Die Dialektik der Frauengesetze in Rojava

Andrea Benario zum Verhältnis von Recht und Moral, für den Kurdistan Report März/April 2017

Das Erringen und die Umsetzung von Frauenrechten war und ist ein wesentliches Anliegen feministischer und progressiver Kämpfe in Europa. Während erkämpfte Rechte wie beispielsweise das Wahlrecht, Bildungsrecht, Scheidungsrecht oder Gewaltschutzgesetze einerseits dazu führten, dass Frauen an Selbstbewusstsein und Handlungsmöglichkeiten hinzugewannen, stellte sich andererseits bei vielen der Trugschluss ein, Frauen seien de facto »frei« und »gleich«. Jedoch zeigt uns die alltägliche Realität von Frauen in Europa, dass die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern nicht ausreicht, patriarchale Strukturen zu überwinden, geschweige denn patriarchale Gewalt zu beenden. Vielmehr besteht das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlich erkämpften, aber staatlich niedergeschriebenen Gesetzen einerseits und gesellschaftlicher Moral und Ethik andererseits weiter fort. Die patriarchale, liberalistisch-kapitalistische Ordnung wurde durch die formale Anerkennung demokratischer Grundrechte von Frauen nicht erschüttert. Vielmehr konnten sexistische und rassistische Ausbeutung, Konkurrenz, Egoismus und Besitzdenken weiterhin gefördert werden, da es nicht gelang, die progressiven rechtlichen Normen in einer freiheitlichen, solidarischen Ethik zu verankern, die auf kollektiven moralischen Werten wie Empathie und gesellschaftlicher Verantwortung beruht.

Die Revolution und der Aufbau der Demokratischen Autonomie in Rojava wird immer wieder als eine »Frauenrevolution« bezeichnet. Was macht eine Frauenrevolution aus? Was bedeutet sie im Alltag? Wie fühlt sie sich an? Was hat sich im sozialen Leben, in den Familien, in den Rollenzuschreibungen in den letzten sechs Jahren in Rojava verändert? Welche Schwierigkeiten und Hindernisse gibt es? Was wurde erkämpft, und was müssen wir uns noch erkämpfen?

Die aktuellen Debatten rund um die »Frauengesetze« in Rojava und Entwicklungen, die in diesem Kontext angestoßen wurden, können meiner Meinung nach einige Eindrücke vermitteln, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Definition gemeinsamer Prinzipien und Ausarbeitung eines Gesellschaftsvertrages waren wichtige Schritte für den Aufbau der Demokratischen Autonomie in Rojava und der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Jedoch bestand von Anfang an ein Bewusstsein dafür, dass der Aufbau einer demokratischen, ökologischen Gesellschaft auf der Grundlage der Frauenbefreiung nur dann gelingen kann, wenn diese Kriterien auch in der gesellschaftlichen Moral und Ethik verankert werden. Derzeit sind an vielen Orten in Rojava – sei es auf politischen Versammlungen oder auf Konferenzen des Frauenkongresses Kongreya Star, sei es in den Kommunen, in den Familien, auf den Straßen oder beim Teetrinken in der Nachbarschaft – die sogenannten »Frauengesetze« ein immer wieder heiß diskutiertes Thema.

Wie entstanden die »Frauengesetze«?

Mit der Gründung des Gesetzgebenden Rates der Demokratischen Autonomie im Kanton Cizîrê bildete sich am 21.01.2014 zugleich ein Frauenausschuss mit der Zielsetzung, eine offizielle Vertretung der Frauen und ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen, politischen und rechtlichen Interessen zu sein. In diesem Sinne fand eine kontinuierliche und enge Zusammenarbeit mit Kongreya Star und anderen Frauenorganisationen, mit Frauen aus den Kommunen, aus verschiedenen religiösen und nationalen Gemeinschaften statt. Im Dialog und in Zusammenarbeit konnten sie in den letzten zwei Jahren – trotz der schwierigen Umstände von Krieg, Embargo und knappen finanziellen Mitteln – eine Reihe an Projekten initiieren und realisieren, die Veränderungen im Leben von Frauen in Rojava bewirkten. Die Vorsitzende des Frauenausschusses Emîne Omer beschreibt den Anfang ihrer Arbeiten mit den Worten: »Zu Anfang waren wir nur wenige Frauen, die bereit waren, die Last der Verantwortung auf sich zu nehmen. Wir hatten noch nicht einmal eigene Räume, aber wir haben uns mit großer Freude an die Arbeit gemacht. Um die Gewalt gegen Frauen zu stoppen, haben wir als erstes Frauenzentren, ›Malên Jinê‹ ((Malên Jinê (Mehrzahl) – Mala Jinê (Einzahl), wörtliche Übersetzung: Frauenhäuser, von der Funktion her sind Malên Jinê Frauenberatungs- und Solidaritätszentren für rechtliche und soziale Probleme von Frauen.)), aufgebaut.«

Von der Feststellung ausgehend, dass Männerherrschaft, patriarchale Gesellschaftsstrukturen, patriarchale Gesetze und Regeln die Ursache für viele Probleme von Frauen sind und die Entwicklung von Frauen behindern, hielt es der Frauenausschuss für notwendig, Gesetze zu erlassen, die Frauen und ihre Rechte in der Demokratischen Autonomie stärken. In einem Diskussionsprozess mit Frauenorganisationen, mittels Frauenversammlungen in den Kommunen und verschiedenen Religionsgemeinschaften wurde ein Entwurf über »die grundlegenden Prinzipien und allgemeinen Anordnungen bezüglich der Situation und Rechte von Frauen« erarbeitet. Dieser Entwurf wurde am 1. November 2014 durch den Gesetzgebenden Rat der Demokratischen Autonomie angenommen. In der Einleitung heißt es: »Da die Sicherung der Freiheit und der Rechte von Frauen ein grundlegendes Ziel der Demokratischen Autonomie ist, müssen alle Angelegenheiten von Frauen gelöst und gesichert werden, so dass sich Frauen auf allen Ebenen weiterentwickeln, ein schönes Leben verwirklichen, sich und ihre legitimen Rechte gegen jegliche Form von Unterdrückung und Gewalt verteidigen können. Deshalb haben wir für den Aufbau einer demokratischen, ökologischen und freien Gesellschaft eine Reihe von grundlegenden Prinzipien und allgemeinen Anordnungen in Bezug auf Frauen erlassen, die ihre Gleichberechtigung mit Männern im privaten und öffentlichen Leben sicherstellen sollen.«

Prinzipien

Unter den 30 grundlegenden Prinzipien befinden sich u. a.: umfassende politische Rechte wie das Prinzip des Co-Vorsitzes auf allen Ebenen, das Recht auf autonome Frauenorganisierung, die Berücksichtigung des Willens von Frauen bei Entscheidungen und Gesetzgebungen, die Frauen betreffen. Das Recht auf gleiche Chancen und gleichen Lohn in der Lohnarbeit wurde festgeschrieben. Jegliche Form von Sexismus und Gewalt gegen Frauen wurde verboten und »es ist die Pflicht aller, gegen herrschende und rückschrittliche Einstellungen anzukämpfen«. Hierzu gehört auch das Verbot von Formen sexistischer Gewalt, die jahrhundertelang durch islamisches Gewohnheitsrecht legitimiert wurden, wie beispielsweise das Verheiraten von minderjährigen Frauen/Mädchen, gegen den Willen von Frauen arrangierte Ehen, polygame Ehen von Männern, das einseitige Scheidungsrecht der Männer, die Ungleichbehandlung von Frauen bei der Verteilung des Familienerbes oder bei Zeugenaussagen vor Gericht. Täter von sogenannten »Ehrenmorden« bekommen keine »straferleichternden Umstände« mehr zuerkannt – wie es im syrischen Strafrecht der Fall ist –, sondern werden als Schuldige entsprechend der normalen Gesetzgebung für Morde bestraft. »Brautgeld« wird abgeschafft, da es bedeutet, Frauen zur Ware zu machen. Bei Gerichtsverfahren, die die privaten Rechte von Frauen und das Familienrecht betreffen, muss eine Vertreterin von Fraueneinrichtungen in beratender Funktion anwesend sein.

Bekanntmachung und Umsetzung

Seit dem Erlass der Frauengesetze führten Frauen aus allen Einrichtungen und von Kongreya Star Kampagnen für deren Bekanntmachung und Akzeptanz durch. Sara Xelîl von Kongreya Star erzählt: »Zuerst haben wir uns mit den Frauen getroffen und in traditionellen kurdischen Kleidern gekleidet in den Städten Flugblätter mit den Texten der Frauengesetze verteilt. Danach haben wir in allen Stadtvierteln und Dörfern Versammlungen mit der Bevölkerung organisiert, auf denen wir über die Gesetze diskutiert haben. Zu Anfang war die Reaktion der Männer sehr ablehnend, aber so langsam akzeptieren sie die Gesetze.« Mittlerweile sind die Inhalte der Frauengesetze ein fester Bestandteil der Bildungsprogramme an den Schulen und in vielen Akademien für Volksbildung geworden.

Desweiteren wurde für die Verwirklichung der Prinzipien der Frauengesetze ein Netz von lokalen Frauenorganisationen aufgebaut. So gibt es beispielsweise mittlerweile flächendeckend in allen Städten der drei Kantone Rojavas Malên Jinê und sozialpsychologische Frauenberatungsstellen, um Frauen, die körperliche, seelische und sexistische Gewalt erfahren haben, sowie um ihre Kinder zu schützen und zu unterstützen. Diese Einrichtungen richten sich auch an Frauen, die von Gewalt im Namen der »Ehre« bedroht sind. Ergänzend hierzu wurden Frauenschutzhäuser und eine Notrufnummer bei der Asayişa Jin ((Asayişa Jin, wörtliche Übersetzung: Frauensicherheit. Eine Art Frauenpolizei, die als autonome Frauenstruktur in den allgemeinen Asayiş (Sicherheitskräften) organisiert ist.)) eingerichtet, die 24 Stunden durchgehend besetzt ist.

Mit der Gründung von Frauenkooperativen wurde zur Verbesserung der ökonomischen Situation von Frauen und ihrer Eigenständigkeit beigetragen. Durch kollektive Arbeit von Frauen gelang es, die Isolation von Frauen zuhause, ihre Abhängigkeit von (Ehe-)Männern und das Monopol der Männer über die Wirtschaft in der feudalen Gesellschaft von Rojava aufzubrechen. Emîne Omer berichtet: »Vor zwei Jahren fingen wir mit dem Aufbau von Kindergärten an. Heute besucht eine große Zahl von Kindern, deren Mütter arbeiten, unsere Kindergärten in Amûdê, Qamişlo und Hesekê. Da es viele Kinder mit Behinderungen gibt, haben wir den Nachfragen von Müttern entsprechend ein Zentrum für Kinder mit besonderen Bedürfnissen eröffnet. In Rimêlan haben wir ein Haus für elternlose Kinder errichtet. Hier können Waisenkinder und Kinder, die Gewalt erfahren haben, gemeinsam aufwachsen.«

Durch diesen institutionellen Aufbau wurden Rahmenbedingen geschaffen, die es alleinlebenden Müttern ermöglichen, für sich und ihre Kinder zu sorgen. Bislang war allein die Vorstellung kaum möglich, Frauen könnten nach einer Scheidung oder nach dem Tod ihres Ehemanns eigenständig leben. Viele dieser Frauen waren zuvor entweder gezwungen, in die Familie ihrer Eltern zurückzukehren, oder aber erneut zu heiraten, wobei ihre Kinder dann zumeist an die Schwiegereltern übergeben wurden. Denn nicht die Mutter der Kinder sondern der Vater und seine Familie hatten das Recht, über die Kinder zu bestimmen. Auch diesbezüglich wurde in den Frauengesetzen ein neues Prinzip eingeführt. Unter Punkt 25 heißt es: »Wenn es zur Scheidung kommt, hat die Mutter für ihre Kinder bis zum Alter von 15 Jahren das Erziehungsrecht unabhängig davon, ob sie erneut heiratet oder nicht. Kinder über 15 Jahren können selbst bestimmen, ob sie bei der Mutter oder beim Vater leben wollen. Mutter und Vater tragen die Verantwortung für die Unterbringung und Versorgung der Kinder.«

Probleme und Widersprüche – Allein die Frauengesetze reichen nicht aus!

Trotz allem gibt es Probleme bei der Umsetzung und Durchsetzung der Frauengesetze. Hierzu sagt Welîda Botî, Vorstandsmitglied von Kongreya Star im Kanton Cizîrê: »Als Frauen und Fraueneinrichtungen haben wir es immer noch nicht geschafft, Frauenmorde in jeglicher Weise zu verhindern. Die Ursache für Frauenmorde und -selbstmorde ist die herrschende Mentalität, die wir immer noch nicht vollständig beseitigt haben.« Manchmal wird die Umsetzung von Beschlüssen, die von Mala Jinê in Fällen von Verstößen gegen die Frauengesetze gefällt wurden, durch die Kommunen blockiert. Oder die Frauengesetze werden untergraben, indem durch die Frauengesetze verbotene Formen von Eheschließungen ((Heyirandin (Eine Tradition, der zufolge der Cousin väterlicherseits erklärt, dass er seine Cousine väterlicherseits heiraten will. In diesem Fall darf die Cousine keinen anderen Mann heiraten. In manchen Fällen bleibt es allein bei der Willensbekundung, worauf die Frau bis zum Lebensende unverheiratet bleiben muss.) und Berdêlî (Zwei Familien vereinbaren die Heirat von jeweils einer Tochter und einem Sohn der einen Familie mit einem Sohn und einer Tochter der anderen Familie. Die Kinder haben kein Mitspracherecht. Kommt es später bei einem Paar zur Scheidung, ist auch das andere Paar gezwungen, sich scheiden zu lassen.) sowie die Heirat zur Beilegung von Blutfehden sind laut Punkt 16 der Frauengesetze verbotene Formen der Eheschließung.)) in Südkurdistan oder über die syrischen Behörden in Damaskus vollzogen oder nur informell durch einen Imam abgesegnet werden.

Zwar gibt es aufgrund von Sanktionen rückläufige Zahlen bei Verheiratungen von unter 18-jährigen Frauen und polygamen Eheschließungen, jedoch beschreibt Ilham Umer, Vorstandsmitglied der Frauenzentren Malên Jinê im Kanton Cizîrê, diese beiden Formen von Frauenrechtsverletzungen als Hauptproblemfelder: »Im Jahr 2016 hatten die meisten Fälle, die zu Mala Jinê kamen, mit polygamen Eheschließungen und Verheiratungen von Minderjährigen zu tun. Obwohl die Frauengesetze bereits 2014 beschlossen wurden, gab es wieder Probleme in dieser Hinsicht. Deshalb haben wir erneut eine Aufklärungskampagne zur besseren Bekanntmachung der Frauengesetze gestartet. Bei Problemen versuchen wir, so gut es geht, Lösungen im gegenseitigen Einverständnis beider Parteien zu erreichen. Wenn jedoch keine Lösung möglich ist, geben wir die Fälle an Dada Jinê ((Dada Jinê, wörtliche Übersetzung: Frauengerechtigkeit, d. h. die Frauenkommissionen an den Gerichten)) weiter. In Fällen von unmittelbarer physischer Gewalt oder Morddrohungen wird auch die Asayişa Jin eingeschaltet. Unsere Arbeit ist gesellschaftlich und beruht auf Verständigung, wenn wir die Fälle jedoch an die Gerichte weitergeben, dann werden sie zu gesetzlichen Angelegenheiten. Im Durchschnitt hat jedes Mala Jinê monatlich mit 50 Problemfällen zu tun, wovon wir ca. 20 auf der Ebene von gegenseitiger Verständigung lösen können.«

Necah Emin von der Organisation zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen SARA bestätigt: »Unter den Frauengesetzen sind das Gesetz, das das Verheiraten von minderjährigen Mädchen/Frauen verbietet, und das Gesetz gegen polygame Ehen die umstrittensten. Es gibt immer wieder Fälle, in denen diese Gesetze untergraben und umgangen werden. Einige behaupten, diese Rechtsprechung entspreche nicht der gesellschaftlichen Realität oder sie sei ›zu früh‹ eingeführt worden. Hauptsächlich Männer stellen sich dagegen, aber es gibt auch Frauen. Sie argumentieren, das Gesetz würde Pros­titution befördern, da eine Frau nicht in der Lage sei, die sexuellen Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen. Des Weiteren behaupten sie, dass durch Krieg und Migration ein Überschuss an Frauen bestünde und deshalb Mehrfachheirat für Männer erlaubt werden müsse, damit alle Frauen unter der Obhut eines Mannes leben könnten.«

Anfänglich wurden die Mitarbeiterinnen von Frauenzentren wie Mala Jinê oder SARA häufig belächelt oder gar bedroht. Jedoch haben sie sich mit ihrem unermüdlichen Engagement und ihrem Lösungsvermögen zunehmende Achtung erkämpft. Ältere und junge Frauen arbeiten hier gemeinsam, tauschen Lebenserfahrungen und Wissen aus. Insbesondere ältere Frauen werden als positive Autoritäten geachtet und ernst genommen, da sie sich darum bemühen, eine gerechte Lösung zu finden und zu vermitteln. Kurdische und arabische Frauen kommen hierher, um ihr Recht auf Erbanteile oder Unterhaltszahlungen des Vaters durchzusetzen oder um Auswege aus Gewalt und Not zu finden. Heute sind Malên Jinê zu Einrichtungen geworden, an die sich manchmal auch Männer wenden, um Rat zu suchen, wenn sie selbst unfähig sind, Familienprobleme zu lösen.

Auch Xeliya von der Dada Jinê aus Dêrîk erzählt von den Schwierigkeiten, die sie beim Aufbau des alternativen Rechtssystems nach der Verdrängung des Baath-Regimes 2012 meistern mussten, und ihren fortbestehenden Widersprüchen: »Als wir mit dieser Arbeit begonnen haben, waren wir selbst sehr schwach. Ich war bis dahin selbst kaum von zuhause rausgekommen und dann war ich auf einmal mit sehr schweren Problemen von Frauen und sämtlichen Problemen der Gesellschaft konfrontiert. Manchmal wusste ich selbst nicht mehr, was ich tun soll, und mir sind aus Verzweiflung darüber die Tränen gekommen. Wir haben mit den Frauen, die tiefe Schmerzen erlebt haben, gemeinsam geweint. Aber langsam gewannen wir an Erfahrung hinzu. Anfangs hörten wir zumeist auf das, was unsere männlichen Kollegen sagten, weil wir es so gelernt hatten. Aber dann kamen wir mit den anderen fünf Frauen, die damals in dieser Arbeit waren, immer häufiger zusammen. Zuerst weinten wir gemeinsam, aber dann begannen wir immer öfter, uns auszutauschen und über Lösungen zu diskutieren. Unsere Diskussionen unter Frauen, unsere ständigen Selbstreflektionen und Hinterfragungen waren Kraftquelle dafür, den richtigen Lösungsweg zu finden. Indem wir uns fragten ›was bedeutet Frauengerechtigkeit?‹ gewannen wir auch das Selbstbewusstsein, unseren männlichen Kollegen zu widersprechen und unsere eigene Meinung zu vertreten. Wir erarbeiteten uns unsere eigenen Grundlagen. Aufgrund unserer Sozialisation haben wir unterschiedliche Zugänge zu gesellschaftlichen Problemen, nehmen das gleiche Ereignis auf unterschiedliche Weise wahr und kommen zu anderen Schlussfolgerungen.«

Gerade an dem heiß diskutierten Thema, dem Verbot der polygamen Ehe, erlebte Xelîya die Diskrepanz zwischen allgemeingültigen Frauenrechten und einer spezifischen Situation: »Allein die Frauengesetze reichen nicht aus, die Mentalität und die Moral der Gesellschaft müssen sich ändern. Vor der Revolution war es gang und gäbe, dass Männer sich aus wirtschaftlichen Gründen mehrere Frauen ›holten‹. Das war für Frauen zumeist eine ganz schlimme Situation, sie wurden benutzt und gegeneinander ausgespielt. Doch jetzt drängen manche Männer ihre Ehefrauen zur Scheidung, um eine neue Frau heiraten zu können. Das wird von der Ex-Frau häufig als noch viel erniedrigender wahrgenommen. Letztens musste ich einen Fall behandeln, der mich sehr zum Nachdenken brachte: Zwei Frauen hatten sich mit einem Mann darauf verständigt, in einer polygamen Ehe zu leben. Laut der Regelungen der Frauengesetze muss die Ehe mit der zuletzt angeheirateten Frau als nicht zulässig geschieden werden. Doch keine der beiden Frauen wollte diese Scheidung. Ich musste mit ansehen, wie sie vor Unglück weinten. Auch der Mann war sehr traurig. Da fragte ich mich, welches Recht habe ich, diese Menschen unglücklich zu machen? Mein Mitgefühl für die Frauen sagte mir ›lass sie doch so leben, wenn sie das so wollen‹, aber das Gesetz, das durch den Willen und zum Schutz von Frauen beschlossen wurde, sagt etwas anderes.«

Diskussionen, Aufklärung und Bildungsarbeit

Im Dezember 2016 fand zu den Problemen bei der Umsetzung der Frauengesetze eine breite Diskussionsplattform mit Mitgliedern der unterschiedlichen Arbeitsbereiche von Kongreya Star, des Frauenausschusses und der Dada Jinê aus den Kantonen Cizîrê und Kobanê statt. Fragestellungen waren, ob die andauernden Verstöße gegen die Prinzipien der Frauengesetze auf unzureichendem Wissen oder aber auf mangelnder Akzeptanz in der Bevölkerung basieren. Des Weiteren wurde darüber diskutiert, ob aus Sicht der Frauenbewegung eine Überarbeitung der Gesetze notwendig sei. Abgesehen von einigen kleinen Ergänzungs- und Änderungsvorschlägen, betonten vielmehr viele Frauen die Wichtigkeit, die in den Gesetzen festgehaltenen Prinzipien zu verteidigen, da sie vielen Frauen Mut und Kraft gegeben haben, den Kampf gegen sexistische Gewalt und Diskriminierung in der Öffentlichkeit und im Privatleben aufzunehmen. Jedoch wurde zugleich angemerkt, dass die eigentliche gesellschaftliche Veränderung und Befreiung nicht durch Gesetze, sondern nur durch Frauenorganisierung und die Erarbeitung eines kollektiven Verständnisses von Gerechtigkeit und sexistischem Unrecht erfolgen kann. Auf diesem Weg sind die Frauengesetze ein Mittel, Widersprüche aufzudecken und Prinzipien des Zusammenlebens neu zu definieren und zu gestalten.

Vor diesem Hintergrund wurde auch über die Einführung der Frauengesetze in Gebieten wie Girê Sipî, Holê oder Minbic mit überwiegend arabischer Bevölkerung diskutiert. Während die kurdische Frauenbewegung in den Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê durch ihre langjährige Bildungs- und Organisierungsarbeit insgesamt eine generelle Zustimmung in der Bevölkerung erfährt, gab es in den Gebieten, die erst im Laufe der letzten zwei Jahre durch Einheiten der YPG/YPJ und QSD von der Schreckensherrschaft des IS befreit wurden, bislang kaum Aktivitäten der kurdischen Frauenbewegung. Dies nutzten einige dazu, die Behauptung aufzustellen, die Frauengesetze würden die arabische Gesellschaft überfordern oder abschrecken. Da sich die örtlichen Volks- und Frauenräte in den neu befreiten Gebieten für den Beitritt zur Demokratischen Autonomie bzw. zur Demokratischen Föderation Nordsyrien ausgesprochen haben und es dementsprechend in grundlegenden Fragen gemeinsame Prinzipien geben muss, stellt sich hier vielmehr die Frage, ob einige Kreise diese Situation als einen Vorwand nutzen wollen, die Frauengesetze insgesamt infrage zu stellen. Deshalb beschlossen die Teilnehmerinnen der Diskussionsplattform, in allen Kommunen verstärkte Aufklärungs- und Bildungsarbeit durchzuführen. In den neu befreiten Gebieten sollen die Gesetze nach dieser Phase verbindlich geltend gemacht werden. Insgesamt gibt es mit der zunehmenden Vermittlung der Inhalte der Frauenrechte eine sehr positive Resonanz in der arabischen Bevölkerung. Viele arabische Frauen fühlen sich durch die Errungenschaften und die Stärke der kurdische Frauenbewegung ermutigt. Hîba, eine junge arabische Frau, erzählt: »Mir hat es imponiert, wie sich die kurdischen Frauen den öffentlichen Raum erobert und in allen Bereichen die Verantwortung übernommen haben. Das wollte ich auch tun, deshalb arbeite ich nun bei der Asayişa Jin.«

In Diskussionen mit Frauen aus den christlichen Communities höre ich immer wieder: »Wir haben keine Probleme mit den Frauengesetzen. Polygamie oder Zwangsheirat gibt es bei uns nicht. Männer und Frauen sind bei uns gleichberechtigt.« Als ich sie jedoch nach ihrer Meinung zum Scheidungsrecht ((Artikel 14 der Frauengesetze: »Beide Seiten haben das Recht, die Scheidung zu beantragen. Die Scheidung erfolgt mit der Zustimmung beider Seiten.«)) frage, lauten die Reaktionen: »Nein, Scheidung gibt es bei uns nicht. Das ist Sünde! Das Gesetz kann für die MuslimInnen gut sein, aber bei uns geht das nicht. Die Ehe ist heilig.« Einige Tage nach unserem Treffen mit Frauen aus den christlichen Communities erhielt eine Kommunemitarbeiterin von Kongreya Star die Nachricht, dass einer syrianischen Frau durch ihren Ehemann der Kopf eingeschlagen worden sei und Hilfe für sich und ihre Kinder brauche …

Ohne konkrete Zahlen zu wissen, ist häufig davon die Rede, dass es in der kurdischen Gesellschaft seit Beginn der Revolution in Rojava einen Anstieg von Scheidungen gegeben habe. Hierfür kann es eine Reihe von Gründen geben, die mit den Bedingungen von Krieg, gesellschaftlicher Umwälzung, neuen rechtlichen und sozialen Möglichkeiten zusammenhängen. Daneben ist eine Ursache, dass Frauen an Selbstbewusstsein hinzugewonnen haben und heute nicht mehr akzeptieren, unterdrückt oder bei Entscheidungen ausgeschlossen zu werden. Der Geschlechterkampf findet nicht nur in der politischen Arbeit und im öffentlichen Raum statt, sondern auch in den Familien. Das ist ein Ausdruck des wachsenden Bewusstseins und der Kraft von Frauen, die sie im Zuge der kontinuierlichen Kämpfe und der autonomen Organisierung der Frauenfreiheitsbewegung in Kurdistan entwickelt haben.

Aron, ein Internationalist aus dem Iran, gibt zu: »Von Teheran aus gesehen dachte ich immer, die kurdische Bewegung würde das Thema der Frauenbefreiung taktisch benutzen, um mehr Frauen zu mobilisieren. Aber hier in Rojava habe ich erlebt und gespürt, dass es wirklich um eine ganz fundamentale Frage geht. Die Frauenbefreiung ist der Kern der Revolution. Die Frauen meinen es ernst!«

Nachspann: Gerüchteküche

Immer wieder kursieren neue Gerüchte bezüglich der Frauengesetze. So fragte mich eine Frau vor einigen Tagen: »Mein Partner behauptet, dass die Frauengesetze derzeit neu diskutiert werden und dass das Verbot der polygamen Ehen wieder aufgehoben werden soll. Stimmt das?« Ich antwortete ihr: »Nein, von einer solchen Diskussion habe ich nichts gehört. Im Gegenteil, unter den Mitarbeiterinnen von Kongreya Star wird derzeit darüber diskutiert, wie die Gesetze auch in den neu befreiten Gebieten der Föderation Nordsyrien besser bekannt gemacht und umgesetzt werden können.« Da lachte sie auf und antwortete mit einem Strahlen in den Augen: »Ich wusste doch, dass uns unsere Frauen nicht im Stich lassen werden! Es gibt kein Zurück. Ein würdeloses Leben in Unterdrückung können wir niemals mehr akzeptieren.«