Abdulmelik Ş. Bekir, Gazete Karınca, 13.05.2017
Mit jedem Tag wird deutlicher, was Syrien in Zukunft für eine Gestalt annehmen wird. Von der Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die am seit sechs Jahren andauernden Bürgerkrieg teilnahmen, sind viele ausgeschieden und die anfangs unübersichtliche Lage weicht nun einer etwas klareren Gleichung. Als verbliebene Hauptakteure können Russland, der Iran, Syrien, die USA und die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) genannt werden. Außerhalb dieser Gleichung bleiben zurzeit Katar, Saudi Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, der IS, die KDP und die Al Nusra-Front. Die Türkei und die ihr verbundenen FSA-Gruppen haben in dieser Gleichung eine neutrale Position eingenommen. Mit den kommenden Entwicklungen ist es von großer Wahrscheinlichkeit, dass sie außerhalb der Gleichung bleiben werden.
Wenn die gegenwärtig existierenden Parameter sich nicht ernsthaft verändern, wird sich diese Gleichung zunehmend stabilisieren. Es gibt keine besonderen Anzeichen dafür, dass mit den USA und Russland die beiden unabhängigen Variablen, die diese Gleichung ändern könnten, ihre Politiken in kürzester Zeit ändern werden. Auch wenn die Möglichkeit bei den USA für solch eine Tendenz vorhanden wäre, da ihre traditionellen Verbündeten außerhalb der Gleichung stehen, sind die unrealistischen Politiken, die von den Verbündeten selbst aufgezwungen werden, das größte Hindernis für solch einen Kurswechsel.
Die AKP und ihr neo-osmanischer Traum
Um diese Zusammenhänge im Hinblick auf die Kurdinnen und Kurden sowie die Türkei zu betrachten, bedarf es eines Blicks in die Vergangenheit. Die Türkei ist einer der ersten Staaten, der sich am Bürgerkrieg in Syrien beteiligte und lange Zeit eine einflussreiche Rolle spielte. Die Türkei ging von einem Zusammenbruch des syrischen Regimes kurz nach dem Bürgerkrieg aus und erwartete wie in Ägypten, dass eine sunnitische Regierung (der Muslimbrüder) die Macht übernehmen würde. Heute ist zu sehen, dass die Rechnung der Türkei nicht aufgegangen ist. Die Türkei ist Teil der Verlierer im syrischen Bürgerkrieg. Doch warum kam es zu solch einer politischen Interpretation durch die AKP-Regierung?
Oligarchische Regierungen mit nationalstaatlichen Paradigmen haben nicht das Ziel die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Probleme der mittelöstlichen Gesellschaften zu lösen. Dass die Region des Mittleren Ostens eine kontinuierliche Kriegssituation erlebt und zu einer Quelle von radikalen Organisationen wurde, rührt aus der Position der hegemonialen Kräfte nach der Zeit des Kalten Krieges her. Die auf den Status quo beharrenden regionalen Staaten haben mit ihrer Geschlossenheit gegenüber Veränderung und Transformation sowie der Vertiefung statt einer Lösung von Problemen den hegemonialen Mächten fortwährend eine Grundlage und Möglichkeit zur Intervention geboten. Aufgrund dieser Bedürfnisse wurde die Neustrukturierung der Region entsprechend den Interessen der hegemonialen Mächte eingeleitet. Diese Phase wurde mit dem Greater-Middle-East-Projekt (GME) aktualisiert und den neuen Gegebenheiten in der Region angepasst. Die größte Erneuerung war die Ergänzung des Konzeptes des sogenannten gemäßigten Islams. Die Konservativen der Türkei bildeten dafür den Prototyp. Die AKP stieg im Rahmen dieses Projekts auf. Der Weg der AKP zur Macht in der Türkei und auch im internationalen Raum wurde ihr freigemacht. Die Türkei war im Sinne des GME nun das Vorzeigeland des Mittleren Ostens.
Die AKP, die die ihr dargebotene Chance nutzte, versuchte innerhalb des Landes die Macht zu ihrem Gunsten zu gestalten und sollte auch im Mittleren Osten populär werden. Wir erinnern uns an die Poster von Recep Tayyip Erdoğan, die in den arabischen Straßen getragen, oder die Gunst, die in diplomatischen Besuchen aufgebracht wurde. Auch die übertriebene mediale Darstellung in türkischer und westlicher Presse ist ein Teil dieser Erinnerung. Der erste Grund dafür ist wie bereits erwähnt die Schaffung eines Modells. Der zweite Grund dafür war die Hoffnung von demokratischen Kreisen, die den oligarchischen Regimen überdrüssig waren und die Türkei als EU-Anwärter relativ demokratisch sahen, dass auch ihre Länder in einen ähnlichen Transformationsprozess eintreten könnten. Den dritten Grund bildet das Bild von Erdoğan als regionalen Führer gegen Israel. Erinnern wir uns nur an den Eklat in Davos bei der Debatte um Gaza.
Die Erwiderung der AKP in der arabischen Welt waren also die von den hegemonialen Kräften dargelegten Möglichkeiten sowie die Unterstützung aus den konjunkturellen Entwicklungen. Die AKP-Anhänger und die ihr nahestehenden konservativen Kreise betrachteten die Sympathie für Erdogan oder die Türkei in den arabischen Staaten aus einem gänzlich anderen Blickwinkel. Sie bestärkte ihren Traum von einem neo-osmanischem Reich nur noch mehr.
Der Aufstand der arabischen Gesellschaften wurde von einer Vielzahl von Kräften den eigenen Interessen entsprechend interpretiert. Die USA und die europäischen Staaten intervenierten Hals über Kopf in Libyen, um sowohl zu verhindern, dass die Forderung nach Gerechtigkeit und Freiheit das kapitalistische System herausfordert und in eine alternative Richtung läuft, sowie für einen weichen Übergang in das von ihnen vorbereitete GME.
Ohne Zweifel war es genau die Zeit in der das für diesen Fall vorbereitete Modell des gemäßigten Islams, die AKP profitieren konnte. Doch Erdogan betrachtete mit der Äußerung „Was hat die NATO in Libyen zu suchen“ die Geschehnisse als historischen Moment des neo-osmanischen Traumes. Genau an diesem Punkt zeigten sich die im Jahr 2010 beginnenden Differenzen zwischen der Zielsetzung von US-EU und der Türkei immer deutlicher auf. Während die EU-USA für die islamischen Staaten mehr gemäßigte Regierungen vorsahen und die AKP dafür als Modell vorbereitetet hatten, hat die AKP ihre Kredite genutzt und strebte nach der Verwirklichung ihres osmanischen Traums.
Die EU und USA, die eine lange Zeit die Politik der AKP beargwöhnten, räumten vielleicht da es keine andere Möglichkeit gab in ihren Planungen der Türkei einen Platz ein. Die erste Leistung war mit der Beteiligung von Katar, Saudi Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei in Jordanien die sunnitischen Kräfte zu organisieren und zu finanzieren. Nur eine kurze Zeit später nahm eine bis dahin relativ unbekannte Organisation namens IS plötzlich die Hälfte Syriens und des Iraks ein und verkündete in Mosul das Kalifat. In Tunesien, Libyen und Ägypten gab es Machtwechsel, und so erwartete auch jeder in Syrien und Irak befördert durch den IS einen Machtwechsel.
Der Hauptgrund für die interventionistische Politik der AKP gegen Syrien war solch eine Atmosphäre und politische Interpretation. Doch die Analyse der historischen, gesellschaftlichen und politischen Realität des Mittleren Ostens mithilfe von Projekten und Träumen hat dazu geführt, dass die Pläne nicht aufgingen. Die als IS bezeichnete Organisation, die das Standbein des Projekts in der Region bildete, befremdete im Mittleren Osten nach kürzester Zeit selbst seine Besitzer. Der sich schnell verbreitende IS sollte sich bis nach Ägypten und Libyen ausstrecken.
Der die Schwere des Unterfangens begreifende USA-EU-Block drückte auf die Bremse und empfahl auch seinen traditionellen Verbündeten dasselbe zu tun. Während die EU-Länder außer den explodierenden Bomben in den Hauptstädten und der Flüchtlingskrise das Thema Syrien vollständig aus der Tagesordnung entfernt haben, hat sich die USA, aus ihrer Verantwortung für das Überleben des kapitalistischen Systems und der Gefahr für die eigenen Interessen in der Region durch das Eingreifen Russlands darauf fokussiert aufzuräumen. Der USA blieb in der Region keine Kraft, auf die man sich stützen konnte. Auch der Versuch gemäßigte Oppositionelle auszubilden wurde nach einer Zeit eingestellt, nachdem man die anderen fehlgeschlagenen Beispiele betrachtete, die man im Rahmen des GME gefördert hatte.
Die Kurden und das Paradigma der demokratischen Nation
In einer Phase, in der die USA angesichts der Realitäten in der Region alternativlos blieb, wurden die Kurden zur einzigen Alternative. Es gab eine mit einfachen Waffen kämpfende Kraft, die Widerstand gegen eine brutale Organisation leistete, die mehr als die Hälfte des Irak und Syriens eingenommen hatte, stehende Armeen besiegte und weltweit Angst verbreitete. Dies gilt insbesondere für die kämpfenden kurdischen Frauen, die gegen diese demokratiefeindliche und Frauen auf Sklavenmärkten verkaufende Mentalität Widerstand leisteten. Mit ihrem Paradigma der demokratischen Nation garantierten sie eine gleiche und freie Zukunft für alle Völker, Kulturen und Religionsgruppen. Völker und Glaubensrichtungen, die jahrelang aufeinander gehetzt wurden, kämpfen im Modell Rojava gemeinsam um Freiheit und Demokratie. Obwohl Millionen Menschen in Syrien vor dem Krieg flohen und trotz des Embargos durch die Türkei und der KDP, konnte sich Rojava halten. Die Kurden, die es schafften unter Bürgerkriegsbedingungen ein alternatives System aufzubauen, lieferten in Hinsicht auf die Region förmlich ein Konzept zum Ausweg aus der Krise.
Auch wenn das Modell in Rojava ideologisch gesehen den USA nicht passt, sind sie mit ihrer säkularen und demokratischen Struktur und der Darlegung eines idealen Lösungsmodells für die Region die einzige Kraft, die unterstützt werden kann.
Die heutige Gleichung: Die Demokratische Föderation Nordsyrien
Die gute Analyse und Interpretation der historischen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Struktur der Region, sowie die Kapazität dementsprechend Politik zu organisieren, hat den Kurden im Mittleren Osten den Weg geebnet. Die von den Kurden seit Beginn des Bürgerkriegs vorgeschlagene und auch umgesetzte Politik des „dritten Wegs“ ist heute zu einem Punkt geworden, an dem die USA und Russland zusammenkommen. In diesem Sinne ist die ausgerufene Demokratische Föderation Nordsyrien realistischer als jemals zuvor geworden. Die Kurden haben den sich vor ihr aufmachenden historischen Moment auf die beste Art und Weise genutzt.
Das die Sicherheit von Minbic nach den Bluffs der Türkei von den USA und Russland übernommen wurde, ist keine zufällige Entwicklung. Es spiegelt das Lösungsmodell wieder, dass die USA und Russland für Syrien vorsehen. Auf gleiche Weise liegt es auch innerhalb der Kenntnisse der USA, dass Russland mit dem Kanton Afrin eine Vereinbarung zum Aufenthalt getroffen hat. Beide Kräfte sind sich bei dem Thema Syrien für eine Lösung einig, die nicht noch teurer werden soll. Es kann einige Punkte geben, bei denen sich die USA und Russland nicht einig sind, aber in Hinsicht auf die Position der Türkei in Syrien sind sie auf gleicher Wellenlänge. Beide Kräfte wollen weder die Türkei noch den Iran in Syrien. Zudem stehen auch die Türkei und der Iran im Gegensatz. Während der Iran über mehr Vorteile verfügt, ist die Türkei in der Gleichung Syrien auf einer neutralen Position.
Kurzum; das Modell des gemäßigten Islams hat in der Region keinen Wiederklang gefunden. Eine Lösung wäre es anstatt die Demokratische Föderation Nordsyrien zu behindern, die Beziehungen zu ihr zu entwickeln. In diesem Sinne ist es immer noch möglich für die Türkei mit den Kurden Frieden zu schließen, um innen den Frieden zu sichern und in Syrien und Irak Einfluss zu behalten.