Adem Uzun, Mitglied des Exekutivkomitees des Kurdistan Nationalkongresses (KNK), Beitrag zur Fachtagung »Die Kurden im Kontext der (De-)Eskalation im Mittleren Osten« (27.01.2018 in Köln), 05.04.2018
Die Suche nach Wegen, den seit 34 Jahren in der Türkei andauernden Konflikt im Kontext der kurdischen Frage zu beenden und friedlich zu lösen, ist nicht neu. Der erste Schritt in diese Richtung wurde bereits im März 1993 vom türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal und dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan unternommen. Durch die Vermittlung des damaligen Generalsekretärs der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) und späteren irakischen Staatspräsidenten Celal Talabanî verkündete die PKK im März 1993 einen einseitigen Waffenstillstand. Auch die staatliche Seite hätte praktische Schritte unternehmen müssen, um in die Verhandlungsphase einzutreten. Doch mit dem plötzlichen und fragwürdigen Tod von Turgut Özal im April 1993 wurde kein Schritt unternommen und die Initiative blieb erfolglos. Stattdessen begannen im Mai 1993 wieder heftige Gefechte. Auf der staatlichen Seite war der Initiator und Architekt Turgut Özal. Seine Befugnisse und Kräfte waren jedoch begrenzt. Öcalan bewertete in einer seiner Erklärungen die Situation: »Turgut Özal war ehrlich, er wollte etwas bewegen, aber seine Kraft hat nicht ausgereicht. Sein Tod ist fragwürdig. Ich denke, dass er mit einem Komplott aus dem Weg geschafft wurde.«
Die Suche nach einer Lösung im Jahr 1993 war die erste wichtige Initiative − später folgten ähnliche. Bis zum Jahr 2006 gab es auf unterschiedlichem Niveau fünf verschiedene Versuche. Die kurdische Seite reagierte immer positiv mit einem einseitigen Waffenstillstand. Mit diesen Initiativen konnte jedoch kein Ergebnis erzielt werden. Die ganzen Aktivitäten nach 1993 wurden eher in dem Rahmen entwickelt, die Bewegung in eine Erwartungshaltung und in Inaktivität zu versetzen und um Zeit zu gewinnen. Daher möchte ich nicht näher auf die Details eingehen. Mit der folgenden Intensivierung des Krieges und dem Verkomplizieren des Problems haben sich auch die Friedensinitiativen vermehrt und neue Phasen wurden eingeleitet.
Ab dem Jahr 2006 hat mit der Unterstützung einiger Staaten und dem Einschalten vermittelnder Institutionen eine Periode des Dialogs und der Verhandlungen begonnen, die sogenannte Oslo-Phase. Sie nahm in den letzten Monaten des Jahres 2007 die Form einer Face-to-face-Kommunikation unter Beobachtung von Vermittlern an und dauerte mittels periodischer Gespräche bis Ende Juni 2011 an. Sie verlief voll und ganz unter der Aufsicht von Vermittlern und der von ihnen organisierten Orte, Logistik und Sicherheitsvorkehrungen. Neben den Face-to-face-Gesprächen wurden auch immer wieder Dokumente und Nachrichten vermittelt. Zudem wurden die Treffen durch die Staatsdelegation in schriftlicher Form mit Öcalan geteilt und seine Ansichten in schriftlicher Form auch bei den Treffen vorgelegt. Die Face-to-face-Gespräche während der Oslo-Phase wurden protokolliert, die Gesprächsergebnisse in den Protokollen festgehalten und sowohl die beiden Seiten als auch die Vermittlungsinstitution erhielten jeweils eine Kopie.
Wenn auch nicht zu Beginn, so doch ab Ende 2008 wurde die Phase mehr durch gegenseitige Waffenruhen aufrechterhalten, die jedoch nicht offiziell verkündet wurden. Zweifellos wurden sie von Zeit zu Zeit gebrochen. Gründe dafür waren fehlende Schritte des Staates, nicht eingehaltene Versprechen und Hinhaltetaktik sowie Polizeioperationen gegen die Zivilbevölkerung und demokratische Institutionen. Obwohl die kurdische Seite mehrfach Vorschläge für eine Roadmap vorlegte, kam die Gegenseite trotz Versprechungen mit leeren Händen zu den Treffen. Mit diversen Ausreden – dass Wahlen anstünden, die Staatsbürokratie so träge sei, die Regierung die Vorschläge bearbeite oder die Zeit nicht ausreiche – wurde die eine Seite weiter hingehalten. Um diese Stagnation zu überwinden, legte Öcalan Anfang Mai 2011 eine Roadmap, bestehend aus drei Protokollen, vor. Trotz Beharren der kurdischen Seite, dass die Staatsdelegation vor der Wahl am 12. Juni 2011 auf die Protokolle antworten und eigene Vorschläge mitbringen solle, gab es vor der Wahl keine Vorschläge und auch danach kam die Staatsdelegation mit leeren Händen. In dieser Zeit wurden zudem die militärischen Operationen forciert und die Oslo-Phase geriet im Juli 2011 ins Stocken.
Mit dem Stagnieren der Oslo-Gespräche begann eine Phase heftiger Gefechte. In der zweiten Hälfte des Jahres 2011 und das gesamte Jahr 2012 hindurch wurde der Krieg mit hohen Verlusten auf beiden Seiten geführt. Die türkische Regierung verfolgte damit das Ziel, die Freiheitsbewegung Kurdistans wie die Tamil Tigers durch Anwendung des Sri-Lanka-Modells zu vernichten. Doch der Plan ging nicht auf; die Armee war erfolglos und der Krieg verlief für sie zunehmend negativ. Dann begannen Ende des Jahres 2012 geheime Gespräche mit Öcalan auf Imralı. Mit dem Besuch zweier kurdischer Parlamentarier am 3. Januar 2013 wurden sie öffentlich. Davor war Öcalan 18 Monate lang totalisoliert gewesen. So begann die als Imralı-Phase bekannte und bis zum Jahr 2015 andauernde Initiative für Dialog und Frieden.
In der Imralı-Phase ging zuerst die Regierungsdelegation auf die Insel und traf sich mit Öcalan, danach wurde eine aus drei Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) bestehende Delegation gebracht. Die Abgeordneten leiteten die Nachricht aus Imralı an die Leitung der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) in den Kandil-Bergen weiter. Die KCK-Leitung vermittelte ihre Antwort über die Abgeordneten an Öcalan. In der ersten Etappe konnten nur Abgeordnete zur Insel gelangen. Durch die beharrliche Forderung Öcalans wurden zwei weitere Personen der Delegation hinzugefügt: eine Vertreterin der Frauenbewegung Kurdistans und eine der kurdischen demokratischen Institutionen. Zu dieser Zeit endeten die Gefechte und es gab einen beidseitigen Waffenstillstand. Der Prozess stand weitgehend im Fokus der Öffentlichkeit. Die Abgeordnetendelegation hielt regelmäßig Pressekonferenzen ab, um die Öffentlichkeit über die Entwicklung zu informieren. Die Imralı-Phase stieß in der Öffentlichkeit auf große Resonanz. Umfragen zufolge unterstützten über 70 % der Bevölkerung diese Imralı-Gespräche.
Wenn die Regierung ihre Versprechen gehalten hätte und das Problem tatsächlich hätte lösen wollen, wäre im Jahr 2013 ein Friedensabkommen zustande gekommen und das Problem beendet worden. Doch dies passierte nicht. Wie auch in der Oslo-Phase hielt die Regierung auch dieses Mal ihre Versprechen nicht und vertröstete stets die andere Seite. Öcalan versuchte immer wieder mit alternativen Vorschlägen und Projekten den Weg zu ebnen. Mit der Sorgfalt und Mühe Öcalans verfassten Regierung und HDP am 28. Februar 2015 eine gemeinsame Presseerklärung. Dem Abkommen vom 28. Februar zufolge hätten innerhalb von zwei Wochen beide Seiten, unter Aufsicht von Vermittlern, auf Imralı zusammenkommen und grundlegende Themen verhandeln sollen. Mit positivem Verhandlungsverlauf und dem Öffnen von Kanälen für den politischen Kampf hätte die KCK auf einem Kongress den Beschluss gefasst, den bewaffneten Kampf gegen die Türkei einzustellen.
Doch das ist so leider nicht passiert; die Vermittlungsdelegation wurde nicht gebildet. Wenige Tage nach dem 28. Februar erklärte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, es gebe keine kurdische Frage in der Türkei. Eine Woche darauf verkündete er: »Es wird keine Verhandlung geben, es wird keine Vermittlungsdelegation geben, ich wusste nichts von dem Abkommen am 28. Februar, die Regierung hat einen Fehler gemacht.« Doch die Pressekonferenz war mit seinem Wissen und seiner Erlaubnis durchgeführt worden. Hier kam der Prozess ins Stocken. Das letzte Gespräch mit Öcalan fand am 5. April 2015 statt. Er erklärte: »Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie euch nicht noch mal hierherbringen, ich denke, das wird unser letztes Treffen sein.« Seit diesem Tag sind die Gespräche abgebrochen und die Tore von Imralı geschlossen. Seither wird auf Imralı schwer gefoltert und weder die Familie noch die Anwälte können Öcalan besuchen.
Wenn wir auf all diese Phasen zurückblicken, dann wird deutlich, dass die kurdische Seite mit all ihren Institutionen von Anfang an ehrlich war und diese Etappe wirklich mit einem ehrenvollen Frieden abschließen wollte. Deshalb verkündete sie einseitige Waffenstillstände, legte mehrfach eine Roadmap vor und ertrug das Hinhalten und die Operationen des Staates. Leider können wir eine ähnliche Bewertung für die andere Seite nicht anstellen. Sie ging den Prozess taktisch an, versuchte Zeit zu gewinnen und trotz Versprechungen wurde nie ein Lösungsprojekt vorgelegt.
Wie zuvor schon wurde auch die Imralı-Phase vom Staat abgebrochen. Seine bewaffneten Kräfte gingen am 24. Juli 2015 zum Angriff über. Seitdem gibt es einen großen Krieg und schwere Gefechte. Der Krieg des türkischen Staates ist nicht auf die Türkei begrenzt, seine Kurdenfeindlichkeit kennt keine Grenzen. Der Krieg wurde sowohl auf Südkurdistan (Nordirak) als auch auf Rojava (Nordsyrien) ausgeweitet. Die Angriffe auf kurdische Politiker und Aktivisten beschränken sich nicht nur auf den Mittleren Osten. Es wurden Todeskommandos nach Europa geschickt, um Massaker wie die Pariser Morde von 2013 zu verüben. Sie wollen alle Errungenschaften der Kurden zunichtemachen. Diese werden sich gegen die ungerechten, rechtlosen und brutalen Angriffe des türkischen Staates mit allen Mitteln verteidigen – wie sie es bereits tun.