und die von ihr kontrollierten Gruppen ihre Angriffe gegen Tel Rifaat und Afrin enorm verstärkt. Die YPG hat diese Angriffe beantwortet.”

In der Zwischenzeit berichten kurdische Medien davon, dass die Vereinigten Staaten ein syrisches Kampfflugzeug abgeschossen haben, um so die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) in Tabqa zu schützen, weswegen Russland im Gegenzug die gemeinsamen Operationen der Türkei und der syrischen Armeen gegen Tel Rifaat und Afrin ignorieren würde.

Während verschiedene Mutmaßungen weitergehen, trat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kürzlich, nachdem er bereits eine Weile nicht zu Syrien Stellung bezog, mit einem Statement gegen die dortigen Kurden an die Öffentlichkeit. „Die PYD und die YPG versuchen etwas zu erreichen. Sie sollten wissen, dass egal wer hinter ihnen steht, die Türkei niemals die Errichtung eines [Kurdischen] Staates in Nordsyrien akzeptieren wird”, sagte er. Die Vereinigten Staaten haben die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) unterstützt, von der die Türkei sagt, sie sei der syrische Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Türkei sieht die PKK als eine Terrororganisation an.

Die türkischen Armee-Stationierungen in den Dörfern Dodian, Kere Mazraat und Shava rund um das Azaz Gebiet legt nahe, dass Afrin hier ins Visier genommen wird. Aber Afrin, wo die PKK seit den 1990er Jahren aktiv ist, hat bislang all die Angriffe derer vereitelt, die von der Türkei mit Waffen unterstützt wurden.

Die Entwicklungen am Boden deuten auf eine Operation hin, die wesentlich komplexer und weitergehender als nur auf Idlib bezogen sein wird. Die Türkei will nun also, nachdem sie die kurdischen Korridore von Kobani und Manbij nach Afrin abkappte, ihre halb-erfolgreiche Operation Euphrat-Schild vervollständigen, indem sie Idlib zu ihrem nächsten Ziel ernennt. Nachdem sie al-Bab im Februar zurückeroberte, wandte sich die türkische Armee Manbij zu, doch diese Operation wurde von den Vereinigten Staaten unterbunden, indem sie ihre Flaggen in der Stadt hissten. Wenn die Türkei sich als nächstes auf Afrin konzentriert, werden die Russen eine kleine Militärmission versenden, die vermeintlich den Waffenstillstand gewährleisten sollen. Die Kurden sind sich nicht sicher, inwiefern sie russischer und amerikanischer Verteidigung Glauben schenken können.

In der letzten Zeit hatte die Türkei es etwas einfacher, da es Entwicklungen gab, die zu Spekulationen darüber führten, ob Russland nun versucht die Kurden in die Schranken zu weisen, indem sie der Türkei grünes Licht in Tel Rifaat und Afrin geben. Diese Entwicklungen beinhalteten: das Übertreten der SDF in Nordsyrien westlich des Euphrat und die Einnahme der Stadt Tabqa, um dort Truppen zu stationieren; Der Versuch der SDF die syrische Armee davon abzuhalten, Rakka und Deir ez-Zor zu erreichen; und die Spannungen, die auf den Abschuss eines syrischen Flugzeugs durch die Vereinigten Staaten folgten. Die Kurden sind davon überzeugt, dass die syrische Armee auf Geheiß Russlands mit der Türkei bei dieser Operation kooperiert. Aber es gibt keine wirklichen Beweise dafür, dass die Russen und die syrische Armee die Kurden unterdrücken wollen. Im Gegenteil, das Gefühl in Damaskus ist, dass Russland und Syrien eher die Kurden als Partner behalten würden.

 

Im Original ist die Analyse am 26.06.2017 unter dem Titel “Turkey’s real target on way to Idlib: Kurds” bei al-Monitor erschienen.