Der uruguayische Forscher, Professor, Journalist und Autor mehrerer Bücher über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika, Raúl Zibechi über die Bedeutung der Ideen Öcalans in Lateinamerika, 20.12.2017, The Region
Es ist zur Gewohnheit geworden die Ähnlichkeit zwischen dem Kampf der Kurden in Nordsyrien und dem der zapatistischen Bewegung zu vergleichen. Was aber in Rojava im Zusammenhang mit der Ideologie von Abdullah Öcalan in den letzten Jahren geschieht, ist durchaus auf einer Linie mit dem Handeln vieler sozialer Bewegungen in Lateinamerika.
Es gibt drei Schnittstellen zwischen diesen Bewegungen.
Die erste bezieht sich auf den Nationalstaat. Verschiedene Völker, wie die Mapuche in Chile und Argentinien, die Nasa in Südkolumbien und die Aymaras in Bolivien sowie die indigenen Völker in den Amazonen und dem Tiefland identifizieren sich nicht mit ihren Staaten und versuchen auch nicht Positionen in den staatlichen Institutionen einzunehmen. Die neuen Bewegungen der Schwarzen in Kolumbien und Brasilien folgen ähnlichen Prozessen, die sie dazu bringen sich aus dem politischen Machtspiel des Nationalstaates herauszuhalten. Das ist kein ideologisches Thema. Für die meisten sind die Nationalstaaten eben kein Teil ihrer Geschichte und ihrer Erfahrungen als Völker, sie verstehen Nationalstaaten als die Auferlegung des Kolonialismus und der kreolischen Eliten.
Die kurdische Gesellschaft in Rojava hat nicht die Absicht irgendeinen Staat zu gründen. Öcalan sieht den Nationalstaat als eine Machtform der „kapitalistischen Zivilisation“. Für die Kurden, die seinen Überzeugungen folgen, ist der antinationale Kampf sogar wichtiger als der Klassenkampf, was von lateinamerikanischen Linken, die immer noch auf das 19. Jahrhundert blicken, als Ketzerei gesehen wird. Diese Linken sehen den Staat immer noch als ein Schutzschild, das die Arbeiter beschützt.
Im Buch „Kapitalismus. Das Zeitalter der unmaskierten Götter und der nackten Könige“, der zweite Band des „Manifests für eine demokratische Zivilisation“, legt die kurdische Führungspersöhnlichkeit eine These dar, die der zapatistischen Praxis sehr nahe ist. Den Staat zu stürmen, schreibt Öcalan, „bringt den ehrlichsten Revolutionär vom Weg ab“. Um den 100. Jahrestag der russischen Revolution angemessen zu gedenken, schreibt er treffend: „150 Jahre eines heroischen Kampfes wurden im Wirbelsturm der Macht erstickt und verflüchtigten sich.“
Die zweite Schnittstelle ist die Ökonomie. Zapatistas neigen dazu die „Gesetze“ der Ökonomie zu verspotten und stellen diese Disziplin nicht in das Zentrum ihres Denkens, wie aus der Sammlung der Erklärungen von Subcomandante Marcos deutlich wird. Auf der anderen Seite betont Öcalan, dass „Kapitalismus Macht ist, nicht Ökonomie“. Die Kapitalisten nutzen die Ökonomie, doch das Zentrum des Systems ist der Zwang – bewaffnet oder unbewaffnet – um die von der Gesellschaft produzierten Überflüsse zu rauben.
Der Zapatismus definiert das momentane extrahierende Modell (Monokulturen, wie die Sojabohne, offener Tagebau und große Infrastrukturprojekte) als „vierten Weltkrieg“ gegen die Menschen, da Zwang genutzt wird um die Gesellschaften voneinander abzugrenzen.
In beiden Bewegungen gibt es eine direkte Kritik am Ökonomismus. Öcalan erinnert daran, dass „in kolonialen Kriegen, wo die eigentliche Akkumulation begann, es keine ökonomischen Regeln gab“. Indigene und schwarze Bewegungen in Lateinamerika berücksichtigen für ihren Teil die Tatsache, dass sie mit kolonialer Macht oder der „Kolonialität der Macht“ konfrontiert sind, einem Begriff, den der peruanische Soziologe Aníbal Quijano nutzte um den Kern der Dominanz in diesem Kontinent zu erklären.
Im Endeffekt ist der Ökonomismus wie die Pest, die die kritische Bewegung kontaminiert und die Hand in Hand mit dem Evolutionismus geht. Ein Teil der Linken denken, dass das Ende des Kapitalismus durch das Überwinden einer mehr oder weniger starken Krise erreicht wird. Öcalan widerspricht dieser Perspektive und lehnt den Vorschlag derjenigen ab, die glauben, dass der Kapitalismus als „ein natürliches Ergebnis der ökonomischen Entwicklung“ geboren wurde. Zapatistas und Kurden scheinen mit Walter Benjamins These übereinzustimmen, der die Entwicklung als einen „zerstörerischen Hurricane“ betrachtet.
Drittens verteidigen die lateinamerikanischen Bewegungen das Buen Vivir/Buena Vida (Gutes Leben), welches eine Gegenbewegung zum kapitalistischen Produktivismus ist. Die Verfassungen von Ecuador und Bolivien (2008 und 2009 ratifiziert) betonten die Natur als ein „Rechtssubjekt“, anstatt es weiterhin als ein Objekt zur Wohlstandsgenerierung zu sehen. Unter den Bewegungen kommt die Idee auf, dass wir einer Sache gegenüberstehen, die mehr als eine bloße Krise des Kapitalismus ist, es ist eine Krise der Zivilisation.
Die kurdische Bewegung stellt fest, dass der Kapitalismus zur Krise der modernen westlichen kapitalistischen Zivilisation führt. Diese Analyse erlaubt uns die Ideologie des Fortschritts und der Entwicklung zu überwinden und integriert die verschiedenen Unterdrückungen, die an Patriarchat und Rassismus gebunden sind, die mit Umwelt- und Gesundheitskrise zu tun haben und geht von einem tieferen und weiteren Blick auf die momentane Krise aus.
Eine Zivilisation befindet sich in einer Krise, wenn sie nicht mehr die materiellen und symbolischen Ressourcen hat um die Probleme zu lösen, die sie selbst kreiert hat. Das ist der Grund, weshalb Bewegungen, die zwar geografisch und kulturell entfernt voneinander sind, dennoch fühlen, dass die Menschheit auf der Schwelle zu einer neuen Welt steht.
Über all diesen drei Aspekten sehen wir einen gemeinsamen Aspekt: Frauen besetzen das Zentrum lateinamerikanischer Bewegungen und formen den Kern von Öcalans Gedanken. Hunderttausende Frauen, die Empathie und Zusammengehörigkeit gegenüber ihrer Genossen in Rojava verspüren, haben sich auf den Straßen Argentiniens unter dem Banner Ni Una Menos versammelt.
„Der starke und listige Mann“, betont Öcalan, ist der Ursprung des Staates, eine tief patriarchale Institution, die von Unterdrückung für Unterdrückung entworfen wurde und die nicht in ein Instrument der Befreiung gewandelt werden kann.