Ece Temelkuran
Die Geschichte, die ich Ihnen erzähle, hat kein Happyend.
Alles fing vor zwei Wochen an. Die ersten Nachrichten zum Thema veröffentlichte die Dicle-Nachrichtenagentur (DIHA), eine unabhängige Webseite, die aus der Türkei publiziert und sich überwiegend mit der kurdischen Frage beschäftigt. Die Nachricht an sich war schon ein Jahr alt. Es handelte sich um eine Nachricht über eine Kleinstadt namens Pozanti in der Provinz Adana, im Südosten der Türkei. Das Beschriebene ereignete sich im Jugendgefängnis, in dem hauptsächlich kurdische Kinder und Jugendliche inhaftiert sind. Die erschreckenden Fakten wurden zum ersten Mal vor einem Jahr vom Menschenrechtsverein IHD dokumentiert.
Der IHD veröffentlichte detaillierte Beschreibungen der Folter, der einige der inhaftierten Kinder während ihrer Haftzeit ausgesetzt waren. Sieben Kinder beschrieben in schriftlichen Aussagen, wie sie von Gefängnispersonal und erwachsenen Insassen der Anstalt vergewaltigt, sexuell belästigt und gefoltert wurden. Einige der Kinder befanden sich aufgrund der „Anti-Terror-Gesetze“, denen zufolge Kinder wie Erwachsene behandelt werden, im Gefängnis.
Nach den ersten Berichten im letzten Juni, veröffentlichte auch die Menschenrechtsstiftung TIHV einen weiteren Bericht über 8 Kinder, die der Gefängnisverwaltung die gleichen Vorwürfe machten. Noch vor dem Juli letzten Jahres wandten sich der IHD und die TIHV an das türkische Justizministerium und reichten in diesem Zusammenhang insgesamt Aussagen von 25 Kindern ein. Die Kinder sagten aus, dass sie von Gefangenen, Soldaten und Justizbeamten vergewaltigt worden sind. Einige der Kinder waren derart traumatisiert, dass sie kaum, in der Lage waren zu beschreiben, was ihnen angetan worden ist. Eines der Kinder schrieb: „Ich wollte eigentlich Selbstmord begehen, musste dann aber an meine Mutter denken. Das konnte ich ihr nicht antun.“ Es sind nicht nur Sexual-Straftaten denen diese Kinder ausgesetzt waren. Die Misshandlungen umfassten ebenfalls rassistische Beschimpfungen, Zwangsarbeit sowie Falaka (Peitschenschläge auf die Fußsohlen), das umgekehrte Aufhängen an Basketballkörben und die Verweigerung medizinischer Versorgung. Die Nachricht über das Schicksal der Kinder wurde vorerst seitens der Mainstream-Presse ignoriert. Es handelte sich ja schließlich um einen Aspekt der kurdischen Frage, und die Redaktionen wissen, dass derartige Nachrichten seitens der Regierung nicht gewünscht werden. Das Schweigen war unerträglich. Deshalb begannen einige engagierte Menschen mit einer Twitterkampagne, um auf diese Weise die Stimmen der Kinder von Pozanti zu werden. Erst unter diesem Druck fühlte die Mainstream-Presse sich genötigt, ihre Angst vor der Regierung zu überwinden und von den Geschehnissen im Pozanti-Gefängnis zu berichten. Der Justizminister nahm ebenfalls erst danach, ein Jahr nach dem ersten Bericht, Stellung zu den Vorfällen.
Die Lösung, die die Verantwortlichen fanden, kann nur als „brillant“ bezeichnet werden. Sie wollen die Kinder in ein anderes Gefängnis verlegen – das extra dafür neu gestrichen wurde! Das Justizministerium inszenierte eine große Show für die Medien über das neue Gefängnis in Ankara-Sincan, in Mittelanatolien. Die Mauern wurden grün gestrichen. Schicke Bilder von Delphinen und Blumen sollten die gefolterten Kinder aufheitern. Darüber hinaus sollten die Kinder in videoüberwachten Einzelzellen untergebracht werden. Das war also die Sonderbehandlung, die sich das Justizministerium für gefolterte Kinder ausgedacht hatte. Letzte Woche brachte man dann 218 Kinder von Adana-Pozanti nach Ankara-Sincan, acht Stunden Fahrtzeit von Adana entfernt, wo die Familien der Kinder leben.
Wäre die Geschichte jetzt zu Ende, wäre es lediglich eine weitere sehr beunruhigende Geschichte über kurdische Kinder. Aber seit vielen Jahren hat das Wort beunruhigend in der Türkei eine neue Bedeutung. In diesem Zusammenhang erfuhren wir durch einen Bericht der Oppositionspartei CHP, dass der Verwaltungsleiter des Pozanti-Gefängnisses bereits in das Sincan-Gefängnis versetzt worden war und dort auf die Ankunft der Kinder wartete.
Der zweite Verwaltungsleiter des Pozanti-Gefängnisses, über den die Kinder in den meisten ihrer Aussagen berichteten, wurde nach Van versetzt, um dort mit seinen Taten fortfahren zu können (quasi eine Beförderung). Und das ist noch nicht alles. Am gleichen Tag, an dem die Kinder verlegt wurden, fand eine großangelegte Polizeioperation gegen die Dicle-Nachrichtenagentur statt. Die drei ReporterInnen, die über die Geschehnisse im Pozanti-Gefängnis geschrieben hatten, wurden unter dem Vorwand der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan (KCK), dem vermeintlichen städtischen Arm der PKK, festgenommen.
Und selbst das war noch nicht Alles. Wir mussten erfahren, dass auch der junge Mann Namens T. T., ein ehemaliger Häftling des Pozanti-Gefängnisses erneut festgenommen worden war. Es wurde berichtet, dass er derjenige war, der die Dicle-Nachrichtenagentur über die Ereignisse informiert hatte. Somit verhafteten die Behörden jeden, der seine Stimme im Zusammenhang mit dem Pozanti-Gefängnis erhob und für sie erreichbar und sanktionierbar war.
Die Kinder genießen sicherlich ihre Einzelzellen mit Delphinbildern an der Wand. So dachten wir wenigstens, bis ein Brief von Çagdas Ersöz auf sendika.org, einer links gerichteten Webseite, veröffentlicht wurde. Er war beschuldigt worden, gegen elektrische Wasserturbinen protestiert zu haben und verbrachte mehrere Monate im Gefängnis von Sincan. Obwohl es auch hier ähnliche Berichte über Vergewaltigungen und Folter gibt, ist das Gefängnis doch für eine dort gemachte „Erfindung“ berühmt: den Softraum! Çagdas zufolge wusste jeder im Gefängnis, einschließlich der Ärzte, von diesem Raum. Da unter 18-Jährige nicht durch die Verweigerung der Aushändigung von Briefen isoliert und depriviert werden dürfen, bestraften die Justizbeamten die Kinder auf ihre sehr eigene Art in diesem geheimen Raum. Schläge, Falaka, nacktes Fesseln sowie Kälte aussetzen, sind nur einige der hier, neben weiteren Gewaltanwendungen, praktizierten Foltermethoden. Çagdas berichtet, dass am Tag seiner Ankunft ein Kind Selbstmord beging und ein weiteres von einem älteren Häftling vergewaltigt wurde. Also haben wir gelernt, dass den Kindern ihre grünlichen Zellen mit Bildern von Delphinen zur Verfügung stehen, um sich dort von den Aufenthalten im Softraum zu erholen und auch, in schöner Atmosphäre, davon träumen zu können.
Sie wissen wie derartige Drehbücher in Filmen enden. Zum Beispiel: „Diejenigen die für den Horror von Pozanti verantwortlich waren, wurden schuldig gesprochen und zu so und so vielen Jahren Haft verurteilt.“ Dann, wenn das Skript weiter geht, finden Sie etwas Fürsorgliches. Auf dem Bildschirm sehen sie: „Die Kinder wurden sämtlich entlassen und bekamen eine gute psychologische Betreuung.“ Das ist der Moment an dem sie beruhigt und in Frieden zu Bett gehen können. Wir können nicht ins Bett gehen ohne zu wissen, dass die Menschlichkeit gewonnen hat und das „Gute“ das „Böse“ besiegt hat. So ist die menschliche Natur. Aber in der Türkei müssen sie so oder so schlafen gehen. Sie gehen lediglich schlafen, um einen weiteren Tag aufzuwachen und zu sehen wie weit das Alles noch gehen kann und zu unterstellen, dass die Grausamkeit irgendwo eine Grenze haben und aufhören muss. Aber das entspricht leider nicht den Fakten.
Bemerkung der Übersetzer:
Ece Temelkuran wurde 1973 in der Türkei geboren. Sie ist eine der bekanntesten Journalistinnen des Landes. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet (unter anderem dem PEN-Friedenspreis). Sie betreibt ihren investigativen Journalismus u. a. zu den Themen der armenischen und kurdischen Frage, der Frauenbewegung und politischen Gefangenen.
Ece Temelkuran ist eine der vielen JournalistInnen, die in der Türkei in der letzten Zeit nach Einwirkung durch die AKP-Regierung gekündigt wurden. Nach dem sie am 4. Januar 2012 von der Tageszeitung und TV Sender Habertürk gekündigt wurde, schreibt sie in englischer und türkischer Sprache auf ihrer eigenen Webseite unter: www.ecetemelkuran.com
09.03.2012