Dilser Ernesto/ Bahoz Amed, Şengal-Gebirge, 11.11.2014
Eine schlimme, humane Tragödie spielt sich gerade für über zehntausend Êzîd*innen ab, die sich vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt auf dem Berg Şengal (Sindschar) befinden. Die Bevölkerung von Şengal, auf die ein Winter in löchrigen Zelten wartet, appelliert an die internationale Gemeinschaft, dringend etwas zu unternehmen. Die Schergen des Islamischen Staates (IS), die am 10. Juni kampflos Mossul eingenommen haben, haben sich gegen andere Völker, Religionen und Konfessionen gewendet. Im Zuge dieser Angriffswelle waren, als die Banden sich am 3. August dem Berg Şengal zugewendet haben, über 200 000 Menschen der Gefahr eines Massakers ausgesetzt.
Zeitgleich mit dem Einmarsch der IS-Banden in Şengal haben die in dieser Region für Sicherheit verantwortlichen Peschmergas der Autonomen Region Kurdistans die Bevölkerung dem Massaker überlassen. Über 200 000 Menschen sind vor dem Massaker geflüchtet und auf dem Berg Şengal angekommen. Bei denjenigen, die nicht fliehen konnten, haben die Schergen mit den „schwarzen Fahnen“ im Namen des „Dschihad“ mit dem Morden begonnen.
Die IS-Schergen haben im Dorf Koco als erstes mit dem Massaker begonnen, sie haben die männlichen Dorfbewohner an einem Ort gesammelt und ermordet. Die jungen Mädchen und Frauen des Dorfes wurden als Geiseln genommen. Im weiteren Verlauf der Massaker in ganz Şengal sind tausende Êzîd*innen ermordet und tausende junger Mädchen als Geisel genommen worden.
Diejenigen, die vor dem IS fliehen konnten, gingen in Richtung des Berges Şengal. Manche sind auf dem Weg dahin verdurstet. Die Übrigen hatten nach ihrer Ankunft auf dem Berg Şengal Probleme mit der Verpflegung oder es bestand die Gefahr von weiteren Angriffen durch die Schergen.
Gegen dieses Massaker gab die Kommandantur des Hauptquartiers der Volksverteidigungseinheiten am 4. August in der Presse die folgende Erklärung ab: „Unsere Guerillakräfte werden das êzîdische Volk schützen“, und schickte eine Gruppe von Guerillas in das Şengal-Gebirge.
Um die auf dem Berg Şengal festsitzende Bevölkerung zu retten und in sichere Gebiete bringen zu können, haben sie zügig zwischen Rabia und Cezaa einen Korridor freigekämpft. Guerillas der Verteidigungskräfte HPG und YJA-Star, die durch den geöffneten Korridor den Berg Şengal erreicht haben, sagten, dass sie auf eine menschliche Tragödie gestoßen sind.
Die Guerillakräfte, die so bald wie möglich Zehntausende an einen sicheren Ort schaffen wollten, erklärten: „Als wir den Berg Şengal erreicht haben, standen wir einer menschlichen Tragödie gegenüber. Sehr viele Menschen waren am verhungern und verdursten. Wir haben ihnen Wasser und Proviant gebracht und anderseits einen Teil durch den geöffneten Korridor herauszubringen versucht. Einen großen Teil der Menschen haben wir sicher aus dem Şengal-Gebiet bringen können. Aber mehr als zehntausend Menschen weigerte sich, ihren eigenen Boden zu verlassen und blieben in verschiedenen Regionen auf dem Şengal-Gebirge.“
Zudem haben die Bewohner Şengals zu ihrer Verteidigung auf dem Berg die YBS (Şengaler Verteidigungseinheiten) aufgebaut. Die Kräfte der YBS haben mit den Guerillas der HPG und der YJA-Star gemeinsam die auf dem Şengal festsitzenden Menschen gegen die Schergen verteidigt. Seit der Gründung sind tausende êzîdischer Jugendlicher den YBS beigetreten.
„SIE HABEN UNS AUFGETRAGEN DIE HÄUSER NICHT ZU VERLASSEN UND SIND GEFLÜCHTET“
Xinni Alyaz, eine êzîdische Frau, die auf dem Şengal ums Überleben kämpft, erinnert sich an die Zeit nach dem 3. August: „Als die Schergen Şengal besetzt haben, sagten uns die Peschmergas, wir sollten unsere Häuser nicht verlassen. Und wir sind in unseren Häusern geblieben. Aber dann haben wir gesehen, dass sie begannen Richtung Gebirge zu fliehen. Als wir die fliehenden Peschmergas gesehen haben, sind auch wir in diese Richtung geflüchtet. Es gab welche, die nicht fliehen konnten. Junge êzîdische Mädchen fielen in die Hände der Banden. Diese Banden des IS haben viele Männer ermordet. Hunderte Menschen, die auf den Berg fliehen wollten, sind unterwegs verdurstet. Die Wege waren voll mit toten Menschen. Als wir auf dem Berg angekommen waren, hatten wir fünf Tage lang kein Essen und Trinken. Anschließend haben die Volksverteidigungseinheiten YPG einen Korridor geöffnet und die Guerilla sind auf den Berg gekommen und haben uns geholfen.“
DIE ENTFÜHRTEN MÄDCHEN ERLEBTEN UNMESCHLICHES
Tausende êzîdischer Frauen und Mädchen sind von den IS-Schergen festgehalten und an andere Orte gebracht worden. Sehr viele junge Mädchen sind dort auf Sklavenmärkten verkauft worden, sehr viele wurden vergewaltigt, viele auch hingerichtet. Und einige haben sich selbst getötet, um nicht in die Fänge des IS zu geraten oder haben Selbstmord begangen, um nicht auf dem Sklavenmarkt verkauft zu werden.
Fünf êzîdische Kinder zwischen 11 und 16 Jahren, die von den Schergen zum Sklavenmarkt gebracht wurden, konnten ihnen am 12. Oktober beim Dorf Rambosi in Şengal entkommen und schafften es zu den Guerillakräften der HPG und YJA-Star.
Nach den Berichten der Kinder wurden sie monatelang unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, waren Zeuge schlimmer Gräueltaten, erlebten Gewalt durch die Schergen und sahen junge Mädchen, die diese Dinge nicht mehr aushielten und Selbstmord begangen haben. Eins der Mädchen, das fliehen konnte, berichtete ihre Erlebnisse folgendermaßen: „Zwei Mal versuchten sie meine Nichte von mir zu trennen und zu verkaufen. Als ich mich dem widersetzte, wurde ich durch ihre Schläge mit einem Holzscheit am Kopf schwer verletzt. Dann warfen sie mich eine Treppe hinunter.“
Nach Informationen von den Êzîd*innen sind über Zehntausende von ihnen in den Händen der IS-Schergen und über fünftausend Êzîd*innen von diesen Milizen ermordet worden. Auch als sie den Berg Şengal erreicht hatten, war noch immer die Gefahr eines Massakers gegeben.
„SIE WOLLTEN IHR MASSAKER VOLLENDEN“
Die Gefahr eines Massakers wurde am 28. September, als die IS-Banden das Dorf Digure angriffen, noch einmal deutlich. Vier Tage lang gab es dort schwere Gefechte, und mit der Besetzung dieses Dorfes durch den IS war der Hilfskorridor geschlossen. Es schien unmöglich, einen Hilfskorridor, den zehntausende Menschen sicher durchschritten hatten, bei der steigenden Gewalt noch lange offenzuhalten. Aber der Korridor hatte mit dem Durchgang zehntausender Menschen seine Rolle, Zivilist*innen zu retten, erfüllt.
In der letzten Zeit haben die Angriffe der IS-Schergen auf den Şengal-Berg, der unter Kontrolle der HPG, YJA-Star und YBS-Guerillas steht, zugenommen.
Munzur Dersim, Vorstandsmitglied von TEVDA erklärt die Angriffe als „Versuch, ein nicht beendetes Massaker zu vollenden“ und sagt: „Die Angriffe der IS-Schergen auf die Dörfer Solak, Merka, Bare, Silo, Skeniye und Serfeddin haben im letzten Monat zugenommen. Ihr Ziel ist die Vollendung des am 3. August begonnenen Massakers. Darum haben sie den Şengal-Berg angegriffen. Aber die Guerillakräfte der HPG, YJA-Star und der YBS haben einen starken Widerstand geleistet, den Berg verteidigt und von den Schergen befreit.“
„DIE SCHWEREN WINTERLICHEN BEDINGUNGEN SIND TÖDLICH“
Dersim betont, dass die Êzîd*innen mit der Gefahr eines Massakers leben und zeitgleich den Überlebenskampf gegen die winterlichen Bedingungen führen müssen, wozu sie Verpflegung und Winterkleidung benötigen.
Er erklärt: „Solange der Korridor offen war, erhielten die Êzîd*innen im Şengal-Gebirge Hilfe von Rojava und den anderen Teilen Kurdistans. Aber mit der Schließung des Hilfskorridors erhalten die Menschen keinerlei Unterstützung mehr. Dazu kommt jetzt, dass sie gegen die winterlichen Bedingungen einen Überlebenskampf führen müssen. Wenn keine dringend benötigte Hilfe ankommt, werden die Menschen dort verhungern und erfrieren. Darum appellieren wir an alle internationalen Gesellschaften zu helfen.“
„DIE KINDER SEHEN DEM TOD INS AUGE“
Im Oktober sind zwei Kinder wegen der Kälte und der fehlenden Nahrungsmittel gestorben. Das Vorstandsmitglied der TEVDA, Sait Hasan Sait sagt, dass sich der Winter vor allem auf die Kinder negativ auswirkt und sie regionale und internationale Kräfte schon mehrfach um Hilfe gebeten haben. „Die mehr als 1400 Familien auf dem Şengal-Berg versuchen trotz harter Winterbedingungen und mangelnder Lebensmittel den Kampf ums Überleben zu führen. Wir haben schon mehrfach zu humaner Hilfe aufgerufen. Neben der regionalen und zentralen Verwaltung haben wir auch an das Gewissen der internationalen Gemeinschaft appelliert. Wir haben die regionale und zentrale Verwaltung zur Unterstützung aufgerufen. Es ist ihre vorrangige Pflicht, ihren Staatsbürgern Hilfe zukommen zu lassen. Darum rufe ich diese auf, zu helfen. Die Menschen hier brauchen neben Zelten auch Proviant und Winterkleidung. Dieser Bedarf muss so schnell wie möglich gedeckt werden. Sonst werden die Menschen und insbesondere die Kinder auf dem Berg ihr Leben verlieren“, so Sait.
„WIR BRAUCHEN VERPFLEGUNG UND KLEIDUNG“
Sevi Kasim, eine Êzîdin, betont, dass sie keine Lebensmittel und Winterkleidung haben und ihre Kinder zu sterben drohen. „Wir kämpfen nicht nur gegen das Massaker der IS-Banden, sondern führen daneben noch den Überlebenskampf. Der Beginn der winterlichen Bedingungen und die fehlenden Lebensmittel wirken sich sehr negativ auf uns aus. Als der Korridor offen war, deckte die PKK unseren Bedarf. Der Korridor ist nun geschlossen, aber wir brauchen Lebensmittel und Winterkleidung. Wenn es so weiter geht, dann werden unsere Kinder ihre Leben verlieren“, so Kasim.
„WENN DER BEDARF NICHT GEDECKT WIRD, KÖNNTEN KINDER STERBEN“
Leyli Xelef, die bei dem heftigen winterlichen Klima im Zomani-Lager lebt, weist darauf hin, dass viele Babys Milchnahrung und Milch brauchen: „Mein Baby Dilinaz und hunderte anderer Babys brauchen Milchpulver und Milch. Außerdem brauchen wir Diesel. Ohne Diesel können wir aus dem Brunnen kein Wasser pumpen. Dann haben wir ein Wasserproblem. Wir erleben dann noch einmal die Zeit des Massakers. Darum muss unser Bedarf zum Überleben so schnell wie möglich gedeckt werden. Ansonsten werden die Menschen und vor allem die Babys und Kinder hier sterben.“
„MIT EINEM VOLK SOLL AUCH EINE KULTUR VERNICHTET WERDEN“
Das Volk, dass nach dem Massaker Şengal nicht verlassen hat und auf dem Berg Şengal lebt, leidet an Hunger. In diesem Gebiet ist nur Hilfe aus der Luft möglich. Neben dem êzîdischen Volk, das vor der Gefahr des Hungertodes und eines psychischen Massakers steht, steht auch eine tausendjährige Geschichte und die Wurzeln der Zivilisation vor der Vernichtung. Die IS-Banden bombardieren die heiligen Orte und Stätten der Êzîd*innen und wollen alles, was zu dieser Kultur und Geschichte gehört, vernichten. Die von der Außenwelt abgeschnittenen Bewohner Şengals warten dringend auf internationale Hilfe, damit dieses Volk und diese Kultur nicht verloren gehen. Sie fordern die Öffnung eines Korridors am Boden oder in der Luft, um ihren dringenden Bedarf zum Überleben zu decken.
ANF, 11.11.2014, ISKU