»Die Menschen wollen nicht mehr von oben regiert werden«

tagung2013Fachtagung: Die Neustrukturierung des Nahen Ostens und der »Kurdische Aufbruch« in Syrien
Martin Dolzer, Soziologe

Am 26.01.2013 veranstaltete das Netzwerk kurdischer AkademikerInnen Kurd-Akad e.V. gemeinsam mit dem Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad e.V. und dem Verband der Studierenden aus Kurdistan YXK e.V. in Dortmund die Fachtagung »Die Neustrukturierung des Nahen Ostens und der ›Kurdische Aufbruch‹ in Syrien«. Mehr als 150 TeilnehmerInnen besuchten die eintägige Veranstaltung.

Aus aktuellem Anlass verlas eine Vertreterin von Cenî, des Kurdischen Frauenbüros für Frieden e.?V., die Erklärung der Vereinigung Kurdischer Frauen in Europa (TJKE) zu den Morden an den drei kurdischen Exilpolitikerinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez. Es handele sich dabei um professionell durchgeführte kaltblütige und politisch motivierte Hinrichtungen. Die gemeinsame Trauer und Solidarität gelte den Ermordeten, den Familien und dem kurdischen Volk. Die drei revolutionären Frauen stünden für Frauenbefreiung, respektvolles Voneinanderlernen, einen Friedensdialog und die kraftvolle Umsetzung der Ideologie Abdullah Öcalans. Die Morde sollten auch im Rahmen des Verteilungskrieges im Mittleren Osten mit geostrategischen Interessen der Türkei, der EU und der USA gesehen werden. Die Beteiligung von Geheimdiensten sei mehr als wahrscheinlich und die französischen Behörden gefordert, die grausamen Taten und deren Hintergründe lückenlos aufzuklären, hieß es in der Erklärung. Die Täter hätten bezweckt, Ohnmacht zu erzeugen und den Friedensdialog zwischen der türkischen Regierung und Abdullah Öcalan zu behindern. Die kurdische Bevölkerung habe jedoch im Rahmen der Trauerfeiern zu Hunderttausenden gezeigt, dass sich der Kampf um Gleichberechtigung, Demokratie, Frieden und Freiheit nicht ermorden lässt.

In drei Foren und einer Abschlussdiskussion sprachen und diskutierten PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen und MenschenrechtlerInnen über die Entwicklungen in Kurdistan und dem Mittleren Osten, mit einem Schwerpunkt auf Syrien. Sämtliche Beiträge wurden simultan auf Türkisch, Deutsch und Kurdisch übersetzt.

Im Forum »Der ›arabische Frühling‹ als Modell für den Nahen Osten« skizzierte Prof. Udo Steinbach einige Entwicklungslinien des »arabischen Frühlings« und vertrat die Ansicht, dass es notwendig sei, die KurdInnen in allen vier Teilen Kurdistans (Nord/Türkei, West/Syrien, Süd/Irak und Ost/Iran) in politische Lösungen einzubeziehen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker müsse endlich auch in Bezug auf die KurdInnen anerkannt werden. »Es ist besonders wichtig, auch das Agieren der Menschen in der Region und nicht lediglich die Interessen der Großmächte zu sehen«, so Steinbach. Der mittlerweile als Leiter des GOVERNANCE CENTER Middle East/North Africa in Berlin fungierende und für »Good Governance« zuständige Wissenschaftler vertritt die Auffassung, dass die türkische Regierung Erdogan derzeit entscheidende Schritte in einem Friedensdialog mit den KurdInnen gehe und dass eine kluge militärische Intervention der westlichen Großmächte in Syrien angebracht sei, um den dortigen Konflikt zu lösen.

Der kurdische Journalist Ferda Çetin aus Brüssel verdeutlichte dagegen, dass es gerade die Regierungen der EU, der USA und der Türkei in Zusammenarbeit mit den Herrschern von Katar und Saudi-Arabien seien, die den Konflikt in Syrien durch Bewaffnung der so genannten Rebellen sowie durch Propaganda und eine Diplomatie des Umsturzes eskalieren. Einen ernsthaften Dialogversuch der türkischen Regierung könne er nicht erkennen. Der »arabische Frühling« und die Rebellion in Syrien hätten ihren Ursprung in einem Aufstand gegen Despotismus, würden dann jedoch auf unterschiedliche Weise von neokolonialen Mächten instrumentalisiert. Die Forderungen der Bevölkerung würden dann wie z.?B. in Syrien und Ägypten übergangen und, wenn es sein muss, auch bekämpft. »Durch Aufrüsten nicht in der Bevölkerung verankerter Akteure wie der Freien Syrischen Armee (FSA) wird die Region, ähnlich wie zuvor Afghanistan, Libyen und Irak, destabilisiert«, erklärte Çetin. Besonders die türkische Regierung fürchte die auf Grundlage der mehrheitlichen Beteiligung der Bevölkerung in Westkurdistan entstandenen Volksräte. Mit aller Macht wolle die AKP daher verhindern, dass in Syrien eine ähnliche föderale Struktur entsteht wie im Nordirak/Südkurdistan. Deshalb unternehme sie alles nur Erdenkliche, um die bisher einzig stabile Region in Syrien, die unter der Verwaltung der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und des Kurdischen Hohen Rates steht, anzugreifen. Dafür würden auch al-Qaida-nahe Gruppen und Warlords aufgerüstet – selbst Mitglieder des Geheimdienstes JITEM eingesetzt. Die kurdische Bewegung zeige demgegenüber durch den Aufbau einer stabilen Verwaltung einen dritten Weg auf und beteilige sich nicht an dem Kampf um Geld und Macht.

Die Journalistin Friederike Beck skizzierte detailliert, wie die Propagandamaschinerie in der EU und den USA arbeitet, um kolonialistisch motivierte Militärinterventionen und den Kampf um Macht und Ressourcen als Menschenrechtsinterventionen darstellen zu können. »Die Medien sind eine vierte Gewalt«, so Beck. Bereits Anfang 2000 wurden das Greater Middle East Project der USA und ähnliche Konzepte in Europa konkretisiert, schilderte sie. Der Irak, Iran, Syrien und Libyen seien in diesem Rahmen als Schurkenstaaten deklariert worden, in denen ein »Regime change« herbeigeführt werden muss. Anhand von gut recherchierten Quellen belegte Beck, dass auf Regierungsebene von Beginn an geplant gewesen sei, regionale Kräfte, egal ob sie sich an Menschenrechte und Kriegsrecht halten, propagandistisch aufzubauen und aufzurüsten, um die eigenen geostrategischen Ziele durchzusetzen. Um die Medien gleichzuschalten, würden Satelliten für unliebsame Sender gesperrt und Lobbyorganisationen gegründet, die einseitig und oft bewusst falsch informieren – wie z.?B. die der FSA nahestehende »Beobachtungsstelle für Menschenrechte« in London. In Syrien komme es in letzter Zeit auch verstärkt zu derart motivierten Entführungen von und Morden an »unbequemen« JournalistInnen.

Ein Beispiel sei auch das Vorgehen der Organisation Avaaz, die sich als Netzwerk für Umweltschutz und Menschenrechte ausgibt. Circa 5,5 Millionen Dollar Spenden habe die NGO erhalten, die nach Selbstauskunft »mit Bürgerstimmen weltweit politische Entscheidungen beeinflusst«. »Rettet die Wale« oder »Beendet die Misshandlung von Frauen in Indien« klingt gut. Dass dann allerdings ca. 3 Millionen Dollar der Spendengelder zur Unterstützung der FSA in Syrien und eine Million Dollar an die drei Führungskräfte fließen, entbehre jeglicher Grundlage und Transparenz, so Beck. Avaaz liefere zudem 30?% der Informationen, anhand derer CNN und BBC über Syrien berichten. Eine der drei LeiterInnen der NGO sei »Foreign Service Officer« der US-Regierung.

Das zweite Forum hatte den Titel: »Die innen- und außenpolitische Dimension der Wandlungsprozesse in Syrien«. Dr. Gundi Dilberz schilderte die Entwicklungen der letzten 100 Jahre in Syrien. Er skizzierte die koloniale Grenzziehung in der Region im Jahr 1916. Die ca. 50 Millionen KurdInnen wurden auf die vier oben genannten Staaten aufgeteilt. In Westkurdistan/Nordsyrien leben heute ca. 3,5–4 Millionen KurdInnen. In den kurdischen Provinzen im Norden des Landes lagern die größten Erdölreserven Syriens. Die Regierung habe seit Staatsgründung in unterschiedlich starker Ausprägung eine Assimilations- und Vernichtungspolitik betrieben. In den 1960er Jahren wurde mit der Arabisierung der Grenzregion zur Türkei begonnen. Kurdische BürgerInnen wurden aus einem 10–15 km breiten »Arabischen Gürtel« vertrieben, ca. 100?000 von ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen. 1966 ließ die syrische Regierung mehr als 80 bekannte KurdInnen gleichzeitig verhaften, foltern und ermorden. Seitdem kommt es immer wieder zu Massakern. Die Repression sei u.?a. durch 16 Geheimdienste allgegenwärtig, schilderte Dilberz. Ab 2004 sei es zu einem Wendepunkt gekommen. Die KurdInnen organisierten sich seitdem systematisch, vor allem in der PYD. Logische Konsequenz davon sei die jetzige Bildung der Volksräte in der Phase des Umbruchs.

Der Wissenschaftler Haluk Gerger aus Ankara erhielt in der Türkei Berufsverbot, da seine klare historisch-materialistische Analyse den Herrschenden ein Dorn im Auge ist. Er skizzierte die Herausbildung der nationalistischen Bewegungen in der arabischen Welt (Syrien, Irak, Ägypten) nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Türkei habe der NATO zu dieser Zeit als geostrategische Pufferzone im Klassenkampf gegen die Sowjetunion und Befreiungsbewegungen gedient. Die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung habe kurz nach Staatsgründung 1923 begonnen. Eine systematische Assimilationspolitik, die Bekämpfung der politischen und kulturellen Organisierung sowie Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Chemiewaffeneinsätzen seien seitdem an der Tagesordnung. In Bezug auf Syrien fahre die AKP eine andere Strategie als in Südkurdistan/Nordirak, beschrieb Gerger. Bevorzugt hätte sie eine direkte militärische Intervention, um die PYD und die Volksräte zu vernichten. Da dies im Bündnis mit der EU und den USA derzeit nicht möglich sei, würden Warlords aufgerüstet. Es werde auch versucht, den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan M. Barzani aus dem Kurdischen Hohen Rat abzuspalten.

Eigentlich habe die türkische Regierung den Konflikt mit der PKK, die sie vernichten wollte, besonders im letzten Jahr auf militärischer, ethischer, kultureller und historischer Ebene verloren. Der Dialogversuch mit Abdullah Öcalan sei eine Konsequenz davon. Allerdings werde eine Doppelstrategie – bei gleichzeitiger Eskalation von Repression und militärischer Gewalt – benutzt. Die KurdInnen würden von der Türkei und den westlichen Großmächten als Hindernis bei der neokolonialen Aufteilung des Mittleren Ostens gesehen, so Gerger. Im Idealfall könnten sie, wenn sie gemeinsam agieren, ein Bindeglied für die demokratische Entwicklung der gesamten Region sein. »Leider kann ich hier nicht alles sagen, was ich denke, sonst werde ich bei meiner Rückkehr in Ankara verhaftet«, beschrieb Haluk Gerger die allgegenwärtige Repression.

Im dritten Forum »Die Rolle der KurdInnen im Wandlungsprozess und in der Oppositionsbewegung in Syrien« skizzierte der Vertreter der PYD in Europa, Hassan Mohamed Ali, die basisdemokratische Organisierung der Volksräte sowie die Politik seiner Partei: »Momentan stehen sich zwei grundlegend verschiedene Entwicklungsmodelle für Syrien gegenüber: die an der Basiskultur des Mittleren Ostens orientierte Organisierung der Bevölkerung und die Mentalität des Ausverkaufs der Region.«

Die PYD berufe sich positiv auf 5000 Jahre alte Wurzeln, während im Rahmen des Greater Middle East Project versucht werde, der Region die westlichen gesellschaftlichen Formationen überzustülpen. Die AKP stelle dabei das Rollenmodell für die neoliberale Gestaltung und habe gleichzeitig eine neoosmanische Ausrichtung als hegemoniale Regionalmacht. Die Volksräte und die von ihnen umgesetzte Demokratische Autonomie seien dagegen Ausdruck einer längeren revolutionären Aufbauphase. In diesem Rahmen würden sämtliche ethnischen und religiösen Strömungen vereint. »In jedem Volksrat gibt es 17 Kommissionen, die sich mit Bildung, Verwaltung, Frauenbefreiung, Sozialem, Wirtschaft und allen Themen der Gesellschaftsgestaltung beschäftigen.« Insbesondere die Frauen seien in diesem Prozess eine sehr dynamische Kraft. Frauenbildungseinrichtungen und Frauenhäuser würden aufgebaut, 40?% der Gremien seien von Frauen besetzt. »Unter anderem zur Verteidigung gegen die immer aggressiver geführten Angriffe aus der Türkei haben wir die Volksverteidigungseinheiten YPG gebildet«, skizzierte Ali. Der Kurdische Hohe Rat, ein Gremium, in dem sämtliche kurdischen Organisationen – auch die von Barzani dominierten – vereint sind, bilde das Dach dafür.

Die der AKP nahestehenden Muslimbrüder versuchten dagegen, die multiethnische und multireligiöse Vielfalt auszuhebeln. Dadurch würden insbesondere die Salafisten gestärkt. Seitens der türkischen Regierung würden wie bei den Angriffen in Afrîn und Serê Kaniyê (Ras al-Ain) fanatische bewaffnete Gruppen aufgerüstet, ausgebildet und immer wieder von der Türkei aus in den Kampf geschickt. Dafür würden ebenfalls Panzer sowie Ambulanzen gestellt. Kriegsverbrechen, Entführungen und Tötungen von ZivilistInnen würden zum Standard dieser Gruppen gehören. Selbst Kinder seien getötet worden. Die KurdInnen würden dabei als ungläubige, zu vernichtende Feinde stilisiert.

»Syrien war schon immer eine zentrale Macht im Mittleren Osten«, erklärte Ali, »diejenigen Kräfte, die sich hier durchsetzen, werden eine entscheidende Rolle in der gesamten Region spielen. Deshalb beteiligen sich viele AkteurInnen an dem Konflikt. Auch Deutschland, Frankreich, die EU und die USA planen dementsprechend schon für die Zeit nach Assad.« Die PYD sei bereit, mit sämtlichen demokratischen Kräften zusammenzuarbeiten – die so genannte Exilopposition habe aber kein Interesse daran, den KurdInnen auch nur minimale Rechte zuzugestehen. »Die kurdische Bevölkerung und auch die syrische Bevölkerung wollen nicht mehr von oben regiert werden, sondern an den gesellschaftlichen Prozessen teilhaben. Dafür werden wir auch weiterhin kämpfen«, erklärte Ali.

In der Abschlussdiskussion wurden einzelne Aspekte der beschriebenen Referate vertieft und auf die immer offener propagierte neokoloniale Ausrichtung der Politik der EU hingewiesen. Die Fachtagung war insgesamt sehr informativ, produktiv und intensiv.

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