Demokratische Selbstverwaltung in Kurdistan

Abdullah Öcalan zur politischen Programmatik der Arbeiterpartei Kurdistans und der Kompromissformel „Demokratie plus Staat als allgemeine öffentliche Autorität“, 25.09.2017

Hauptpunkt der politischen Programmatik sollte also eine Reform sein, die eine Bereitschaft des Staates zur Demokratie jenseits leerer Verspre­chungen garantiert. Im alten PKK-Programm wurde der bestehende Staat komplett abgelehnt, er sollte also komplett abgeschafft werden. An sei­ne Stelle dachten wir – wenn auch recht unkonkret – an so etwas wie einen kurdischen Staat. Diese Ansicht finde ich falsch, nicht weil sie schwer umzusetzen ist, sondern weil der Etatismus meiner Weltsicht prinzipiell widerspricht. Zwar ist auch die unmittelbare Ablehnung jeglichen Staates nicht realistisch und klingt eher nach Nihilismus und angestaubtem Anar­chismus. Doch den türkischen Staat abzulehnen und an seiner Stelle einen kurdischen zu fordern, ist doch allzu holzschnittartig, zumal es so etwas wie einen „türkischen“ oder einen „kurdischen“ Staat gar nicht gibt. Der Staat in seiner historisch gewachsenen Form nutzt immer nur den Interessen einer kleinen Minderheit. Seine Dienstleistungen im öffentlichen Bereich hingegen sind äußerst beschränkt und dienen eher dazu, den Schein zu wahren. Da aber die öffentlichen Dienstleistungen und die öffentliche Si­cherheit bedeutsame Themen sind, schlage ich eine Neudefinition des in der Türkei und in ganz Kurdistan herrschenden Staatsverständnisses vor. Das bedeutet weder eine sofortige Abschaffung des Staates, die wissenschaftlich betrachtet nicht realistisch wäre, und auch nicht seine unveränderte Weiterexistenz. Die Identifizierung des Staates in seiner klassischen Form und insbesondere der despotischen Praktiken der Machthaber mit dem Staat an sich ist nicht akzeptabel. Besser wäre, sich auf einen schlanken Staat zu einigen, der lediglich Aufgaben zum Schutz der inneren und äußeren Sicherheit und zur Versorgung sozialer Sicherungssysteme wahrnimmt. Ein solches Staatsverständnis hat nichts mehr mit dem autoritären Charakter des klassischen Staates gemein, sondern entspräche dem Charakter einer gesellschaftlichen Autorität.

Erst eine so definierte Institution verdiente tatsächlich den Namen „Re­publik“. Res publica bedeutet ursprünglich „öffentliche Angelegenheiten“, und diese Definition kommt der Demokratie als Volksherrschaft nahe. Den gegenwärtigen Staat hingegen können wir nicht als tatsächliche Demokratie bezeichnen, da die Vertreter der staatlichen Autorität nicht gewählt, sondern ernannt werden. Eine so definierte Republik Türkei bedeutet für die Kurden den Genuss sämtlicher Bürgerrechte und -freiheiten bis hin zur Erwähnung in der Verfas­sung – oder sollte sie zumindest bedeuten. Die Kurden zu legalisieren heißt, ihre Identität entweder allgemein faktisch oder spezifisch gesetzlich anzu­erkennen. Damit die Kurden als Volk die Republik anerkennen, muss die Republik sie als kulturelle Gruppe und als Träger von politischen Rechten anerkennen. Die Anerkennung muss also gegenseitig und auf der Grundlage gesetzlicher Garantien erfolgen.

Die Republik braucht ganz allgemein für die Türkei, besonders aber we­gen der erschwerten Situation für die Kurden eine Reform und Renaissance. Zwar werden zurzeit einige gesetzliche Anpassungen vorgenommen, diese lassen sich jedoch kaum als Reformen bezeichnen. Insbesondere solange die unaufrichtige Haltung in der kurdischen Frage und die Verleugnung andauern, wird es schwer sein, einen Kompromiss für eine neue Verfassung zu finden. Für die PKK als eine Kraft, die sich besonders für Kurdistan als verantwortlich betrachtet, besitzt die Herstellung von Kompromissen zwischen Demokratie und Staat in allen vier Staaten höchste Priorität. Wenn die Staaten – und das gilt auch für den kurdischen Bundesstaat im Irak – in Kurdistan weiterhin existieren wollen, ist das Kriterium dafür, ob sie die Sicherheit der Bevölkerung und die grundlegenden öffentlichen Dienste ge­währleisten. Die kurdischen Volksvertreterinnen und Volksvertreter haben die Aufgabe, mit den staatlichen Zuständigen diese Kriterien festzulegen und Kompromisse zu schließen. Einseitige, unbeschränkte Maßnahmen des Staates werden sie gegen den Willen der Bevölkerung nicht akzeptieren. Wenn sie mit Gewalt durchgesetzt werden sollten, besitzt das Volk das Recht zum Widerstand. Daher bedarf es eines Kompromisses zwischen dem Staat als der allgemeinen öffentlichen Autorität und den Beauftragten des Volkes, die dessen demokratischen Willen repräsentieren.

Die demokratische Selbstverwaltung in Kurdistan und der Staat als allgemeine öffentliche Autorität

Diesen wichtigsten Punkt des Programms können wir unter der Über­schrift „Die demokratische Selbstverwaltung in Kurdistan und der Staat als allgemeine öffentliche Autorität“ zusammenfassen. Ein Kurdistan mit einem derartigen Status hätte einen Zustand erreicht, welcher nahe an Demokratie, Freiheit und Gleichheit herankommt. Eine Demokratie ganz ohne Staat zu fordern, bedeutet in der gegenwärtigen historischen Phase einen Selbstbe­trug und Abenteurertum. Es besteht Bedarf nach einem schlankeren Staat, dessen Rahmen durch Kompromisse festgelegt wird.

Auf der anderen Seite bedeutet Demokratie in Kurdistan, dass das Volk so­wohl auf lokaler als auch auf allgemeiner Ebene in regelmäßigen Abständen für die gemeinsamen gesellschaftlichen Bedürfnisse, vor allem ökonomische, soziale und politische, nach Antworten sucht und die Personen wählt und kontrolliert, die sie finden sollen. Die Demokratie geht den Staat nichts an. Sie ist die ureigene Angelegenheit des Volkes. Der Staat kann allen­falls dessen demokratischen Willen respektieren. Er ist lediglich für die Erbringung notwendiger Dienstleistungen zuständig. Kurz gesagt könnte für Kurdistan eine wohldefinierte Kompromissformel „Demokratie plus Staat als allgemeine öffentliche Autorität“ bezogen auf die Türkei, den Iran, den Irak und Syrien Teil des Programms werden. Die Demokratisierung Kurdistans ist nicht nur eine Frage von Gesetzen, sondern darüber hinaus ein komplexes gesellschaftliches Projekt. Es bein­haltet einerseits den Widerstand gegen die Kreise, welche verhindern, dass das Volk seine Identität und sein Schicksal selbst bestimmt. Andererseits gehört dazu, dass alle anderen Gruppen ihren eigenen wirtschaftlichen, so­zialen und politischen Willen entwickeln und entsprechende Institutionen aufbauen, sie leiten und kontrollieren. Es handelt sich um einen ständig fortzusetzenden Prozess. Wahlen sind dabei nur eines der Instrumente die verwendet werden, um diesen Willen zu artikulieren. Vordringlich ist die funktionale Organisierung der Bevölkerung, ihre direkte Aktion. Es han­delt sich um einen dynamischen demokratischen Prozess, der sich von den lokalen Kommunen in Dörfern und Kleinstädten über die Stadträte und Stadtverwaltungen bis zu einem allgemeinen Volkskongress erstreckt. Entsprechend der jeweiligen Bedingungen können wir eine Demokratie ge­meinsam mit den Nachbarvölkern organisieren und, wo dies nicht möglich ist, ein eigenes demokratisches System bilden.

Auch die Demokratisierung der Politik ist im politischen Bereich eine wichtige Aufgabe. Demokratische Politik erfordert demokratische Parteien. Solange es keine Parteien und vergleichbare Institutionen gibt, die nicht den Staat, sondern die Forderungen der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen, können wir nicht mit einer Demokratisierung des politischen Lebens rechnen. Die Parteien der Türkei sind nichts anderes als Propagandakolonnen des Staates und Instrumente, die Profite verteilen sollen, wenn sie sich einmal im Staat breit gemacht haben. Der Übergang zu Parteien, die sich auf die gesellschaftlichen Probleme fokussieren und einen angemessenen legalen Status haben, ist ein wichtiger Teil einer politischen Reform. Par­teien zu gründen, die das Wort „Kurdistan“ im Namen tragen, ist immer noch verboten. Die Staatsparteien lassen den anderen keine Chance. Dieser Zustand muss sich definitiv ändern. Ein wesentliches Kriterium für die Demokratisierung ist, dass es möglich sein muss, Parteien und Bündnisse im Namen von Kurdistan zu bilden, solange diese nicht Sezessionismus propagieren oder zu gewalttätigen Mitteln greifen.

Besonders wichtig sind in Kurdistan demokratische Politik, ein demo­kratisches Gesellschaftsverständnis und Bemühungen für eine Wende. Ins­besondere der despotische Charakter der Politik macht das Begreifen de­mokratischer Kriterien und ihre Umsetzung so lebensnotwendig. Nicht nur die Mitte-Rechts-Politik, auch die Mehrzahl der linken Politikmodelle sind auf den Staat fokussiert und tragen Züge von Despotismus und Profiteurswesen. Diese Grundeigenschaften erklären auch, warum die Völker des Mittleren Ostens die Politik derart hassen. Wenn die Rolle der Politik erst einmal aus Betrug und Repression besteht, ist es unvermeidlich, dass die Gesellschaft in der Politik außen vor bleibt oder besser gesagt zum Objekt der herrschenden Politik mutiert. Die beste Methode zur Überwindung dieser Entfremdung der Politik ist ein demokratischer Politikstil, der sich am Ziel einer demokratischen Zivilgesellschaft orientiert. Wenn die eigene Theorie und Praxis nicht auf demokratischer Politik aufbaut, so werden alle Bemühungen innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen unweigerlich trü­gerisch bleiben. Dabei zählt allein der gute Wille wenig. Vielmehr müssen wir uns die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen abstraktem Populismus und der Kunst demokratischer Politik gut vor Augen führen. Im Grunde verfolgt meine Eingabe das vorrangige Ziel, in Kurdistan der demokratischen Politik den Weg zu ebnen. Die unter Individuen und Insti­tutionen so weit verbreitete Kultur des Gehorsams und des Erzwingens von Gehorsam können wir nur durch die Demokratie überwinden. (…) Ein künftiges freies Kurdistan braucht vor allem demokratische Strukturen in Gesellschaft und Politik, die den konkreten historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten jedes seiner Teile gerecht werden. Die be­stehenden Parteien, Vereine und zivilgesellschaftlichen Institutionen haben in dieser Hinsicht großen Reformbedarf.

Daher stehen wir in jedem Teil von Kurdistan, den benachbarten Metro­polen mit großen kurdischen Gemeinden, den Landstrichen mit kurdischen Minderheiten und im Ausland, vor allem in Europa, vor der Aufgabe, bei allen Aktivitäten einen demokratischen Stil zu etablieren. Gleichzeitig soll­te unser Volk die Flexibilität zeigen, in die Basisorganisierung auch die Minderheiten in Kurdistan, mit denen es zusammenlebt, und seine Freun­de einzubeziehen. Es muss seine eigene Demokratie selbst organisieren und selbst praktizieren. Es sollte sowohl die bestehenden Gesetze befolgen, sofern sie demokratisch sind, als auch unter Bedingungen, wo keine de­mokratischen Rechtsordnungen bestehen, Leben und Kampf nach eigenen demokratischen Regeln und Statuten organisieren. Auf Regionalkongressen sollten einmal im Jahr alle demokratischen Institutionen von den Kom­munen bis zum Volkskongress (Kongra-Gel) ihre Leitungen gemäß deren Fähigkeit zur erfolgreichen Problembewältigung wählen. Für Kandidaturen und Wahlen können eigene Systeme entwickelt werden. Ein Mitglied eines Leitungsgremiums sollte nicht für mehr als zwei aufeinander folgende Wahlperioden gewählt werden und nur auf der Grundlage neuer Projekte nach zwei Perioden erneut kandidieren können.

Unser Volk sollte sich in allen Teilen Kurdistans, den Metropolen und vor allem in Europa auf demokratischem Wege konstituieren, auf allen Ebenen geeignete Kandidaten wählen, regelmäßig Rechenschaft fordern und so die Kontrolle ausüben. Wenn die Staaten die kurdische Demokratie respektieren, soll es Kompromisse schließen, ansonsten den demokratischen Widerstand mit geeigneten Methoden konsequent fortsetzen. Die Verwirkli­chung einer eigenen Demokratie ist für unser Volk der beste Weg zu Freiheit und Gleichheit.

Ein dringender Bedarf besteht auch nach freien Medien. Ohne unabhän­gige Medien wird der Staat keine Sensibilisierung in Fragen der Demokratie entwickeln. Auch die Demokratisierung der Politik wird ohne sie nicht umsetzbar sein. Das Recht auf freie Information in Kurdistan ist nicht allein ein individuelles, sondern ein kollektives Recht. Eine sprachliche Diskriminierung darf nicht stattfinden.

Feudale Institutionen wie Stammeswesen, Scheichtum, Aghatum und Sektenwesen – Relikte des Mittelalters – stellen wie die Institutionen des klassischen Nationalstaats ein Hindernis für die Demokratie dar, weshalb sie mit angemessenen Methoden zu einem demokratischen Wandel bewegt werden müssen. Die Überwindung dieser parasitären Institutionen hat höchste Priorität.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.


Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.