Der Ausnahmezustand in Nordkurdistan – Ein Überblick

Leyla Güven – Kovorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK), Civaka Azad, 17.02.2017

Die Kurd*innen in der Türkei mussten für die Rechte, die ihnen als Volk zustehen sollten, stets kämpfen. Und auch in der Gegenwart sind sie gezwungen, diesen Kampf weiter fortzuführen. Während die Kurd*innen in Bakûr/Nordkurdistan und der Türkei zu Hunderttausenden aufgrund der Kriegssituation in den Metropolen Zuflucht suchen mussten und auch dort seit Jahrzehnten für ihre politische, soziale, kulturelle und ökonomische Rechte den Kampf fortsetzten, hat der türkische Staat diesen gerechtfertigten Kampf stets mit Unterdrückung, Massakern, einer schwerwiegende Assimilationspolitik und ähnlicher faschistischer Methoden zu unterdrücken versucht. Ob mit und ohne Ausnahmezustand, die Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung halten weiter an.

Seit zwei Jahren erlebt die Türkei, im Besonderen in Nordkurdistan, einen eskalierenden Krieg. Dieser Krieg begann mit der Aufkündigung des zweieinhalb Jahre währenden Dialogs zur Lösung der kurdischen Frage durch den türkischen Staat und seinem „Palast“. Mit dieser Eskalation dieses Krieges hat die kurdische Bevölkerung an verschiedenen Ort verkündet, dass sie sich selbst verwalten und ihre Selbstverwaltungen schützen wolle. Der türkische Staat hat auf diese Verkündungen eine geradezu barbarische Reaktion an den Tag gelegt, und ihre Vernichtungspolitik gegen die kurdische Bevölkerung mit Hilfe ihrer paramilitärischen Kräfte verstärkt. Es wurden zahlreiche Städte dem Erdboden gleichgemacht und unzählige Menschen massakriert.

Die Warnungen des PKK-Vorsitzenden Herrn Abdullah Öcalan, dass wenn die kurdische Frage nicht gelöst und die Demokratisierung der Türkei nicht vorangetrieben wird, der Putschmechanismus zu Tage treten werde, ist von den Regierenden der Türkei nicht verstanden worden. Doch am 15. Juli vergangenen Jahres sollten die Warnungen von Herrn Öcalan zur Realität werden. Der Putschversuch vom 15. Juli ist eine direkte Folge der ungelösten kurdischen Frage und des Beharrens der Regierung, den Forderungen der Kurden mit schierer Staatsgewalt zu begegnen.

Vor dem genannten Putschversuch hat die AKP bereits ein Jahr lang in Nordkurdistan den Ausnahmezustand geprobt. Die kurdischen Siedlungsgebiete waren also so etwas wie eine Pilotregion für das, was später in der gesamten Türkei praktiziert werden sollte. Mit der offiziellen Ausrufung des Ausnahmezustands nahmen die Menschenrechtsverletzungen in Nordkurdistan allerdings noch weiter zu. Der Putschversuch wurde durch die türkische Regierung als „goldene“ Gelegenheit genutzt, um mit Hilfe des Ausnahmezustands das Land per Dekret zu führen.

Per Dekret wurde dann auch der Wille der Bevölkerung Nordkurdistans mit Füßen getreten. Unzählige demokratisch gewählte Bürgermeister*innen wurden abgesetzt, Kommunen unter Zwangsverwaltung gesetzt. Es wurden gewählte Bürgermeister*innen, Stadtratsmitglieder und Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltungen festgenommen und/oder entlassen. Die unter Zwangsverwaltung gestellten Rathäuser werden nun mit Betonklötzen, durch bewaffnete Sicherheitskräfte und gepanzerte Fahrzeuge „geschützt“. Die übrig gebliebenen Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung können nur unter enormen psychischen Druck ihre Arbeiten fortsetzen. Mit der Praxis der Zwangsverwaltung wurden die Kommunalverwaltungen, die von der Bevölkerung gewählt und im Dienste der Bevölkerung gearbeitet haben, nun in den Dienst der Regierenden in Ankara gestellt.

Ebenfalls per Dekret wurden alle Vereine verboten, welche versuchten den Menschen Hilfe zu leisten, die aufgrund der Massaker des türkischen Staates zur Flucht getrieben und ihr gesamten Hab und Gut verloren haben. Diese Vereine haben in Kurdistan über Jahre hinweg sehr wertvolle Arbeit geleistet und in tiefster Solidarität mit der Bevölkerung zusammengearbeitet. Mit dem Verbot soll die Bevölkerung mit ihren Problemen allein gelassen und zur Emigration gezwungen werden. Doch trotz all dieser Angriffe hat die Bevölkerung, im Gegensatz zu den 1990er Jahren, ihre Heimat nicht verlassen und so das Ziel der AKP, Kurdistan zu entvölkern, ins Leere laufen lassen. Anstatt den Ausweg in den Vororten der Metropolen zu suchen, haben die Menschen entweder Zuflucht bei Verwandten und Bekannten gefunden oder haben vorerst in Zelten Schutz gesucht. Nun versuchen die Menschen gemeinsam mit ihrer eigenen Kraft und ihren eigenen Mitteln die Häuser wieder bewohnbar zu machen oder neue Behausungen zu errichten. Die Bevölkerung hat der Unterdrückung und den Massakern des türkischen Staates getrotzt, und mit einem gemeinsamen solidarischen Geist zum Ausdruck gebracht, dass sie selbst darüber entscheiden, wie sie leben wollen und diese Entscheidung unter keinen Umständen dem Staat überlassen werden.

Dennoch müssen wir beispielsweise für die Stadt Şirnex (Şırnak) sagen, dass acht von zwölf Stadtviertel völlig zerstört worden sind und auch das Stadtzentrum nicht mehr existiert. Das Leben in der Stadt gestaltet sich äußerst schwierig. Nachts herrscht weiterhin Ausgangssperre. Die Sicherheitskräfte patrouillieren unentwegt in der Stadt in gepanzerten Fahrzeugen und machen den Einwohner*innen das Leben schwer. Wer in die Stadt hinein oder aus ihr heraus will, wird an Kontrollpunkten „gründlichst“ durchleuchtet. Besucher*innen der Stadt werden, bis sie Şirnex wieder verlassen, auf Schritt und Tritt verfolgt und belästigt.

Auch in Sûr oder Nisêbîn (Nusaybin) ist das Leben trotz Aufhebung der Ausgangssperre schwierig. Die Räumungsarbeiten halten an. Die Menschen können sich an den Orten nicht frei bewegen. Mit dem Ausnahmezustand und aufgrund anhaltender Auseinandersetzungen wurden außerdem weitere Gebiete in Nordkurdistan zu „Sicherheitszonen“ erklärt. Immer wieder werden willkürlich Ausgangssperren verhängt. Viele ländliche Gebiete wurden zum militärischen Sperrgebiet erklärt, weil die Armee dort Militäroperationen durchführen will. Das schränkt wiederum das Leben der Menschen auf dem Land ein. Ihr Recht auf Kommunikation, auf Gesundheit und Bildung wird behindert. Die Tierzucht und Landwirtschaft, die wichtigsten Einnahmequellen der Menschen, liegen brach. Viele Dorfbewohner*innen berichten bei Razzien von „Sicherheitskräften“ und Militär in ihren Dörfern von schlechter Behandlung und Folter.

Alle öffentlichen Plätze des Landes sind mit Betonklötzen umstellt und werden von gepanzerten Fahrzeugen überwacht. Mit gesetzlichen Dekreten werden Regierungskritiker*innen, Oppositionelle, Friedensaktivist*innen, Akademiker*innen sowie die Presse ins Visier genommen und unter Druck gesetzt. Viele von ihnen verlieren ihre Arbeit, ein Teil sitzt hinter Gitter. Hinzu kommt, dass eine ganze Reihe von Fernsehsendern, Radiostationen, Zeitschriften, Zeitungen, Vereine, Gewerkschaften und andere Institutionen verboten werden.

171 Vereine wurden in Nordkurdistan durch gesetzliche Dekrete im Rahmen des Ausnahmezustands verboten. Unter diesen Vereinen befindet sich eine Vielzahl von Institutionen, die seit Jahren gegen die Assimilationspolitik des Staates Widerstand leisten und die kurdische Sprache lehren. Auch Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Zeitschriften, die in kurdischer Sprache berichteten, wurden geschlossen. All das geschah ohne rechtliche Grundlage. Es gab keinen juristischen Prozess, der diese Verbote begründet hätte. Die Initiative ging alleine von der AKP aus und macht deutlich, wie sehr diese Regierung die kurdische Bevölkerung verleugnet, ja selbst ihre Sprache verbietet.

Durch die Dekrete während des Ausnahmezustands wurden hunderttausende junge Menschen aus dem öffentlichen Dienst suspendiert, Hundertausende wurden ohne rechtlichen Beschluss entlassen. Dutzende von ihnen wurden festgenommen, ein großer Teil inhaftiert. Die Dauer der Polizeigewahrsam wurde auf 30 Tage verlängert und Rechtsanwält*innenbesuche verboten. Bei Massenverhaftungen wurden die Menschen zum Teil tagelang in Sporthallen und andere Orten festgehalten. Diese Orte wiederum sind zu Stätten der Folter geworden.

Die aus dem öffentlichen Dienst entlassenen Menschen finden auch keine Arbeit im privaten Wirtschaftssektor. Hier werden die Arbeitgeber*innen unter Druck gesetzt. Gleichzeitig werden die Banken angewiesen, den entlassenen Menschen keine Kredite zu gewähren. So verlieren diese Menschen nicht bloß ihren Job, sondern werden schikaniert und in die Armut getrieben. So sollen sie auf Linie der Regierung gebracht werden

Durch die Vielzahl der Festnahmen sind die Aufnahmekapazitäten der Gefängnisse längst gesprengt worden. Viele Verhaftete wurden in Gefängnisse verlegt, die hunderte Kilometer entfernt von ihren Familienangehörigen und Anwälten*innen sind. Gleichzeitig wird diesen Menschen immer wieder mit willkürlicher Begründung das Recht auf Besuch und Kommunikation verweigert.

Das Recht auf Proteste gegen diese antidemokratischen und faschistischen Methoden des Staates ist ebenfalls ausgesetzt. Selbst das Recht auf Meinungs- und Organisationsfreiheit besteht faktisch nicht mehr. Alle öffentlichen Proteste werden aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ verboten. Zusammengefasst wird also jede Stadt und jeder Stadtteil in der Türkei und Nordkurdistan im Rahmen des Ausnahmezustands durch einen enormen Druck der Regierung drangsaliert.


Ein Überblick über die unter Zwangsverwaltung gestellten Kommunalverwaltngen in Nordkurdistan

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