Der Abgang Davutoglus: Einladung zu einer alternativen Sichtweise

erdogan-davutogluHasan Kılıç, HDP Fraktionsberater, Yeni Özgür Politika, 14.05.2016

Einhergehend mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Umwandlung der Europäischen Union von einer ökonomischen zu einer politischen und sozialen Union ist erstmals eine breite Diskussion über die Ära der Nationalstaaten entfacht worden. Die Ideologie des Nationalismus hatte an Rückenwind verloren, was auch zu heißen Diskussionen über die Thesen zum Wesen der Nationalstaaten mit sich brachte. Strahlende Slogans wie, “Die lokale Bank der Welt” (der Slogan der HSBC Bank) wurden geschaffen und Aussagen wie, die “Welt sei ein Dorf” wurden aufgeworfen. Die Institutionalisierung der Postmoderne, ein Ergebnis der Machtausweitung des Neoliberalismus, führte zugleich zur Verbreitung der These, dass die Institutionen der Moderne lediglich Überreste einer längst vergangenen Epoche seien.  Zentrale Diskussionsthemen waren, dass eine große Zahl an Konzernen Einfluss auf eine höhere Bevölkerungszahl hatten als viele Staaten und die “prunkvollen” nationalen Grenzen dieser aufgelöst hätten. All diese Diskussionen ließen jedoch die Realität des hegemonischen Nationalstaats und dessen herrschenden und politischen Charakters außer Acht. Denn auch wenn die Nationalstaaten die Regel des “sich selbst zu genügen” in vielen Punkten nicht realisieren können, so waren sie dennoch unnachgiebig in ihrem Herrschaftsgebiet und den Strategien der heiligen Staatsräson. Und so kam es mit der eiligen Erweiterung der EU um neue Mitgliedsstaaten auch zu heißen Diskussionen über die Rolle der einzelnen Nationalstaaten, die derzeit zu einer „Lösungsformel“ geführt haben, wonach es weder mit dem Staat, noch ohne ihn so richtig funktioniert.

Drei Hauptkonzepte

In der heutigen Zeit entwickeln sich neue Vorschläge, die sich um die aktuellen Konzepte national, postnational und supranational drehen. Der Grundsatz, dass ein Nationalstaat sich selbst genügt, fällt intern politisch, ökonomisch und sozial schwer und gerät extern wirtschaftlich und politisch unter Druck, sodass sich die Suche nach neuen Auswegen verstärkt und zeitgleich politische Anläufe der herrschenden Kräfte beginnen. In diesem Sinn haben sich subnational (beispielsweise lokale Verwaltungen und von supranationalen Institutionen finanzierte Kooperationen) und regionale, strategische Kooperationen innerhalb der Staaten und internationalen Institutionen gebildet. Neben regionalen Kooperationen, wie die Europäische Union, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und die MIST-Länder (Mexiko, Indonesien, Südkorea und Türkei) oder aktuell die Neubelebung der Seidenstraße, versuchen die globalen Kräfte regionale Akteure politische Ansätze mit sub- bzw. supranationalen Kooperationen zu entwickeln, die als Beispiele  postnationaler Lösungsversuche genannt werden können. Die dem Zeitgeist entsprechend handelnden Nationalen wollen mit dieser postnationalen Ansicht und den sich daraus entwickelnden, auf supranationaler Ebene und Regeln gegründeten Partnerschaften zwei Ziele erreichen: Erstens sollen Lösungen aus der Ausweglosigkeit eines Nationalstaats, sich selbst zu genügen, erarbeitet werden und zweitens stärkere Rationalisierungen durch neue Strategien aufgebaut werden. Selbstverständlich nur unter einer Bedingung: Der Herrschaft und dem Nationalismus des Nationalstaates wird kein Schaden zugefügt.

Warum hat Davutoğlu verloren?

Dieser Einleitung folgend können wir der abenteuerlichen politischen Architektur Davutoğlu’s mit seinen Absichten über “Null Probleme mit den Nachbarn” und “eine globale Kraft” zu werden analysieren. Es sollte angemerkt werden, dass zur Realisierung dieser genannten Absichten das Mittel der “soft power” genutzt worden ist. Unter der Führung Davutoğlu’s sind im Rahmen der “Null Problem“-Politik zum großen Teil wirtschaftliche Kooperationen und sozial/kulturelle Interaktionen mit den betreffenden Nachbarstaaten aufgenommen worden. Hinsichtlich dessen wurde mit einer großen Zahl an Ländern die Visafreiheit geschaffen, das Handelsvolumen erhöht und nach Afrika orientierende Öffnungen vorgenommen. In Bezug auf die Kurdenfrage, die alle Kräfte des Mittleren Ostens und insbesondere die Türkei betrifft, begann ein Diskurs zur demokratischen Lösung.

Von 2012 bis 2016…

2012 erklärte Davutoğlu als damaliger Außenminister die politische Dimension seines Projektes folgendermaßen: “Es ist Zeit, mit dem Nationalismus abzurechnen…Die gesellschaftlich, kulturelle Identität jedes Einzelnen, die Sprache ist allein schon als humane Erfahrung sehr wertvoll…Dessen ungeachtet kann die Kurdenfrage auf zwei Grundpfeiler angegangen werden. Das bis in die alte Geschichte gehende uralte Zusammenleben und das Bewusstsein und Recht als ebenbürtige Bürger eines modernen Staates.”Solche Aussagen hatte er benutzt. Dieser von Davutoğlu  gezeichnete Rahmen des Projektes, welcher ohne eine Beschädigung der Herrschaft des Nationalismus der türkischen Republik die aus der Vergangenheit stammenden Probleme (Kurdenfrage etc.) zu lösen versuchte, sollte die Möglichkeit ebnen, eine globale Macht mit Hilfe von regionaler Partnerschaft zu werden. Aber die neuen Dynamiken im Mittleren Osten und in der Türkei, die keine Erklärung der Achsenverschiebung Davutoğlu’s sein können, haben einen Rückfall in die Geschichte herbeigeführt. Gleichzeitig haben diese Dynamiken auch den Anfang vom Ende der Ära Davutoğlu eingeleitet

Wenn der “Lösungsprozess” und Gezi nicht richtig gewertet werden können…

Unabhängig von der Realisierbarkeit können wir die Strategie Davutoğlu’s, eine “globale Macht” zu werden, als aktuelle Lösungssuche im Rahmen der Begriffe national-postnational-supranational werten. Aber insbesondere das Unverständnis der gesamtpolitischen Botschaften der arabischen Aufstände und des Bürgerkriegs in Syrien, sowie des inländischen Gezi-Widerstands und des Lösungsprozesses haben den Zusammenbruch seines Projektes mit sich gebracht. Im Anschluss an diese Zeit hat Davutoğlu beharrlich versucht, einen 2015er Mercedes mit dem Motor eines 90er Modell Ford-Motors zum Laufen zu bringen. Die inländische und ausländische Politik nicht richtig werten zu können, hat den Weg zum Untergang gekennzeichnet.

Der Gezi-Widerstand hat zu einer Zeit begonnen, als Analysten und Politiker überhaupt nicht damit gerechnet hatten. Während jeder noch dieses Phänomen zu verstehen versuchte, hat der Widerstand eine Eigendynamik entwickelt und seine Forderungen dargelegt. Grob gesagt hat die AKP, statt sich als Adressat der Forderungen dieses Widerstands nach Demokratisierung, Freiheit und Gleichberechtigung anzunehmen, eine konservative Konsolidierung bevorzugt, ist noch autoritärer geworden und hat sich dadurch isoliert.

Er hat die Freund-Feind Dialektik Carl Schmitts zentral gefestigt und eine große Chance vertan, mit demokratischer Politik innerhalb der Landesgrenzen zu stärken und stattdessen eine mittelfristig problematische Politik gewählt. Damit ist jedoch eine wichtige Chance, die Forderungen der inländisch türkischen Dynamiken nach Demokratisierung zu erfüllen und einen der Punkte von Davutoğlu’s regionalem Kooperationsprojekt im supranationalen Rahmen, die Interaktion der sozialen, politischen und kulturellen inländischen Identitäten zu realisieren, vergeudet worden.

“In die vergangene Zeit zurückfallen”

Der Lösungsprozess war die Suche zur Öffnung demokratischer, politischer Kanäle zur Lösung der Kurdenfrage, die seit ca. 40 Jahren seitens des Staates mit Waffen zu lösen versucht worden war. In diesem Rahmen erzeugte der Prozess sehr wertvolle und einzigartige Möglichkeiten, wie die These der Widerbelebung einer “historischen kurdisch-türkischen Allianz”  und die These über die Schaffung einer demokratischen Republik Türkei in Wechselwirkung mit dem Aufbau von demokratisch konföderalen Gesellschaftsstrukturen über die nationalen Grenzen hinaus. Wichtige Etappen wurden beim Lösungsprozess schon hinter sich gebracht. Einer der bedeutendsten Resultate dieses Prozesses war die Dolmabahçe Übereinkunft, welcher einen Rahmen für die politischen Lösungsprojekte darstellte. Aber außer einem zaghaften Versuch von Bülent Arınç, sich gegen die Ablehnung des Lösungsprozesses durch Präsident Erdoğan zu Wehr zu setzen, wagte die Regierung es nicht, dem plötzlichen Abbruch der Gespräche auf Befehl des Staatspräsidenten zu Wehr zu setzen. Mit der Befolgung des Befehls aus dem Präsidentenpalast wurde zugleich auch die Linie Erdoğan’s gegen die Position von Davutoğlu gestärkt. Schließlich stellten sich die Wahlergebnisse vom 7.Juni 2015, welche die AKP eigentlich in eine Koalitionsregierung gezwungen hätten, als Garantie für den Sieg der Linie Erdoğan dar. Somit fiel  Davutoğlu’s Projekt  infolge des Gezi-Widerstands, des Lösungsprozesses, der arabischen Aufstände und dem Bürgerkrieg in Syrien in sich zusammen.

Der kolonialistische Geist des Osmanentums ist wieder aufgenommen worden

Das schmerzlichste an diesem traurigen Ende ist, dass sich die um die Begriffe national-postnational-supranational drehenden Diskussionen mit dem Grundsatz des Supranationalismus in Davutoğlu’s Tagträumen als Renaissance des Osmanischen Imperiums und als Rückkehr zu einer Art klassisch osmanischen Kolonialismus entpuppte. Mit dem Eingeständnis, dass mit den Techniken der “Soft Power” nach den arabischen Aufständen und dem syrischen Bürgerkrieg kaum ein Neuaufbau mit regionalen Kooperationspartnern umsetzbar ist, widmete sich die Türkei dem Versuch in dieser chaotischen Lage ihr Projekt durch den kolonialistischen Geist des Osmanentums umzusetzen. Sie hat ihre gesamte Energie hierfür aufgebracht und eine große Niederlage erlitten.

Auch der EU Schachzug hat keine Rettung gebracht

Davutoğlu muss spätestens nach den Wahlen am 1.November erkannt haben, dass seine Strategie “der regionalen Kooperationen und einer globalen Machtstellung” keine ausreichende Grundlage hat und zog es vor, die Artikulation eines bestehenden Projekts, nämlich der EU, zu beschleunigen. Aber als dieser Artikulationsprozess begann Früchte zu tragen, zwang ihn Erdoğan zum Rücktritt. Davutoğlu hat gegen Erdoğan verloren, weil er den Rahmen seines selbst gesteckten politischen Projekts nicht erweitern, nicht neu ordnen, der aktuellen Situation anpassen und, als wichtigster Punkt, seine eigene Politik nicht mutig durchführen konnte.

Für Erdoğan’s “Ein-Mann-Stellung”…

An diesem Punkt ist es sinnvoll, auch einen Blick auf den derzeitigen Standpunkt Erdoğans zu werfen. Er versuchte insbesondere seit Beginn des Jahres 2015 den Nationalismus und das Türkentum neu zu festigen und die „problematischen Regionen“, also die kurdischen Siedlungsgebiete“ aufs neue zu erobern. Die regionale Komponente ist der Aufbau einer anti-kurdischen Allianz, wie das Beispiel der Zusammenarbeit mit dem Iran auf diesem Gebiet eindrucksvoll beweist.

Letztendlich erlitt Davutoğlu eine große Niederlage, weil sein zeitgemäßes (unabhängig vom möglichen Erfolg oder dessen Richtigkeit) Projekt einer regionalen Kooperation zuallererst intern in der Kurdenfrage Erdoğans Kriegspolitik überlassen wurde und extern den zentralen Entwicklungen des Mittleren Ostens keine Antwort lieferte. Außerdem ließ er zu, dass dieses Projekt in einen klassisch osmanischen Kolonialismus transformiert werden konnte. Erdoğan wiederum, der gemeinsam mit neuen Bündnispartnern seine Strategie des Nationalismus verfestigte, ließ nicht nur Davutoğlu für dessen inflationäre Politik zahlen, sondern schaffte auch einen potentiellen Widerstandspunkt gegen seine Ein-Mann-Machtstellung beiseite.