Widerstand gegen ein Staudammprojekt in der Osttürkei
von Benjamin Raßbach, 26.08.2014, Dersim
In ein oder zwei Monaten wird das Haus, in dem Zülfi und seine Brüder wohnen, unterhalb des Wasserspiegels liegen. Sie leben von ihren Ziegen, mit denen sie am Ufer des Flusses umherziehen – auf Weiden, die es auch bald nicht mehr geben wird. Die Arbeiten am Pembelik-Staudamm in der Osttürkei sind fast abgeschlossen.
‘Wir haben keine Ahnung, wohin wir gehen werden. Zu Verwandten in die Städte oder vielleicht in ein Dorf weiter oben in den Bergen. Sie haben uns nicht einmal Zelte gegeben’, erzählt er. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Peri (‘die Fee’) stehen einige ausgebrannte Baufahrzeuge auf einer halb fertigen Straße. Sie waren in der vergangenen Nacht angezündet worden, nachdem die Arbeiter ihre Schicht beendet hatten. Die Guerilla der PKK (genannt HPG-YJA STAR) betrachte diese Aktion als eine Warnung an den türkischen Staat, wie uns vor Ort berichtet wird. Auch Zülfi und seine Brüder waren schon im Gefängnis, weil sie im Sommer 2012 ein Protestcamp gegen den Staudammbau mitorganisiert hatten. Damals haben über 500 Menschen das Baugelände gestürmt und dort mehrere Gebäude und Fahrzeuge in Brand gesetzt.
‘Sie haben weiter oben sieben Häuser gebaut, die aber nicht lange halten werden, weil sie aus schlechtem Material gemacht sind’, erklärt eine ältere Frau, die wir auf der Straße treffen. ‘Und sie haben uns so wenig Geld für unser Eigentum gegeben, dass wir uns kein neues Haus davon leisten können.’ Ein junger Mann meint, dass mehrere ausländische Ingenieure an der Konstruktion des Dammes mitwirken und dass es durchaus passieren könne, dass diese oder andere Arbeiter von lokalen Gruppen festgenommen werden, um sie an der Zerstörung der Region zu hindern. Man habe ebenfalls angefangen, IS-Aktivistenin der Region in Gewahrsam zu nehmen und zu befragen. Während die Rolle der PKK und ihrem syrischen Ableger YPG im Kampf gegen den ‘Islamischen Staat’ nun – seit den Ereignissen von Sinjar – auch der westlichen Öffentlichkeit immer klarer vor Augen steht, bleibt die Position des türkischen Staates in diesem Konflikt weiterhin zwiespältig. Einerseits gibt es umfangreiche Berichte darüber, dass er die sunnitische Extremisten unterstützt, indem er ihnen den Grenzübergang gewährt und sie medizinisch behandelt, andererseits bleibt diese Haltung, auch im Hinblick auf die westlichen Verbündeten, inoffiziell. In den vergangenen Tagen haben sich aber auch auf türkischem Staatsgebiet wieder Zusammenstöße zwischen türkischem Militär und Guerilla-Einheiten der PKK, sowie der kurdischen Zivilbevölkerung gehäuft. Hierbei geht es momentan vor allem um zwei Komplexe: Konflikte, die mit der Errichtung von Friedhöfen und Denkmälern zusammenhängen, die an die gefallenen Kämpfenden der Guerilla erinnern und die Staudammprojekte der türkischen Regierung, die sie gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung durchzusetzen versucht.
Seit Frühling 2013 herrscht ein Waffenstillstand, der, wie schon einige Male zuvor, von der PKK initiiert wurde, aber von beiden Seiten nur eingeschränkt beachtet wird. Das türkische Militär verstößt regelmäßig gegen diese Abmachung, indem es immer weiter Militärposten auf mehrheitlich kurdisch besiedeltem Gebiet baut und damit die Überwachung und Militarisierung der Region vorantreibt. Dies wird von der Guerilla und großen Teilen der kurdischen Bevölkerung als aggressiver Akt und Verstoß gegen das Waffenstillstandsabkommen verstanden und mit ‘Warnaktionen’ – lokal begrenzten Angriffen auf die betreffenden Militärstationen – beantwortet.
Nachdem am 15. August, dem 30. Jahrestag des ersten Angriffs der PKK auf das türkische Militär, die Statue eines frühen Guerillakommandeurs, Mahsum Korkmaz, in Lice aufgestellt worden war, hatte ein lokales Gericht beschlossen, dass dieses Denkmal des kurdischen Widerstands illegal sei und entfernt werden müsse. Die Unterdrückung der Proteste gegen die Zerstörung der Statue kostete das Leben eines Demonstranten. Die Guerilla reagierte auf diese Ereignisse mit mehreren Angriffen auf Polizei- und Armeestationen, bei denen sie zwölf Soldaten und Polizisten tötete. Um den 15. September soll auch in Dersim (türk.: ‘Tunceli’) ein neuer Friedhof für gefallene PKK-Kämpfende eröffnet werden und es wird auch hier mit einem Angriff der Armee gerechnet.
Ähnliches geschieht im Zusammenhang mit den Staudammprojekten, deren Bau, wie in der kurdischen Bewegung immer wieder
betont wird, eher politische als ökonomische Gründe hat. Die bekanntesten Fälle sind der Ilisu-Staudamm, der die historische Stadt Hasankeyf größtenteils zerstören wird und die verschiedenen Dämme, die im Munzurtal der Provinz Dersim gebaut werden. Das Munzurtal wurde 1971 aufgrund seines Artenreichtums unter Naturschutz gestellt, aber im Verlaufe des Konfliktes mit der Guerilla 1994 von der türkischen Armee großflächig abgebrannt. Wenn alle Staudammprojekte umgesetzt würden, die im Munzurtal und in der gesamten Provinz Dersim geplant sind, wären nicht nur große Teile der Pflanzen- und Tierwelt dem Untergang geweiht, sondern es wären auch die Reste der noch lebendigen lokalen Kultur gefährdet – einer besonderen Form des Alevitentums – die sich sowohl von der sunnitisch-türkischen, als auch von der sunnitisch-kurdischen Kultur stark unterscheidet.
Im Dorf Akkus Köyü, dessen untere Hälfte vom See verschluckt werden soll, sitzt ein alter Mann auf dem Dorfplatz, der verlassen daliegt. ‘Die Prozesse laufen noch, aber der Staat hat sich unser Land trotzdem schon genommen. Er hat ein spezielles Gesetz dafür, das besagt, dass er die Bevölkerung nicht nach ihrer Meinung zu fragen braucht.’
Der Treffpunkt für alle Männer der Umgebung ist ein Café am Rande des Flusses. Es wird weiter nach oben umziehen müssen. Hier wird gespielt, getrunken und diskutiert, sobald der Abend etwas Kühle bringt. Im Innern ist durch dichten Zigarettenrauch an der Wand zu lesen: ‚Der Peri-Fluss muss frei fließen!‘ Einer der am Tisch Sitzenden gestikuliert wild: ‘Die Beamten hatten uns gesagt, der Stausee werde nur bis einige Meter unterhalb des Hauses reichen. Nun haben sie eine neue Berechnung veröffentlicht, nach der auch unser Haus in einem Monat unter Wasser stehen wird!’
Während viele ältere Menschen jede Kraft zum Kämpfen verloren zu haben scheinen, schwanken die jungen zwischen Wut und Hoffnung. Während oberhalb der Brücke noch die rauchenden Wracks der Baufahrzeuge zu sehen sind, entfalten sich zwischen ihnen Träume von Freiheit und Gerechtigkeit, aus denen heraus eine andere Zukunft realisiert werden könnte.