Das Wesen des Lebens voller Bedeutung: JINWAR

Sozdar Dersim über das Dorf der freien Frauen; für den Kurdistan Report September/Oktober 2017

In der Nähe des Ortes Dirbêsiyê (Al-Darbasi­yah), der zum Kanton Cizîrê in Rojava gehört, wurden die Arbeiten für den Bau eines Frauendorfes auf ökologischer Basis aufgenommen. Das Dorf bzw. das Projekt trägt den Namen »Jinwar«. Wir wollten mit dem Komitee, das für Bau und Etablierung zuständig ist, über die wirtschaftliche, soziale, politische Organisierungsform und den letzten Stand des Projekts sprechen. Dazu befragten wir Heval Rûmet. Heval Rûmet schilderte uns, dass das Projekt nicht nur auf Jinwar begrenzt sein, sondern das frauengerechte Leben überall zu seinem Ursprung zurückfinden solle.

Zuallererst, können Sie uns den Inhalt dieses Projekts etwas genauer erläutern und schildern, aus welcher Diskussion es entstanden ist?

Bekanntlich kämpft die Revolution in Rojava immer noch für das Gleichgewicht zwischen der Frau, der Gesellschaft und dem Leben. Außerdem dafür, dass jegliches Leben von Staatlichkeit, Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen befreit wird. Damit hat die Revolution in Rojava immer noch zu kämpfen. Die Völker hier und die Frauen haben den Krieg miterlebt, sie litten unter der Verfolgung und Massakern. Damit ihre Wunden wieder heilen können und damit sie wieder ins Leben zurückgeholt werden, bedarf es einer kulturellen Revolution.

In Anbetracht der Kulturgeschichte unserer Region erkennen wir, dass die Dörfer und die Lebensbereiche von Frauen für Frauen stets ihre Bedeutung bewahrt haben.

Wir sind erfreut und stolz, dass wir die Ehre haben, die lebendige Geschichte von ihren Wurzeln her aufbauen zu können und den Frauen, die ein befreites Gebiet brauchen, eine enorme Unterstützung zu sein.

Die Arbeiten für das »Dorf für die freie Frau« wurden aufgrund ihrer Notwendigkeit begonnen. Diese Dringlichkeit wird die Antwort auf die Demütigung der Frau sein und ihren starken Willen verdeutlichen. Wir wissen, dass die Frauen jeglicher Art von Unterdrückung, Mord und Gewalt ausgesetzt sind. In dem Bewusstsein, dass sie ihr eigenes Leben selbst in die Hand nehmen, ihre eigenen Alternativen entwickeln und auf die Frage »Wie leben?« selbst eine Antwort finden können, haben wir die Initiative ergriffen und dieses Projekt ins Leben gerufen. Nachdem es Konsens gefunden hatte, haben wir angefangen, uns die Meinungen der Frauen aus allen Bereichen anzuhören. Es kamen Frauen zu uns, die sich mit eigenen Projekten und Visionen beteiligt haben, viele, die tägliche Arbeit angeboten haben, viele Personen und Organisationen, die ihre Solidarität bekundet haben.

Wir sind öfters mit der Frage konfrontiert, wie sich der Kern dieser Ideen herauskristallisiert habe. Unser Vorsitzender Abdullah Öcalan hatte diese Debatte auf die Tagesordnung gesetzt und daraufhin entwickelte die kurdische Frauenbewegung damals ein eigenes Projekt, das offen war für Diskussionen. Zum Beispiel setzten wir uns im tiefsten Winter, als alles mit Schnee bedeckt war, mit 24 jungen Frauen hin und diskutierten über ein ökologisches Dorf für Frauen. Mit dieser Debatte erwärmten sich unsere Herzen, wurde unser Bewusstsein gestärkt und vereinten sich letztlich auch unsere Herzen. Diese Debatten und Visionen haben wir in Rojava auf die Tagesordnung gesetzt und sie haben Zustimmung gefunden. Erst als wir in Rojava angefangen hatten, Menschen über unser Projekt und unsere Visionen zu erzählen, bemerkten wir, dass in derselben Phase auch Frauen aus anderen Gebieten über autonome Dörfer für Frauen diskutiert und auch Projekte entwickelt hatten. Daraufhin hat sich ein sehr natürliches und solidarisches Netzwerk entwickelt. Die Utopie der Frauen zur Sprache zu bringen, hat ausgereicht. Nachdem wir die aktuellen Bedingungen für das Dorf überprüft hatten, begann auch direkt danach die Umsetzung des Projekts. Außerdem bildeten wir ein Vorbereitungskomitee, das aus Frauen besteht, die sich das Projekt zur Herzensaufgabe gemacht haben.

Welche Institutionen beteiligen sich denn aktiv daran?

Für das Projekt haben sich Mala Jin (Haus der Frauen), die Stiftung der Freien Frau in Rojava, das Jineolojî-Komitee, die Kooperation der Familien gefallener Kämpfer*innen, Kongra Star, das Diplomatiekomitee Rojavas vereint und konkrete Planungen dazu erarbeitet. Vom Lehmziegel und der Entscheidung, welche Materialien wir verwenden werden, über die Auswahl des Strohs, welche Blumen gepflanzt werden, bis hin zur Ausbildung der Kinder haben wir alles besprochen und abgewogen. Die gemeinsamen Grundlagen des kommunalen Lebens haben sich damit auch herausgestellt.

Die Arbeit hat uns begeistert und sie erfasst viele Teile der Gesellschaft. Nachdem mit Vertreter*innen der Stadtverwaltung, der Landwirtschaft, des Wirtschaftswesens und weiterer Institutionen insgesamt 17 Versammlungen abgehalten worden waren, hat sich das Projekt konkretisiert. Wir haben in fast jeder Sprache mit unterschiedlichen Ingenieur*innen aus vielfältigen Bereichen diskutiert. Es hat wirklich ein offizieller Projektwettbewerb stattgefunden. Die Projekte von sieben Ingenieur*innen wurden überprüft und zusammengetragen. Bis zu diesem Punkt hatten die Institutionen gar keine finanziellen Ansprüche gestellt. Und seit Beginn des Projekts steht Kapital, sprich Geld, nicht auf unserer Agenda. Vielleicht hat das Projekt gerade deshalb einen besonderen Platz in den Herzen der Frauen gefunden und wurde als ein Projekt der Zukunft aufgenommen. Nachdem wir das konkretisiert hatten und uns bis in die Details einig geworden waren, haben wir im Anschluss so schnell wie möglich angefangen, zur Praxis überzugehen.

Wollen Sie mit dem Projekt ein beispielhaftes Modell vorführen?

Natürlich … Dieses Projekt hat sich als Ziel gesetzt, die Verbundenheit der Frau mit dem Leben und der Natur zu stärken, und es zielt ebenfalls darauf ab, 50 Häuser zu bauen. Außerdem wissen wir auch, dass Tausende, gar Millionen von Frauen das Bedürfnis nach freien Lebensbereichen verspüren. Dieses Modell ist im Grunde gegen die Kultur des städtischen Lebens gerichtet, es hat den Anspruch, ein alternatives natürlich-ökologisches Leben zu entfalten. Wir wollen keine Betonklötze mit Etagen bauen, sondern wollen natürliche bewohnbare Häuser. Wir sind gegen jede genmanipulierte Produktion, die Frauen sollten mit ihrem eigenen Willen, ihrer eigenen Kraft Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Im Grunde wollen wir die Kultur der städtischen Lebensweise überwinden. Unsere Perspektive ist weit reichend, wir wollen dieses Modell nicht nur in einem Dorf realisieren, sondern auch in vielen anderen.

Wie haben Sie die Frauen ausgesucht, die in dem Dorf leben? Was ich damit fragen will – werden dort nur Frauen leben, die unter Krieg und Männergewalt gelitten haben? Gibt es auch andere Frauen, die es als notwendig erachten? Auf welcher Grundlage legen Sie Ihre Prioritäten fest?

Die Frauen, die in diesem Dorf leben werden, bestimmen selbst über ihr Leben, ihre Kinder, ihre eigene Ökonomie, Ökologie, die Natur, das Gesundheitswesen und vieles andere. Als Aufbaukomitee haben wir in Rojava die Frauen, die diese Lebensräume brauchen, ausfindig gemacht. Vorzugsweise die Kinder, Frauen von Gefallenen und Frauen mit eigenen Visionen und Projekten wurden von uns ausgewählt. Das Dorf ist für jede Frau offen, die sich das kollektive Verständnis von Leben zu eigen machen kann.

Die wichtigste Frage ist, wie wird das Leben im Dorf organisiert sein?

Wenn unsere Vorbereitungen abgeschlossen sind, wird das Dorf auch seine eigene Akademie haben. Es wird eine Frauenwissenschaftsakademie oder, original benannt, eine Jineolojî-Akademie sein. Hier werden die Lebenserfahrungen und Kenntnisse der Frauen gesammelt und schrittweise auf das Dorfleben angewendet. In der Tat, dies ist genau das Thema, das die Frauen am meisten interessiert und ihre Neugier weckt.

Neben der Akademie wird ein Zentrum für natürliche Medizin errichtet, das auf der Weisheit der Frauen in dieser Region beruht. Dieses Dorf wird auch Kinderbildungsstätte, Viehställe und landwirtschaftlich genutzte Felder haben. Wir können auch sagen, dass die diesjährige Ernte die effizienteste der gesamten Region war. Die Landwirtschaft hat bereits begonnen. Alle Fähigkeiten der Frauen sind vorhanden und das Projekt lebt durch die Freude der Frauen.

So wie auf jeder gesellschaftlichen Ebene Räte und Kommunen gebildet werden, wird es in unserem Dorf letztlich auch einen Rat, eine Kommune und eine Verwaltung geben.

In dieser Entwicklungsphase werden wir als Aufbaukomitee die Organisierung des Lebens, die Bildungsmaßnahmen hier übernehmen und auf dieser Grundlage unsere Arbeit fortsetzen.

Wenn der Gesellschaftsvertrag des Dorfes, der Rat und die Kommune vervollständigt sind, werden die Frauen ihre eigenen Entscheidungen und Rechte einfordern können. Im Allgemeinen ist eine für Veränderungen offene Lebensweise geplant. Ihre Bedürfnisse sind im Wesentlichen die Grundlage für die gemeinsamen Entscheidungen der Dorfbewohner*innen und für diejenigen, die entweder wegziehen oder sich hier niederlassen wollen.

Vertiefen wir uns doch etwas mehr in das Thema der Ökonomie. Ist es ein ferneres Ziel, die eigene Tauschwirtschaft für Frauen zu schaffen, oder wird sie jetzt schon eine Grundlage des Wirtschaftslebens bilden?

Heutzutage werden die ökonomischen Probleme nur mit dem Blick der kapitalistischen Mentalität und auf deren Grundlage bewertet. Das Leben, die Moral und Ethik, Kultur, Bräuche und Traditionen sind die geistigen Werte der Völker. Im Namen der Wirtschaft werden diese Werte heute zerschlagen und stückweise auf dem Markt gehandelt. Religion, Kultur, Tradition, Geschichte und sogar historische Artefakte werden im Namen der Wirtschaft missbraucht. Wenn wir als Reaktion darauf die Tauschwirtschaft erwähnen, wird das sehr befremdlich wahrgenommen, obwohl die Tauschwirtschaft in der Tradition der Frauen bereits vorhanden ist.

In diesem Dorf gilt die kommunale Wirtschaft als Grundbaustein. Alle werden auf der Grundlage ihres Bedarfs entlohnt, aber auf dem Fundament der gemeinsamen Arbeit. Dafür werden wir nicht auf vielerlei Gesetze, Regeln, Anforderungen und Verbote zurückgreifen, sondern der Bedarf aller wird kalkuliert und die Produktion wird dementsprechend aufgeteilt werden. Den Produktionsüberschuss als Ware des gemeinsamen kommunalen Lebens und der kollektiven Arbeit zu betrachten ist konstruktiv. Außerdem kommen arabische und kurdische Frauen aus dem Umkreis und bieten uns ihre Hilfe an. Wir essen gemeinsam, arbeiten gemeinsam und entwickeln eine Kommunikation. Viele von uns verstehen ihre Sprachen untereinander nicht, unsere Seelen sind durch diesen Aufbau jedoch verbunden.

Wir haben den Garten unseres Dorfes gemeinsam angelegt. Das Gemüse werden wir mit den Frauen im Umkreis gemeinsam verwerten, beispielsweise Tomaten und Zwiebeln zum Tausch anbieten, dann ist es auch gleichgültig, was uns im Gegenzug zurückgegeben wird. Das ist die leichteste Methode der Tauschwirtschaft. Dahingehend hat unsere Initiative bereits begonnen und wir haben vor, das so fortzusetzen.

Es gibt auch Gegenstimmen, die bezweifeln, dass dieses Projekt einen alternativen Lebensraum für Frauen bieten kann. Wir bekommen auch mit, dass diese Menschen offensichtlich Front gemacht haben und eben auch artikulieren, diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstören zu wollen. Was können Sie dazu sagen?

Wir leben in einer Phase, in der keine Regeln, Gesetze und Bestimmungen zugunsten der Frauen geschaffen wurden. Die vorhandenen Gesetze sind sexistisch und staatlich konstruiert und werden auch unter den Fittichen des Staates verabschiedet. In diesen Gesetzen können wir keinerlei Lösungsansätze für die Befreiung der Geschlechter und deren gleichberechtigtes Zusammenleben erkennen, da hier das Problembewusstsein fehlt. Weil die heutigen Gesetze und Lebensweisen nur zugunsten des einen Geschlechts entwickelt werden, und zwar zugunsten des Mannes, des patriarchalen Systems. Wenn eine Frau zum Beispiel heiratet, macht sich niemand Gedanken darüber, wie sie leben, wie sie auskommen wird, welche Notwendigkeiten es für sie geben wird. Auch wenn mal Gedanken darüber angestellt werden, wird das niemals zum Diskussionsthema, weil der Mann, den diese Frau letztlich heiratet, die Kontrolle über sie haben wird, die volle Verantwortung. Für die Gesellschaft scheint das eine sehr einfache Methode zu sein, da sie soziostrukturell daran gewöhnt wurde. In diesem Sinne entstehen, wenn eine Lebensweise ohne Männer auf den Plan tritt, plötzlich Fragen: »Können Frauen denn überhaupt ihre eigene Kraft entwickeln, können sie wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch denn überhaupt agieren, wie wird das denn wohl aussehen …?« Aber wir wissen auch, dass die Frau, egal wo, imstande ist, ihre biologischen Bedürfnisse mit einem starken Willen und Bewusstsein zu erfüllen. Sie hat ihre Energie und ihr Potenzial nur nicht freisetzen können, da sie ihrer in allen Lebensbereichen beraubt wurde.

Angebrachter ist die Frage, wie der Mann seinen Beitrag zu diesem Projekt und diesem Lebensraum leisten kann. Wenn die Frau sich, ihr Kind, ihr Land und ihr Selbstbewusstsein und ihre Weisheit im Leben etabliert, dann wird sie mit diesem Prozess ihr eigenes Bewusstsein und ihre eigene Selbstverteidigung stärken. Davon sind wir überzeugt. Wir denken, dass die anderen Einwände fehl am Platz sind. Darüber hinaus werden die Frauen, die ein vom Mann unabhängiges Leben bevorzugt haben, auch diese Art männlicher Mentalität zu brechen wissen und Lösungsansätze entwickeln.

Es könnten ebenso Bedenken und Empfindsamkeiten entstehen, die Frau werde beispielsweise von der Gesellschaft isoliert. Als die Kämpferinnen in Rojava die Vorreiterrolle in der Revolution übernommen hatten, haben sie sich auch nicht isoliert. Im Gegenteil, sie haben sich im Sinne der gesellschaftlichen Solidarität noch stärker organisiert. Genauso gut haben die Frauen in Jinwar auch das Potenzial, gemeinsam mit der Gesellschaft Veränderungen zu bewirken. Das ist eines unserer größten Ziele. Das kommunale Leben wird sich nicht nur bis zu den Grenzen eines Dorfes entwickeln und auf ein Dorf beschränken. Unser Ziel ist es, gemeinsam mit unseren ersten Schritten diese Arbeit zu intensivieren, zu bereichern und in allen Bereichen zu verbreiten. Unsere Arbeiten, die wir auf einem Areal von rund dreißig Hektar fortsetzen, sind derzeit in ihrer ergiebigsten Phase, denn wir stecken mitten im Häuserbau. Wir sind mit 21 Häusern fertig, der Bau der übrigen dauert noch an. Wir planen die Fertigstellung aller Häuser bis Ende 2017 und versuchen die entsprechende Infrastruktur dafür zu schaffen.

Unser Projekt ist offen für alle Arten von materieller und moralischer Unterstützung. Dafür könnt Ihr Euch mit uns auf folgender Seite in Verbindung setzen: www.jinwar.org