Dialog oder Monologe? Lösung oder …

demirtas_erdoganSongül Karabulut, aktuelle Bewertung für den Kurdistan Report*

Einige Tage vor dem Jahreswechsel, am 28. Dezember 2012, verkündete der türkische Ministerpräsident Erdogan während eines Fernsehauftritts, dass der seit Juli 2011 unterbrochenen Dialogprozess zwischen dem türkischen Staat und dem kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali erneut aufgenommen worden sei. Am 3. Januar fuhren der Kovorsitzende des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) Ahmet Türk sowie die Abgeordnete der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) Ayla Akat mit Genehmigung der türkischen Regierung auf die Gefängnisinsel Imrali. Zum ersten Mal seit seiner Inhaftierung am 15. Februar 1999 konnte außer den Anwälten und Familienangehörigen eine Delegation in dieser Form Abdullah Öcalan treffen. Seinen Anwälten ist dagegen der Besuch bei ihrem Mandanten seit dem 27. Juli 2011 versagt.

Während des Gesprächs bestätigte Öcalan die Wiederaufnahme des Dialogs, ging aber nicht weiter auf die Details ein. Er rief dazu auf, umfassende Debatten über diese Phase sowie über den Rahmen einer politischen Lösung der kurdischen Frage zu führen, über deren Ergebnisse ihn dann die Delegationsmitglieder weiter informieren sollen. Er wolle dann der nächsten Delegation, die ursprünglich Mitte Januar zu ihm sollte, drei Briefe zu dieser Phase, adressiert an die PKK, die BDP und die türkische Regierung, mitgeben. 

Seit Ende Dezember ist die Tagesordnung bestimmt von diesem Dialogprozess. Sie wird regelrecht über die Medien geführt und gelenkt. Dieses indirekte Kommunikationsmittel wird bewusst zur Manipulation und Verbreitung von Fehlinformation missbraucht. Wenn mensch nach der türkischen Presse geht, so ist bereits eine Übereinkunft über die Entwaffnung der Freiheitsbewegung erfolgt, nach der türkischen Presse hat auch schon vor einigen Wochen der Abzug bestimmter Guerillaeinheiten nach außerhalb der Türkei begonnen. Dass dies nicht der Realität entspricht, zeigt die Realität. Tatsache aber ist, dass der Dialogprozess, kaum dass er begonnen hat, ins Stocken geraten ist.

Am 12. Januar wurde über die Medien veröffentlicht, dass Öcalan nach 14 Jahren Haftzeit ein Fernsehgerät in seine Zelle bekommen habe; dann, am 17. Januar, war in der Presse zu lesen, dass sich das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) zu Untersuchungen der Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel befinde. (1)

Um eine objektive Analyse der gegenwärtigen Situation vornehmen zu können, ist ein Rückblick auf die Hintergründe dieser Phase wichtig.

Rückblick auf 2012 – Grundlagen für die Wiederaufnahme des Dialogs

Es ist wichtig sich die Frage zu stellen, welche Entwicklungen haben stattgefunden, die zur Wiederaufnahme der Gespräche mit Abdullah Öcalan geführt haben könnten. Es ist klar, dass diese Phase kein Selbstläufer ist.

Sehr schnell nach dem Ende der Oslo-Gespräche, die im Juli 2011 scheiterten, weil der AKP-Staat sie nicht mit der notwendigen Lösungsmentalität geführt hatte, wurde erneut das Programm zur Schwächung der kurdischen Seite auf der Grundlage eines »Sicherheitskonzeptes« eingeführt. Dieser Plan hielt bis Ende 2012 in vollem Umfang an, ohne jedoch ernsthafte Erfolge zu verzeichnen. Denn der kurdische Widerstand – sowohl militärisch als auch politisch und gesellschaftlich – konnte sich behaupten und weiterentwickeln.

Semzînan ein historischer Erfolg

Die AKP hatte, um militärische Erfolge gegen die Guerilla der Volksverteidigungskräfte (HPG) verzeichnen zu können, neben Soldaten der türkischen Armee, zusätzlich die speziell für den Krieg in Kurdistan ausgebildeten professionellen Spezialeinheiten eingesetzt. Doch auch dies war wenig hilfreich gegenüber der Schlagkraft und der Schlagfertigkeit der Guerilla. So hatte diese auf türkischem Staatsterritorium für mehrere Monate die Region Semzînan (Semdinli) unter ihre Kontrolle gebracht. Und das, wo Semzînan doch das Gebiet mit dem höchsten Aufgebot an Polizei, Militär, Spezialeinheiten und Dorfschützern ist. Zudem wird die Region 24 Stunden täglich von Drohnen aus der Luft überwacht und galt bislang als absolute sichere Zone. Für die türkische Armee jedoch war es 2012 nicht möglich, sich in einigen Regionen mit Bodentruppen zu bewegen. Der Luftweg wurde bevorzugt. So kann 2012 für die türkische Armee als Niederlage, wie nach der Zap-Offensive 2007, bewertet werden.

Hungerstreik von 10’000 politischen Gefangenen 

Der Widerstand und die Erfolge in Semzînan entfachten einen politischen Wirbel unter den Kurden und Kurdinnen, um sich noch intensiver für eine Lösung starkzumachen. Kurz darauf begann dann am 12. September ein Hungerstreik, an dem sich zum Ende hin 10’000 politische Gefangene beteiligten. Er war ein neuer Ausgangspunkt für eine politische und gesellschaftliche Entwicklung weit über Kurdistan hinaus, die auch in der Türkei und auf internationaler Ebene eine breite Öffentlichkeit erreichte. Eine der Hauptforderungen war, den Weg für eine politische Lösung der kurdischen Frage durch die Dialogaufnahme mit Abdullah Öcalan zu öffnen.

Erfolge in Westkurdistan

In Syrien, das politisch in ein schiitisches (unterstützt durch den Iran, Syrien, Irak, Russland, China) und ein sunnitisches Lager (unterstützt durch die Türkei, USA und EU-Staaten) geteilt ist, stellen die Kurden eine eigenständige Kraft dar. Der Aufbau eigenständiger basisdemokratischer Strukturen in Westkurdistan (Nordsyrien) ist der AKP ein Dorn im Auge. In diesem Teil Kurdistans gibt es eine Entwicklung, mit der niemand gerechnet hatte. Der türkische Staat ist regelrecht geschockt, weil er diese Entwicklung nicht verhindern konnte. So versucht er seit einiger Zeit, bandenartige radikal-islamistische Gruppierungen, die der al-Qaida und den Salafisten angehören, gegen die Entwicklung in Westkurdistan aufzuhetzen.

Angelehnt an diese arabisch-sunnitischen Kräfte versucht die Türkei, kurdisch-arabische Auseinandersetzungen zu erreichen, um so die revolutionären Entwicklungen einzudämmen. Auf der anderen Seite versucht sie mit allen Mitteln, die Einheit unter den Kurdinnen und Kurden zu zerstören. Nicht nur Armenier und Assyrer, auch weite Teile der arabischen Stämme verfolgen die Politik der Kurden mit großer Sympathie. Viele Araber haben sich mittlerweile den Volksverteidigungseinheiten (YPG) angeschlossen. Auch bietet Westkurdistan bereits Zuflucht für Kriegsflüchtlinge aus dem arabischen Teil Syriens. Auf der anderen Seite soll über die arabische Opposition in Syrien die politische Kraft nach Assad beeinflusst werden, um die Entwicklungen in Westkurdistan nach eigenen Interessen kontrollieren zu können.

Partnerwechsel der AKP

Während die AKP bis 2011 ihren Schwerpunkt auf die Partnerschaft mit Syrien und Iran im Anti-Kurden-Bündnis setzte, hat sich dies nach dem Sturz in Libyen auf die verstärkte Zusammenarbeit mit den USA und den EU-Staaten verlagert. 2011 versuchte die Türkei im Rahmen ihrer Anti-Kurden-Politik, sowohl mit den USA und der NATO als auch mit Regionalkräften wie Iran und Syrien zu kooperieren. Als in der Region die Veränderungen an Geschwindigkeit zunahmen und eine Intervention der NATO in Libyen auf die Tagesordnung gesetzt wurde, war die Türkei gezwungen, ihre außenpolitischen Bündnisse zu überdenken. Würde sie weiter darauf beharren, ihre Strategie künftig auch auf beide Kräfte – Iran/Syrien und USA/NATO – zu stützen, könnte sie in Widerspruch zur NATO-Politik geraten und so die Kontrolle und ihre Einflussmöglichkeit in Bezug auf die Entwicklungen in der Region verlieren. Um dies zu verhindern, hat sie sich ganz und gar dem Konzept der NATO gewidmet und die ihr zugeteilte Rolle übernommen. Im Gegenzug hat sie freie Hand bei der Bekämpfung der kurdischen Befreiungsbewegung erhalten. Hierbei scheint sie auch Zugeständnisse von den USA, der EU und den NATO-Kräften erhalten zu haben. Ohne entsprechende Zugeständnisse würde die Türkei Syrien und den Iran nicht in der jetzigen Weise angreifen. Es scheint, dass die USA und die NATO die kurdische Frage unter der Voraussetzung, dass die Türkei sich mit der südkurdischen PDK einigt, der Türkei überlassen hat.

Verstärkte Verfolgung der Kurden in Europa als Dankeschön

Die westlichen Kräfte, vor allem die USA und die EU, benötigen die AKP-Regierung bei der Neugestaltung des Mittleren Ostens entsprechend dem Greater Middle East Project. 2012 wurden neben Patriot-Raketen und AWACS-Flugzeugen deutsche und holländische Soldaten in die kurdischen Regionen geschickt. Das dänische Parlament hat ebenso die Entsendung von Soldaten befürwortet. Als Gegenleistung wurde die Repression gegen Kurden und kurdische Organisationen in Europa verstärkt. In diesem Zusammenhang sind die Verhaftungen in Dänemark, Holland, Frankreich, Spanien und Deutschland zu sehen.

Das 21. Jahrhundert, eine Chance für die Kurden

Die Kurden sind sich der historischen Möglichkeiten in der Phase, in der sich der Mittlere Osten befindet, bewusst. Sie bietet der kurdischen Befreiungsbewegung den Raum, ihren Kampf zum Erfolg zu führen. Es besteht die Möglichkeit, die Verleugnung und Aufteilung Kurdistans nach dem Ersten Weltkrieg aufzuheben. Seit einigen Jahren ist dieser Status quo des letzten Jahrhunderts ins Wanken geraten. Das kurdische Volk, das sich seit Beginn der Unterdrückung bis heute im Widerstand gegen dieses Verleugnungssystem befindet, stellt heute die stärkste Dynamik in der Region dar. Es besitzt, wie wir heute sowohl im Irak, wie in Syrien und der Türkei sehen können, die Stärke, sich aktiv an diesem Umwandlungsprozess mit einem eigenen Projekt, dem Demokratischen Konföderalismus, zu beteiligen. Die Kurden haben sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis bewiesen, dass sie aus dieser Umbruchphase als befreites und anerkanntes Volk herausgehen werden. Aber genau das sieht die Türkei als ihren größten Alptraum an. Um jeden Preis will sie verhindern, dass die Kurden diese historische Chance zu ihren Gunsten nutzen.

2012 war sowohl aus Sicht der militärischen als auch der politischen Auseinandersetzungen das intensivste Jahr des seit 30 Jahren anhaltenden Krieges.

Ende 2012 ist deutlich geworden, dass das Konzept der Türkei vollkommen gescheitert ist. Weder innenpolitisch noch außenpolitisch konnte die Regierung mit ihrer Politik Erfolge verzeichnen. Im Gegenteil die AKP geriet immer mehr in Bedrängnis. Ihre Beziehungen zu den Nachbarländern sind zerstört. Während noch vor einiger Zeit Erdogan unter den Arabern als Retter gefeiert wurde, hat er diese Position längst verloren. Das Zentrum der syrischen Opposition wurde von Istanbul nach Kairo verlagert. Auch die westlichen Länder fühlen sich von der Syrien-Politik der Türkei gestört.

Der dreifache Mord in Paris überschattet den Dialogprozess

Sowohl die Erklärungen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan Anfang 2013 als auch der Besuch der beiden Abgeordneten bei Abdullah Öcalan auf Imrali weckten erneut die Hoffnung auf eine politische Lösung der kurdischen Frage. Während die Öffentlichkeit damit beschäftigt war, wie konkret diese Phase aussieht und wie sie weiterentwickelt werden kann, wurde die Tagesordnung durch den dreifachen politischen Mord in Paris an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez am 9. Januar 2013 erschüttert. Nach diesen schrecklichen Hinrichtungen scheint der Dialogprozess – kaum dass er begonnen wurde – ins Stocken geraten zu sein. Auch wenn die Regierung erklärt, die Phase sei nicht unterbrochen, Gespräche würden weiterhin geführt werden, ist bis zum heutigen Tag (18. Februar) weder die geplante zweite BDP-Delegation nach Imrali zugelassen worden, noch gibt es konkrete erfolgversprechende Entwicklungen. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Abdullah Öcalan auf die Aufklärung der Morde in Paris wartet. Auch die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) sieht dies als eine wichtige Voraussetzung. Denn solange diese Morde nicht aufgeklärt worden sind, werden die Gespräche von Misstrauen überschattet sein. Daher liegt jetzt bei der französischen Regierung eine große Verantwortung, schnellstmöglich die eigentlichen Akteure, die hinter diesem Attentat stecken, aufzudecken.

Eine größere Verantwortung aber fällt der türkischen Regierung zu. Inzwischen ist – auch wenn die Morde noch lange nicht aufgeklärt sind – deutlich geworden, dass sie die Handschrift der Türkei tragen. Recherchen haben ergeben, dass der inhaftierte Hauptverdächtige Ömer Güney in den letzten zwei Jahren zehnmal in die Türkei nach Ankara gereist ist, zuletzt am 18. Dezember, 19 Tage vor den Morden. Die AKP-Regierung muss ebenso zur Aufklärung beitragen, auch wenn dieses Attentat ohne ihr Wissen und Auftrag erfolgt sein sollte. Ansonsten wird die ohnehin bestehende Vertrauenskrise noch stärker als zuvor den Dialogprozess begleiten.

Der neue Dialogprozess und die integrative Strategie

Zweifellos ist die Wiederaufnahme der Gespräche eine sehr positive Entwicklung. Sie entspricht den Forderungen des kurdischen Volkes sowie der demokratischen Öffentlichkeit.
Um ihre Rolle in der Region wahrnehmen zu können, muss die Türkei ihr Haupthindernis – die kurdische Frage – angehen. Auch die westlichen Verbündeten erkennen diese ausweglose Lage der Türkei an und eilen ihr mit Angriffen gegen kurdische Institutionen und Personen in Europa zur Hilfe.

Die kurdische Frage hat eine regionale und eine internationale Dimension. Daher betrifft sie auch internationale Kräfte. Sowie der Ausgangspunkt der kurdischen Frage auf die Politik der internationalen Mächte zurückzuführen ist, wird sich auch die Lösung der kurdischen Frage auf die Kräfteverhältnisse auswirken. Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass hinter diesem neuen Dialogvorstoß der AKP diese internationalen Kräfte zu finden sind oder zumindest fördernd eingewirkt haben. Das Konzept der AKP von Juli 2011 bis Ende 2012 war ein Konzept, das mit Unterstützung der USA und NATO vornehmlich auf militärischen Methoden beruhte. 

Vizepremier Besir Atalay erklärte die umfassende »integrative Strategie«, die auf zwei Pfeilern basiert. Sie hat nicht direkt die Entwaffnung und die Vernichtung der Bewegung zum Ziel, obwohl dies weiterhin das Endziel ist. Diese Strategie sieht vor, mit allen Machtinstrumenten des Staates und der internationalen Absicherung, die kurdische Seite so weit wie möglich zu schwächen. Dazu gehören auch Morde wie die in Paris. Alle erdenklichen Mittel – auch der Dialog – sollen genutzt werden, ohne jedoch die Politik der Repression und Unterdrückung gegen die Bevölkerung und die Guerilla zu lockern. Ziel dieser Strategie ist, die kurdische Seite so weit wie möglich zu schwächen, um sie in das vorgesehene Konzept der AKP-Regierung einzupassen. Die Methode bedeutet, mit Öcalan zu reden, aber seine Genossen zu töten. Während mit Öcalan geredet wurde, wurde das Gründungsmitglied der PKK, Sakine Cansiz, die seit 37 Jahren in der PKK an der Seite Öcalans für den Frieden in Kurdistan kämpfte, ermordet. Die Morde in Paris, vor allem die Ermordung von Sakine Cansiz, waren und sind eine eindeutige Botschaft an Öcalan. Sie sind eine Drohung gegen ihn, um ihn durch die Tötung seiner Genossen unter Druck zu setzen. Sie sind auch eine Drohung an alle führenden Mitglieder der PKK. Sie sind ein Warnsignal an diejenigen, die eine politische Lösung befürworten und Öcalan hierbei eine wichtige Rolle beimessen.

In dieser Phase sind auch einige kleine Schritte des »Entgegenkommens« vorgesehen, wie z.B der Fernsehapparat auf Imrali, die Gesetzesänderung für die juristische Verteidigung in der Muttersprache und Ähnliches. Doch die bisher gemachten kleinen Schritte reichen bei weitem nicht aus, um eine Lösung zu erreichen. Ein notwendiger Schritt in Richtung Lösung wird die verfassungsrechtliche Anerkennung der Kurden sein.

Skepsis gegenüber dem neuen Prozess

Die AKP erklärt zwar, der Dialogprozess halte weiter an und es würden Fortschritte erreicht werden, aber eine entsprechende Verlautbarung ist bislang seitens der kurdischen Befreiungsbewegung sowie ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan ausgeblieben. Die türkischen Medien berichten in einer Art und Weise, dass mensch glauben könnte, der Friedensprozess hätte längst begonnen. Es wird in einer Form berichtet, als wenn die türkische Seite die notwendigen Voraussetzungen erfüllt habe, aber die kurdische Seite das Hindernis darstellt. Die Türkei führt diesen Dialogprozess als Teil der psychologischen Kriegsführung. Diese momentane Phase ist kontraproduktiv. Die Öffentlichkeit wird nur einseitig informiert. Über die Medien wird eine starke Manipulation betrieben. Szenarien wie die, es gebe Unstimmigkeiten zwischen Abdullah Öcalan, der Parteiführung in Qandil, der Europaführung und der BDP, werden aufgebaut und verbreitet. Die AKP-Regierung instrumentalisiert diesen Dialogprozess zur Erpressung der Kurden. Wenn z.B. ein kurdischer Abgeordneter sich nicht nach den Vorstellungen Erdogans verhält, wird ihm die Teilnahme an der Delegation nach Imrali von Erdogan selbst verweigert.

Und auch die Militäroperationen der türkischen Armee halten trotz Verlautbarungen über die laufenden Gespräche weiterhin an. Seit dem 28. Dezember 2012 bis heute haben annähernd 40 Guerillakämpfer bei Gefechten ihr Leben verloren. Mitten im Winter werden die Berge Kurdistans bombardiert. Für die bevorstehende Frühjahrsoffensive des Militärs werden ununterbrochen Militärkräfte an der Grenze zum Irak/Südkurdistan stationiert. Zudem hat der türkische Ministerpräsident Erdogan damit begonnen, die kampferfahrenen Generäle, die er einst im Rahmen der Ergenekon-Verfahren inhaftieren ließ, wieder freizulassen. Mit General Ergin Saygun hat er begonnen, es ist auf die Freilassung weitere Generäle zu achten.

Ein neues äußerst umstrittenes Gesetz, welches das Eigentumsrecht angreift, wurde kürzlich verabschiedet. Das Gesetz sieht vor, dass Personen oder Organisationen wie Vereinen, Stiftungen etc., die verdächtigt werden, den Terrorismus zu unterstützen, das Vermögen eingefroren werden kann. Die BDP zog einen Vergleich mit dem 1942 eingeführten Eigentumssteuergesetz.(2)

Des Weiteren erklärte der türkische Ministerpräsident in dieser Phase, dass es keine kurdische Frage gebe, sondern nur Probleme seiner kurdischen Bürger. Wenn es keine kurdische Frage gibt, was soll denn in diesem Dialogprozess debattiert, verhandelt und gelöst werden? Und Erdogan soll bitteschön erklären, um welche Probleme es sich bei seinen kurdischen Bürgern handelt. Auch davor scheut er sich.

Bei all diesen Gegebenheiten ist es legitim zu vermuten, dass dieser Dialogprozess von der AKP-Regierung erneut als taktischer Schritt gesehen wird, mit dem zum einen die Kommunalwahlen 2013 und 2015 die Parlamentswahlen gerettet werden sollen und zugleich diese Zeit dazu genutzt wird, das Vernichtungskonzept gegen die kurdische Freiheitsbewegung weiter zu perfektionieren. Auch wenn gegenwärtig Gespräche mit Abdullah Öcalan geführt werden, so erinnert die AKP-Herrschaftspolitik doch vielmehr an einen Monolog. Denn sie will bestimmen, wer wann was zu sagen hat.

Ich räume ein, dass ich einen äußerst pessimistischen Rahmen aufgezeigt habe. Ich hätte mir auch nichts mehr gewünscht, als Euch/Ihnen darzustellen, wie dieser Dialogprozess in Verhandlungen gemündet ist und welche wichtigen positiven Schritte bereits unternommen werden konnten. Ich wünschte mir auch sehr, die gute Botschaft vermitteln zu können, dass wir uns dem so ersehnten Frieden weit angenähert haben.

Noch etwas Positives ist zu verzeichnen. Zum ersten Mal hat die Europäische Union mit ihren Organen eine klare positive Position eingenommen. Am 6. Februar wurde eine zweistündige Debatte über die begonnene Dialogphase zwischen der Türkei und Abdullah Öcalan durchgeführt. Die Teilnehmer sagten klar ihre Unterstützung zu und begrüßten diese Entwicklung. [s. S.53 ]

Auch US-Präsident Obama erklärte gegenüber der türkischen Tageszeitung Milliyet seine Unterstützung. Das ist zweifellos zu begrüßen. Aber die Unterstützung des Westens ähnelt in gewisser Weise der Annäherung der AKP an den Dialog, was ungefähr so formuliert werden kann: »Ich will eine Lösung ohne eine Korrektur meiner bisherigen Politik.« Der Westen »unterstützt« ebenso eine politische Lösung der kurdischen Frage, ohne jedoch die Terrorliste in Frage zu stellen. Wie soll mit einer Organisation, die als terroristisch eingestuft wird, hin zu einer Lösung verhandelt werden können? Ist die vermeintliche Ausweglosigkeit bei der Lösung der kurdischen Frage nicht selbst ein Produkt all dieser paradoxen Politik?

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(1) Das CPT hatte sich in der gesamten Zeit der totalen Isolation, in der weder Anwälte noch Familienangehörige auf die Insel durften, trotz unterschiedlicher Protestaktionen des kurdischen Volkes, geweigert, auf die Insel Imrali zu fahren. Die Frage nach der Unabhängigkeit des CPT ist legitimer als je zuvor. Lässt es sich instrumentalisieren oder welche Rolle spielt es?

(2) Das Eigentumssteuergesetz wurde am 11. November 1942 als Teil der »Türkisierungsbewegung « erlassen. Ziel dieses Gesetzes war, in Großstädten nichtmoslemische Händler vom Markt zu verdrängen. Viele mussten ihre Häuser, Unternehmen etc. verkaufen, um die hohen Steuern bezahlen zu können.

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* Die aktuelle Bewertung von Songül Karabulut aus der kommenden Printausgabe des Kurdistan Reports (Nr.166 März/April 2013)

Der Kurdistan Report erscheint alle zwei Monate und ist abonnierbar über folgende Mailadresse: kr@nadir.org

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