Syrienexperte Fehim Taştekin über das komplexe Interessengeflecht in Syrien am Beispiel der gegenwärtigen Diskussionen rund um Idlib, 13.10.2017
Das ist keine Angelegenheit bei der wir besorgt aufblicken und nach einem warum fragen müssen. Denn diese verworrenen Widersprüche sind völlig normal bei Stellvertreterkriegen mit Milizen. Die Tahrir al-Sham, dessen Kern noch immer die Al-Qaida bildet, wurde als „revolutionäre Kraft“ lange in der Türkei applaudiert. Wie sie sich erinnern war es Erdoğan selbst, der am lautesten protestierte, als die USA 2012 die Nusra-Front, die als Syrien-Ableger von Al-Qaida gilt, als Terrororganisation einstufte. Die Nusra-Front war auch die führende Kraft in der Dschaisch al-Fatah, die von der Türkei, Qatar und Saudi-Arabien finanziert wurde und Idlib eroberte. Wir erinnern uns, dass an jenem Tag in türkischen Moscheen „Süßigkeiten zum Sieg“ verteilt wurden.
Nachdem die Türkei einen „Kurswechsel“ vollzog, ihre volle Aufmerksamkeit der Kurdenfeindlichkeit widmete, diejenigen bewaffneten Gruppen, die das Etikett „Freie Syrische Armee“ trugen auf ihre Linie brachte und in der kasachischen Hauptstadt Astana mit Russland und dem Iran Übereinstimmung fand, standen alte Freunde auf einmal im Konflikt. Die Nusra-Front schaffte die argumentative Oberhand indem sie sich „der Revolution treu“ stellte und den Prozess in Astana als „Verrat“ bezeichnete. Daraus resultierte die Tahrir al-Sham. Vergangenen Monat wurden die von Türkei der unterstützen Gruppen aus Idlib vertrieben. Somit wurden aus alten Freunden endgültig neue Feinde.
Während die türkische Armee unter dem neuen Plan der „Deeskalationszonen“ an der Grenze zu Syrien militärisch aufstockte, haben die [regierungsnahen] Medien keine Probleme gehabt sich der Situation anzupassen. Während bis zu diesem Zeitpunkt getötete Tahrir al-Sham-Kämpfer als „Märtyrer“ betitelt wurden, fand man ab sofort Titel wie „den neuen Feind kennen“. Gestern der Islamische Staat, heute Tahrir al-Sham und morgen Ahrar al-Sham oder andere – eine „benutze und entsorge“-Ordnung. Wie erwähnt, dies liegt in der Natur von Stellvertreterkriegen.
Viel wichtiger ist die Art der Beziehung zu dem „neuen Feind“. Dies kann sowohl Übereinkunft als auch Gefechte bedeuten. Intrigen sind immer mit dabei. Deswegen ist es auch bedeutungslos nach Beständigkeit zu suchen. Die Beziehung kann wie folgt zusammengefasst werden: In Astana wurden vier Orte als „Deeskalationszonen“ vereinbart, eine davon war Idlib. Die türkische Armee startete die Offensive am 07. Oktober 2017. Erdoğan persönlich verkündete hocherfreut: „Innerhalb von Idlib wird die Türkei, außerhalb Russland präsent sein. In erster Linie ist nicht die türkische Armee, sondern die Freie Syrische Armee an vorderster Front“. Eine unglaubliche Feldzug-Euphorie! Diejenigen, die Nummernschilder für Mossul und Kirkuk bereitgelegt hatten [jüngste Diskussionen darüber, ob die Türkei wegen dem südkurdischem Unabhängigkeitsreferendum in Kerkuk interveniert.], werden Afrin ja nicht vernachlässigen! Und schließlich war es nicht die FSA, sondern die türkische Armee die in Idlib intervenierte. Und das unter der Obhut des „neuen Feindes“ Tahrir al-Sham. Reuters berichtete über einen Pakt zur Vermeidung von Toten zwischen beiden Kräften. Doch wer mit der Thematik vertraut ist, hat misstrauisch die Augenbrauen gehoben…
Gestern hat die Tageszeitung Karar den Inhalt des Paktes veröffentlicht: „Die Krise, die während der Intervention der türkischen Armee und der FSA in Idlib aufkam, wurde durch ein Gespräch zwischen der türkischen Armee, dem türkischen Geheimdienst MİT und einer Gruppe der Tahrir al-Sham gelöst. Tahrir al-Sham stellte zur Bedingung, dass die FSA das Stadtzentrum nicht betrete und die türkische Armee die alleinige Kontrolle habe. Die türkische Armee soll im Stadtzentrum, die FSA an der Grenze zu Afrin stationiert sein. Tahrir al-Sham und Verbündete überlassen die Kontrolle komplett der Türkei. Russland und der Iran rücken lediglich an die Orte vor, an denen das Regime bereits die Kontrolle hält.“ Die Türkei erklärte kurz darauf, dass man im „Zuge der Deeskalationszonen“ Aufklärungsarbeit im Gebiet betreibe.
Doch was passierte mit der FSA, die durch die türkische Armee nach Idlib gelangten? Am 6. Oktober wurden 800 Milizen aus insgesamt 15 verschiedenen Gruppen, die in Dscharablus, al-Bab und Asas an den Operationen teilnahmen, über Kilis und Hatay an die Grenze zu Idlib gebracht. Diese befinden sich nun an dem Grenzgebiet Bab al-Hawa. Einige von ihnen sollen noch am Grenzübergang Atme warten. Der Sender Al-Jazeera berichtet, dass nur einige von ihnen an der Aufklärungsmission teilnehmen.
Letztlich haben auch Kreise der Tahrir al-Sham den Pakt bestätigt. Ein Mitglied erklärte, dass die Türkei in Daret Izze einen Kontrollposten errichten wird. Auf die Frage, ob sie mit Gefechten in Idlib rechnen, antwortete das Mitglied mit „Nein, bisher geht alles nach Plan. Wenn die Türkei sich dran hält wird das nicht passieren“ geantwortet.
Tahrir al-Sham zeigt der FSA, die an der türkischen Operation Euphrat-Schild teilnahm, die harte Kante. Gegenüber der Türkei ist sie besonnener. Dies kann einerseits durch die Beziehungen von früher, andererseits aber auf die Gegebenheiten vor Ort zurückgeführt werden. In diesem Kontext muss auch erwähnt werden, dass in dem jüngsten drohvollen Idlib-Statement von Tahrir al-Sham die Türkei nicht vorkam. Tahrir al-Sham verachtet die FSA als „Vollstrecker der Astana-Beschlüsse“ mit den folgenden Worten: „Diejenigen, die neben der Besatzungsmacht Russland stehen, sollten gut wissen, dass für sie kein Platz in Idlib ist. Die Löwen des Dschihads beobachten sie. Wer seine Mutter ohne Kind, sein Kind ohne Eltern oder seine Frau ohne Mann lassen will, soll sich zu ihnen begeben“.
Doch, was passiert wenn die Türkei ihre Kontrollposten ausweiten oder ihre Verbündeten der FSA in das Stadtzentrum verlagern will? Das könnte zu Gefechten führen – zumindest mit einem „harten Kern“ der Organisation. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Tage von einer neuen Organisation die Rede ist, die die Nusra-Front zu flexibel findet und der Al-Qaida viel näher steht.
Lassen wir diese „amerikanischen Wrestlen“ ähnelnde Szenen und wenden uns dem eigentlichen Ziel der Türkei zu. Es ist kein Geheimnis mehr, dass das primäre Ziel der „Idlib-Shield“-Operation Afrîn ist. Der erste Kontrollposten wurde am „Seyh Bereket“-Berg errichtet. Ein Ort, der Afrîn von Nord bis Süd komplett unter Beobachtung hat.
Tahrir al-Sham hat damit keine Probleme. Afrîn ist sowieso durch die Stellvertreter der Türkei seit 2013 unter permanenter Belagerung. Diese Belagerung wurde durch einen Korridor über Tal-Rifaat gebrochen. Um die Belagerung wiederherstellen zu können, muss die Türkei diesen Korridor wieder schließen. Der Plan der Türkei ist im ersten Schritt den Ort Cinderis einzunehmen um danach in Richtung Tal-Rifaat vorzurücken.
Vor nicht allzu langer Zeit haben russische Kräfte sich in die Region begeben. Dass diese dem Plan zustimmen ist von geringer Wahrscheinlichkeit. Wenn es soweit kommt, könnte auch das syrische Regime den darunterliegenden Korridor „az-Zahra’-Nubl-Aleppo“ unter Kontrolle bringen. Wir erinnern uns, dass ähnliches bereits passiert ist, als das syrische Regime den Korridor zwischen al-Bab und Manbij schloss, um der FSA den Weg abzuschneiden.
Viele Menschen fragen sich was passiert, wenn die Türkei die Kontrolle über Idlib bekommt. Ankaras Schritte in Syrien und dem Irak beruhen auf der Taktik „abwarten, Chance wittern und zuschlagen“. Nach Idlib wird sie das gleiche zweifelsohne mit Afrin versuchen. Wenn das syrische Regime ihre Operation in Deir Ez-Zor und Abu Kamal erfolgreich beendet, wird sie sich zusammen mit ihren Verbündeten Idlib zuwenden. Die Türkei wiederum wird die Übergabe Idlibs an das Regime an die Bedingung knüpfen, die Autonomie der Kurden beenden. Und das bedeutet, dass der Hexenkessel im Mittleren Osten noch lange kochen wird…
Im Original ist die Analyse am 10.10.2017 unter dem Titel “İdlib’de El Kaide ile Amerikan güreşi!” bei Gazete Duvar erschienen.