Die Einheit Syriens kann allein durch die Formel „Demokratisches Syrien – demokratisch-autonomes Kurdistan“ gewahrt werden

Aldar Xelil, Mitglied des Kurdischen Hohen Rates in Westkurdistan, im Interview

Während in Syrien die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Freien Syrischen Armee und dem Assad-Regime weiter eskalieren, versuchen die Kurden, ihre Organisierung in ihrer Region voranzutreiben und ihre Sicherheit zu gewährleisten. In Städten wie Kobanî (Ain al-Arab), Afrîn, Dêrika Hamko (Al-Malikiya) und Amûdê hat die kurdische Bevölkerung gewaltlos die staatlichen Institutionen besetzt und die Kontrolle vom Assad-Regime übernommen. Vor allem die türkische Regierung reagierte aggressiv mit Interventionsdrohungen auf diese Entwicklung.

Dennoch sind die rund 3,5 Millionen Kurdinnen und Kurden in Syrien entschlossen, an ihrem Lösungsprojekt „Demokratisches Syrien – demokratisch-autonomes Kurdistan“ festzuhalten. Über dieses Thema, die Gründung des Kurdischen Hohen Rates und der Volksverteidigungseinheiten (YPG) sowie die Drohungen der türkischen Regierung sprach Devriş Çimen für den Kurdistan Report mit dem Mitglied des Kurdischen Hohen Rates Aldar Xelil.

Nach verschiedenen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens ist jetzt schließlich auch das Baath-Regime in Syrien mit einem Volksaufstand konfrontiert. Wo stehen die Kurden dabei?

Seit dem Jahr 2010 erleben die Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens äußerst bewegte Tage. Die Ereignisse und Entwicklungen in der Region werden unter der Bezeichnung „Arabischer Frühling“ subsumiert. Vor allem die Ereignisse in Tunesien und Ägypten können als Volksaufstände gegen die Diktaturen im eigenen Land bezeichnet werden. Sie haben auch die Türen für ähnliche Entwicklungen in den anderen Ländern der Region geöffnet. Dort setzte sich die Opposition, auf die innere Dynamik bauend, für einen demokratischen Wandel ein, was wiederum für die umliegenden Länder zur Inspirationsquelle wurde.

In Libyen und Syrien, ebenfalls zwei Staaten mit Demokratieproblemen, hat sich das Ganze dann in eine etwas andere Richtung entwickelt. Das Gaddafi-Regime in Libyen wurde vor allem durch äußere Mächte zu Fall gebracht. Und in Syrien halten die Gefechte noch weiter an.

Auch wenn jedes einzelne dieser Regime in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten seine Eigenheiten hatte, so weisen sie doch gewisse Schnittmengen auf. Alle konnten sich in ihrer alten Verfassung nicht länger halten und in der Bevölkerung gab es das Bedürfnis nach Demokratisierung. Diese Regime hatten im 20. Jahrhundert ihre Dienste für das [imperialistische] System geleistet und ihre Lebenserwartung war langsam aber sicher erfüllt. Sie mussten also früher oder später untergehen und das ist dann auch geschehen.

Die Frage ist jedoch, ob in dieser bewegten Zeit die Probleme der Länder gelöst worden sind? Die Antwort lautet: Nein, sie bestehen weiter. Manche Länder stecken aufgrund der Zuspitzung der Probleme sogar im Chaos, und andere wiederum wollen von dieser Situation profitieren. Die Türkei, Frankreich oder Deutschland gehören beispielsweise zu letzteren.

Die Situation der Kurden ist im Gegensatz dazu noch mal eine unterschiedliche, denn sie kämpfen in der Region um die Wahrung ihrer Existenz und um ihre Freiheit. Das ist ein wichtiger Aspekt. Es geht ihnen nicht darum, die Macht zu übernehmen. Und deshalb unterscheidet sich die Situation in Kurdistan von der in den anderen Ländern des „Arabischen Frühlings“. Und weil ihr Ziel nicht die Staatsmacht ist, positionieren sie sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite, sondern agieren unabhängig.

Während überall in Syrien gekämpft wird, haben die Kurden in einigen Städten Westkurdistans unter Führung der PYD (Partei der Demokratischen Einheit) die Kontrolle ganz ohne Gewaltanwendung übernommen. Wie ging das vonstatten? Gab es dafür bestimmte Vorbereitungen?

Wir haben bereits in der Vergangenheit klargestellt, dass wir nicht die Absicht hegen, die Staatsmacht an uns zu reißen oder das Land zu teilen. Deshalb darf die Tatsache, dass wir in Westkurdistan begonnen haben, Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, nicht falsch interpretiert werden.

In der Phase, als die Kurden begonnen hatten, die Kontrolle in ihren Städten zu übernehmen, wurde ein Anschlag, vermutlich der Freien Syrischen Armee, auf ein Krisentreffen der Regierung verübt. Einige wichtige Vertreter des Regimes verloren dabei ihr Leben oder wurden schwer verletzt. Das hat in der Regierung für einige Demoralisierung gesorgt und die Erwartung genährt, dass das Regime bald abdanken würde. Das schuf natürlich auch ein gewisses Machtvakuum.

Das bedeutet aber nicht, dass wir diesen Prozess in Westkurdistan nur aufgrund dieser generellen Unsicherheit im Land oder des Machtvakuums in Gang gesetzt hätten. Wir begreifen ihn vielmehr als revolutionäre Intervention mit dem Ziel, die Selbstverwaltung unseres Volkes aufzubauen und die Bevölkerung vor einem Krieg zu schützen, dessen Entwicklung und Ausgang weiter ungewiss erscheinen. Wir können sagen, dass wir hierbei erfolgreich waren. Unser Volk in Westkurdistan ist momentan vor den möglichen verheerenden Auswirkungen dieser chaotischen Situation geschützt.

Die Antwort auf die Frage, wie das gewaltlos geklappt hat, hängt mit dem Organisierungsgrad der Bevölkerung zusammen. Die ist in Westkurdistan sehr gut organisiert. Man sollte das wirklich nicht unterschätzen. Für diesen Organisierungsgrad wurde jahrzehntelange Arbeit investiert und große Opfer muss­ten gebracht werden. Und nicht nur das. In Westkurdistan sind auch immer die Erfahrungen des Widerstands aus allen Teilen Kurdistans zusammengetragen worden. Ohne Berück­sichtigung dieser Tatsachen kann diese Entwicklung auch nicht verstanden werden. Wir haben die gesamte Entwicklung in dieser Form schon kommen sehen und waren darauf vorbereitet. Die sich ausweitenden Gefechte und das Machtvakuum haben diese Entwicklung lediglich beschleunigt.

Nachdem die Bevölkerung die Kontrolle übernommen hatte, bildete sich der Kurdische Hohe Rat. Wie ist dieser Rat zu verstehen und welche Kreise umfasst er?

Die Bestrebungen, eine kurdische Einheit in Westkurdistan zu schaffen, sind nicht neu. Der Prozess hatte also schon früher begonnen und gelangte mit der Gründung des Kurdischen Hohen Rates zu einem Ergebnis. Wir haben uns seit dem 15. März 2011 bemüht, den Weg für eine kurdische Einheit zu ebnen. Wir wollten eine erste Konferenz organisieren, an der die Vertreter aller kurdischen Parteien aus Westkurdistan teilnehmen sollten. Aber gewisse Kreise funkten dazwischen und die Bemühungen blieben zunächst ergebnislos. Der Grund für das Querschießen war, dass die Präsenz der PYD darin einige störte. Dadurch wurde auch ersichtlich, welche Vorstellungen sie von einem Westkurdistan in der Post-Assad-Ära hatten. Alle kurdischen Kreise außer der PYD kamen dann auch unter dem Namen Kurdischer Nationalrat zusammen. Diese Initiative blieb aber fruchtlos und wurde wieder aufgegeben.

Der Grund dafür, dass es nicht funktioniert hat, eine kurdische Einheit ohne die PYD zu etablieren, ist schlichtweg deren Organisierungsstärke. Sie hat Volkskomitees und Volksräte organisiert, sie verfügt über eigene Verteidigungskräfte und vor allem genießt sie großes Vertrauen in der Bevölkerung. Die war dementsprechend auch nicht bereit, eine kurdische „Einheit“ ohne die PYD zu akzeptieren, weil dies einfach keine Einheit darstellen würde. Nachdem das auch von den anderen kurdischen Parteien eingesehen wurde, haben die Einheitsbestrebungen dieses Mal gemeinsam mit den Volksräten Westkurdistans (TEV-DEM), zu denen auch die PYD gehört, von Neuem Fahrt aufgenommen. Wie schon erwähnt, den erfolgreichen Abschluss dieser Bestrebungen bildet die Gründung des Kurdischen Hohen Rates. Der stellt das höchste Repräsentativ-Organ der Kurden dar. Er besteht aus zehn Mitgliedern, von denen fünf den Volksräten Westkurdistans und fünf dem ehemaligen Kurdischen Nationalrat angehören. Außerdem gehören dazu das Außenbeziehungskomitee, das Sicherheitskomitee und das Komitee für Soziales.

Der Kurdische Hohe Rat wird gegenwärtig von der gesamten Bevölkerung Westkurdistans akzeptiert. Nach seiner Gründung gingen überall zehntausende Kurden auf die Straße, um diesen Zusammenschluss zu feiern. Für uns kam dieses Ereignis der Akzeptanz nach einem Volksreferendum gleich. Und auch über die Grenzen Westkurdistans hinaus hat die kurdische Bevölkerung diese Entwicklung begrüßt. Es steht somit außer Frage, dass der Kurdische Hohe Rat die Repräsentanz der Bevölkerung Westkurdistans darstellt.

Die kurdische Bevölkerung in Westkurdistan und Syrien fordert ein demokratisches Syrien und ein demokratisch-autonomes Westkurdistan. Kannst Du uns diese Forderung näher erläutern?

Aus Deiner Frage geht bereits hervor, dass wir unsere Zielsetzung klar formuliert haben. Wir gehen mit der Forderung „Demokratisches Syrien und demokratisch-autonomes Westkurdistan“ vor. Wir fordern also nicht, wie oft behauptet, eine Abspaltung der kurdischen Gebiete. „Demokratische Autonomie“ bedeutet, dass die Minderheiten gemeinsam mit der Mehrheit unter Berücksichtigung des Schutzes ihrer Eigenheiten zusammen leben können. Deswegen fordern wir die Demokratische Autonomie innerhalb eines vereinten Syriens. Die Tatsache, dass es in Syrien so viele verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen gibt, spricht ebenfalls für unser Modell. Syrien ist ein Vielvölkerstaat, mit verschiedenen Sprachen, Kulturen und Religionen. Sie gehören zum Teil mit zu den ältesten Kulturen der Region und konnten ihre Existenz trotz der oft kriegerischen Geschichte bis heute wahren. Aber diese Gruppen haben während ihrer gesamten Geschichte auch mit anderen ethnischen und religiösen Gruppen zusammen in der Region gelebt. Und allein aus dieser Tatsache lässt sich herleiten, dass der Gedanke der Demokratischen Autonomie der sinnvollste Weg für eine gemeinsame Zukunft im vereinten Syrien ist.

Die Kurden haben bereits begonnen, mit den anderen Gruppen aus Westkurdistan ein gemeinsames Leben nach den Prinzipien der Demokratischen Autonomie zu entwickeln. Die anderen Gruppen, von denen ich spreche, sind beispielsweise die Assyrer, die Araber oder die Armenier in Westkurdistan. In Städten wie Hesîçe (Al-Hasaka) oder Afrîn wurden diese Gruppen zur Mitarbeit in den Volksräten eingeladen und dazu, ihre Interessen in die Ratsstrukturen einzubringen. Auch in anderen Orten gibt es Bemühungen, gemeinsame Komitees mit diesen Gruppen aufzubauen.

Seit dem 17. August laufen die Aktionen und Demonstrationen der Bevölkerung in Westkurdistan unter dem Motto „Lasst uns die Einheit Syriens gemeinsam stärken“.

Es wurden zudem auch Verteidigungskomitees unter dem Namen YPG (Volksverteidigungseinheiten) gebildet. Was ist deren Aufgabe und Zweck? Aus welchen Leuten bestehen sie?

Die YPG sind die Selbstverteidigungskräfte des Volkes in Westkurdistan. Ihre Mitglieder kommen aus der Zivilbevölkerung und ihre Verantwortung liegt darin, die Sicherheit des Volkes zu gewährleisten.

Aufgrund der gegebenen Kriegssituation in Syrien war der Aufbau einer Selbstverteidigungsstruktur unumgänglich. Denn wir befinden uns im Land in einer unübersichtlichen Phase und die kann sich durchaus auch negativ auf das gesellschaftliche Leben auswirken.

Seit dem 15. März hat sich die Jugend innerhalb der Selbstverwaltungsstrukturen zu organisieren begonnen. Sie haben ihre Kommandanturen gebildet und die Verantwortung für die Selbstverteidigung der Bevölkerung übernommen. Nach der Gründung des Kurdischen Hohen Rates kündigten sie an, in dessen Sinne zu arbeiten. Auf der letzten Sitzung der Volksräte Westkurdistans wurde dieser Beschluss nochmals bekräftigt.

In Westkurdistan bestehen zudem noch weitere kleinere Verteidigungsgruppen. Wir arbeiten daran, sie dazu zu bewegen, auch Teil der Volksverteidigungseinheiten zu werden.

In den türkischen und den westlichen Medien wird immer wieder berichtet, die PYD kooperiere mit dem Assad-Regime. Was sagst Du dazu? Wie ist Eure Haltung zum Assad-Regime?

Wir bekommen hier mit, dass über die Medien solche Falschinformationen verbreitet werden. Das ist traurig. Wir fragen uns auch, ob die Menschen diese völlig aus der Luft gegriffenen Behauptungen wirklich glauben. Wenn diese Nachrichten nicht aus Unwissenheit verbreitet werden, dann sicherlich aus böser Absicht. Anscheinend wollen manche Kreise nicht, dass Kurden ihre eigenen Selbstverwaltungsstrukturen aufbauen. Statt an dieser Stelle jetzt auf diese Lügen und Verleumdungen zu antworten, will ich mich damit begnügen, an einige Punkte zu erinnern.

Es ist allgemein bekannt, was die Kurden in Westkurdistan bisher alles durchgemacht haben. Sie waren unter dem Baath-Regime einer gewalttätigen Verleumdungs- und Vernichtungspolitik ausgesetzt. Mit dem Massaker von Amûdê oder der Politik des Arabischen Gürtels wurden in der Vergangenheit unzählige Kurdinnen und Kurden aus ihrer Heimat vertrieben. Wir brauchen auch gar nicht allzu weit in die Vergangenheit zurück­gehen. Im Jahr 2000 hat der syrische Staat im Zuge seiner antikurdischen Koalition gemeinsam mit der Türkei und dem Iran die Repression gegen das kurdische Volk auf die Spitze getrieben. Damals blieb den Kurden keine Luft mehr zum Atmen, sie wurden festgenommen und massakriert.

Und nun sollte die Frage gestellt werden, wer das Hauptziel dieser Verfolgung war? Wer wurde festgenommen und massakriert? Alle, die Verstand und ein Gewissen haben, werden darauf die richtige Antwort geben.

Worauf führst Du die aggressive Haltung der Türkei zu den Entwicklungen in Westkurdistan zurück? Hältst Du eine militärische Intervention der Türkei in Westkurdistan für realistisch?

Die aggressive Haltung der Türkei gegenüber den Errungenschaften des Volkes in Westkurdistan ist nicht schwer nachzuvollziehen. Ich sehe dafür eigentlich zwei maßgebliche Gründe. Der erste ist, dass die Türkei dadurch in ihrer Existenzgrundlage erschüttert worden ist. Denn der türkische Staat baut auf der Verleumdung und Vernichtung des kurdischen Volkes auf. Und nun müssen sie mit ansehen, wie die Kurden in Westkurdistan Schritt für Schritt in Richtung ihrer Freiheit vorankommen. Ihnen ist natürlich auch klar, dass diese Errungenschaften auch den Freiheitskampf in Nordkurdistan und den anderen Teilen Kurdistans beflügeln werden. Das bereitet der Türkei selbstverständlich erhebliche Sorgen.

Ein weiterer Grund ist, dass die Türkei sich als Handlanger des US-amerikanischen „Greater Middle East Project“ gewisse Hoffnungen hinsichtlich ihrer Stellung in der Region gemacht hat. Diese Hoffnungen basierten allerdings auf Fehlkalkulationen der türkischen Außenpolitik und zerschellen gegenwärtig an den Entwicklungen in Westkurdistan.

Die Frage ist natürlich, ob die Türkei nun diese politischen Rückschläge einfach so hinnehmen können wird. Darüber lässt sich diskutieren. Sollte sie das allerdings nicht können und das Abenteuer einer militärischen Intervention auf sich nehmen, dann kann sie dafür noch so viele Argumente vorschieben, wie sie möchte. Der eigentliche Grund dafür wird allein die Entwi­cklung in Westkurdistan sein.

Gibt es noch etwas, was Du uns zu sagen hast? Vielleicht möchtest Du noch einige Worte an die europäische Öffentlichkeit richten, weil gerade dort auch viele Falschinformationen über die Medien verbreitet werden?

Für uns ist wichtig, dass begriffen wird, dass wir einen gerechtfertigten Kampf mit friedlichen und demokratischen Mitteln führen. Wir würden uns wünschen, dass sich die europäische Öffentlichkeit in diesem Kampf mit uns solidarisch zeigt. Zugleich würden wir uns auch wünschen, dass sie den Verleumdungen und den Lügen über unseren gerechtfertigten Kampf keinen Glauben schenkt.

Entgegen ihren eigenen Aussagen geht es der türkischen Regierung in keinster Weise um das Wohl des Volkes in Syrien, sondern ausschließlich um ihre eigenen politischen Interessen. Das wird an ihrer Haltung gegenüber dem kurdischen Volk mehr als deutlich. Sollten die europäischen Staaten dennoch die Syrienpolitik der Türkei unterstützen, dann würden wir uns von der europäischen Öffentlichkeit wünschen, dass sie sich an diesem Punkt gegen ihre eigenen Regierungen stellt.

Aus dem Kurdistan Report Nr. 163 entnommen

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