Die Dörfer Kandils in der Mittelostpolitik

Eine Reportage von Esma Mikyaz über ihren Aufenthalt in Kandil angesichts der Besatzungsangriffe des türkischen Staates auf Südkurdistan, 17.07.2018

Erdoğan hat mit seiner Propaganda während der Wahlphase, dass in Kandil türkische Fahnen wehen werden, vom Neuen die Macht in der Türkei gewonnen. War die Propaganda in der es hieß, dass man in Kandil einmarschieren könne, wann immer man wolle, nur auf die Wahlphase begrenzt? Die in Kandil lebenden Dorfbewohner, die ich noch vor den Wahlen traf, erklärten beharrlich, dass dies nicht der Fall sei. Ich schreibe beharrlich, weil sie mit den in der Region befindlichen Guerillas der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) diese Frage intensiv diskutieren. Sie erklärten, dass der türkische Staat und erst Recht die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) keine kurzfristigen Politiken verfolge. Sie brachten zur Sprache, dass die AKP eine langfristige Politik verfolge um den Machterhalt von Erdoğan zu gewährleisten.

Die Dorfbewohner aus Kandil bewerten mit ihrer politischen Voraussicht nicht nur die aktuelle Politik. Sie verfügen über einen bedeutenden Erfahrungsschatz an Geschichte und Politik. Nicht nur über die Geschichte der PKK, sondern über aller Parteien in der Geschichte Kurdistans. Denn alle haben in Kandil Platz gefunden. Deshalb darf man sich nicht den Dörfern Kandils nicht auf gewöhnliche Art und Weise annähern. Es wäre ungenügend Kandil nur auf die PKK zu begrenzen, da hier kurdische politische Bewegungen vertreten waren, wie die Komalah, die Kommunistische Partei Kurdistans, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), die Patriotische Union Kurdistans (YNK) und kurdische-iranische sowie islamische Parteien. Dies wäre ein Thema für einen anderen Artikel. Doch es ist in allen Dörfern, Weiden, Tälern und Klippen Kandils möglich die Geschichte der kurdischen Politik zu erkennen. Deshalb ist das Thema jedes Besuchs von Guerillas in den Dörfern Kandils sofort Politik.

Politische Diskussionen drehen sich um die Themen der Verteidigung der kurdischen Gesellschaft bis zur Frage wie die besetzten Gebiete befreit werden können. Egal wie alt die Person ist mit der man diskutiert, alle verfügen über eine gewisse Erfahrung. Wenn das Alter die 45 Jahre übersteigt werden die Namen von Mustafa Barzani und Nawschirwan genannt. Wenn das Alter der Person mit der man diskutiert die 55 übersteigt, gehen die Beispiele noch weiter zurück. Es wird dann über Mehmûd Berzincî und die englische Politik diskutiert. Abschließend geben sie den Rat mit; „die Kurden haben außer den Bergen keine Freunde“. Das ist ihre wichtigste Warnung an die kurdische Gesellschaft.

Die Beziehung zwischen den Dorfbewohnern Kandils und den PKK-Guerillas habe ich aus der Nähe kennenlernen können, als ich für die Aufnahme eines Programms für den Sender Medya Haber in der Region war. Während die PKK-Guerillas die Dorfbewohner mit Respekt anhörten, nährten sich auch die Dorfbewohner den PKK-Guerillas mit Dankbarkeit an. Die alte Politik des Spezialkriegs der KDP und des türkischen Staates, dass die PKK eine nordkurdische Organisation und nur Gast sei, ist vollständig zerbrochen. Die PKK ist eine kurdische Partei und wird als eine Kraft anerkannt, die positive Veränderungen im gesellschaftlichen Leben der Kurden bewirken kann.

Was mich während meines Aufenthalts in Kandil am meisten überraschte, war das große Vertrauen gegenüber der PKK auch von Dorfbewohner die einer anderen Partei angehörten. Denn sie sehen, dass die politischen und militärischen Offensiven der PKK sich auf ihre eigene Stärke stützen. Sie sagen; „wenn die PKK eine Entscheidung getroffen hat, wird dies seine Gründe haben“. Sie verfolgen aus nächster Nähe die politischen Bewertungen der PKK und diskutieren diese ausführlich.

Ich möchte dies mit einigen Beispielen veranschaulichen. Es war noch zu Anfang der Besatzung Afrins, als mich eine Gruppe von Guerillas zu meinem Zielort begleitete. Wir hielten im Garten eines alten Ehepaars für eine Tee-Pause. Der alte Onkel namens Mam Xıdır erzählte mit großer Begeisterung vom Widerstand in Afrin. Die Kurden kämpften solch eine lange Zeit gegen die Kräfte der NATO, die Türkei und Russland. Er sagte: „Wir dürfen niemals den herrschenden Kräften vertrauen, Mahabad ist immer noch an unserer Seite.“ Seine Worte waren eine wichtige politische historische Bewertung. Er ordnete die Allianz Russlands mit der Türkei gegen die Kurden in einen historischen Kontext ein.

Jede Bekanntschaft in einem Dorf Kandils war wie ein Wurf auf die politische Arena. Sie diskutierten intensiv mit der Guerilla. Dabei sind sie sich ihrer Rolle als politischer Akteur bewusst. Denn sie wissen, dass auch die PKK-Guerillas ein wichtiger Akteur in der Region und Diskussionen mit diesen bedeutend sind. Vor den Wahlen in der Türkei sprach ich mit einigen von den Dorfbewohnern. Ihre Antworten waren oft klarer und präziser als die von Akademikern.

Die wichtigste Meinung für mich war die von Mam Xıdır. Er ist ein alter Peschmerga. Er kann die Wirkung des Krieges auf die Politik und die der Politik auf den Krieg gut erkennen. Zudem hat er seine eigene persönliche Erfahrung gemacht. Ich habe ihm die Frage gestellt, was nach den Wahlen passieren wird, wo doch die Militäroperation auf Kandil auf der Tagesordnung stehe. Seine Antworten waren sehr interessant:

„Das Geschäft mit Erdoğan ist für die Herrschenden noch nicht beendet. Deshalb wird er erneut an die Macht kommen. Sie haben noch offene Rechnungen in Syrien und Iran. Deshalb wird das Wahlergebnis zugunsten von Erdoğan ausfallen. Wenn du nach der Kandil-Operation fragst, dann ist diese nicht im Zusammenhang mit den Wahlen zu verstehen. Die Kandil-Operation richtet sich gegen die PKK, die den Willen der Kurden am stärksten verteidigt. Sie möchten den Willen der kurdischen Gesellschaft brechen. Die südkurdischen Kräfte sind entweder sehr gespalten, oder unter Kontrolle gebracht. Die PKK ist es, deren Stimme überall hin reicht und die in allen vier Teilen Kurdistans einflussreich ist. Man möchte die PKK auch zerschlagen, weil sie nicht offen für eine Instrumentalisierung durch die USA ist. Das sind für den türkischen Staats als Erzfeind der Kurden ausgeprägte Gründe, doch reichen alleine nicht aus. Darüber hinaus sind die Augen von Erdoğan mit seinen neo-osmanischen Träumen auf Mosul und Kirkuk gerichtet. Um diese Träume zu verwirklichen, muss die PKK zerschlagen werden. Es geht also um einen gemeinsamen Nenner der Herrschenden. Deshalb wird Erdoğan leider der Gewinner der Wahlen sein.“

Dies waren die Worte von Mam Xıdır. Später erfuhr ich, dass er in Kontakt mit der PKK trat, als es sonst noch niemand in den Dörfern tat. Dadurch hat er aus den politischen Erfahrungen der PKK in der Türkei lernen können. Er selbst teilt sein Wissen über die Politik in Südkurdistan mit den PKK-Guerillas. Das spiegelt die die Einheit der Kurden wieder. „Wenn es die PKK gibt, dann gibt es alles. Sonst werden die Kurden unterdrückt oder vernichtet werden“, sagt Mam Xıdır.

Nun kommen wir zu den Worten von Mam Resul.

Nach unserem Gespräch mit Mam Xıdır waren wir mit den Guerillas schon wieder in den Tälern von Kandil unterwegs. Auf dem Weg machten wir die Bekanntschaft mit Mam Resul. Auch ihn fragten wir nach der Politik in Südkurdistan. Er meinte, dass die südkurdische Regionalregierung seit ihrer Gründung von den USA stets in Abhängigkeit sei. Mam Resul erzählte mit historischen Beispielen, dass die USA jederzeit bereit sei die kurdische Regionalregierung und die dort lebende Bevölkerung dem türkischen Staat auszuliefern.

Die Dörfer, Berge, Ebenen und Täler Kandils waren Zeugen großer Kriege. Diese Dörfer, die den ersten Golfkrieg, den Krieg zwischen den Peschmerga  und dem Baath-Regime, die Anfal-Operation, den Krieg zwischen der PKK und KDP sowie YNK miterlebten, wissen was falsche und richtige Politik für Folgen haben kann. Diese Erfahrung teilen sie mit der PKK. Die PKK hingegen ist mit den Dorfbewohner im engen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Austausch. Es besteht eine sehr enge Beziehung. Das ist normal, denn die Kindern und Enkel vieler Dorfbewohner sind PKK-Guerillas. Die PKK kämpft als eine kurdische Organisation. Die Dorfbewohner erzählen ihren Kindern von ihren eigenen Erfahrungen. Die Kinder hingegen teilen mit ihren Familien ihre militärischen und politischen Erfahrungen. Die PKK wird nicht wie es der Präsident der föderalen Region Kurdistans Neçirvan Barzanî erklärte, als „Besatzer“, sondern als kurdische Organisation betrachtet. Das wichtigste ist, dass die Menschen in Kandil die PKK-Guerillas als ihre Kinder sehen und dementsprechend vertrauen. Sie sind es die uns schützen und denen wir vertrauen, erklärten sie immer wieder.