Drei auf einen Streich? – Der Türkei-Besuch von Barzani

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 06.03.2017

Keine Entwicklung im Mittleren Osten geschieht aus Zufall. In diesem Sinne ist es erst recht kein Zufall, dass nur wenige Tage nach dem Türkei-Besuch des Präsidenten der südkurdischen Regionalregierung Mesud Barzani die sogenannten „Roj Peschmerga“ die Widerstandskräfte von Shengal (kurz: YBŞ) angreifen, die KDP ((alternative Schreibweise auch PDK, Demokratische Partei Kurdistans))-nahe Splitterparteien in Nordkurdistan bei Verfassungsreferendum vom 16. April zum Boykott anstelle eines Neins aufrufen und der IS zeitgleich mit als der „Freie Syrische Armee“ betitelten und mit der Türkei verbündeten Gruppen, die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) in Rojava, genauer in Minbic, angreifen.

Wer hat nun welches Interesse an diesen Entwicklungen, die sich nach dem Besuch Barzanis beim Präsident Recep Tayyip Erdogan am 27. Februar ereigneten?

Die Verwaltung der überwiegend von Êzîden besiedelten Shengal ((alternative Schreibweise auch Schengal, Sinjar)) -Region war von 2003 bis zum Angriff des IS im August 2014 zum größtenteils in den Händen der KDP. In administrativer und militärischer Hinsicht war die irakische Zentralregierung in der Stadt Shengal und Umgebung tonangebend.

Die Stadt Shengal und die Êzîden verfügten weder zu Saddams Zeiten, noch in der Phase, in welcher die KDP einflussreich war, jemals über einen Mechanismus um sich selbst zu verwalten und zu verteidigen. Als der IS im Jahr 2014 zum Sturm auf Shengal ansetzte, ergriffen die Peschmerga der KDP und die irakischen Soldaten die Flucht und überließen die êzîdische Bevölkerung der Barbarei des IS. Die darauffolgenden Entwicklungen sind die uns allen bekannten grausamen Massaker an der Zivilbevölkerung.

Nach der Befreiung von Shengal haben die Êzîden zum ersten Mal in in ihrer Geschichte Bedingungen vorgefunden, ihre eigene Verwaltung und Verteidigung aufzubauen.

Die KDP, die zwischen 2003 und 2014 kein Problem damit hatte, die Stadt Shengal zusammen mit der irakischen Zentralregierung zu verwalten, baut seit der Befreiung der Stadt kontinuierlich Druck gegen die Präsenz der YBŞ in Shengal auf. Bei der YBŞ handelt es sich jedoch um Selbstverteidigungseinheiten, die sich aus der êzîdischen Bevölkerung Shengals zusammensetzt. Sie wurden von den Volksverteidigungseinheiten (HPG) und der YJA-STAR Frauenguerilla ausgebildet, die zur PKK gehören und die Eziden nach der Flucht der Peschmerga und der irakischen Soldaten vor einem Genozid retteten. Die seit langer Zeit andauernden Drohungen und Provokationen der KDP sind nun am 2. März in ernsthafte militärische Auseinandersetzungen gemündet.

Auch wenn von den an die KDP gebundenen „Roj Peschmerga“ die Rede ist, muss betont werden, dass diese Provokation durch die KDP angetrieben werden und sich in den Reihen der Angreifer auf Shengal auch KDP-Peschmerga befinden. Die am 2. März begonnenen und einen Tag andauernden Gefechte wurden durch Gespräche unterbrochen, doch die Spannungen dauern an. Beim Verfassen dieses Artikels befanden sich die Peschmerga wieder in Angriffsvorbereitungen.

Der Hauptgrund für einen Stopp der Gefechte sind ohne Zweifel die vielen Reaktionen der kurdischen Öffentlichkeit gegen die KDP.

Das Echo in den kurdischen Medien

Seit den jüngsten Provokationen gegen Shengal trägt die kurdische Presse die Meinungen der kurdischen Gesellschaft an die Öffentlichkeit. Die kurdische Presse abseits der KDP erklärt einmündig die KDP für die gegenwärtige Situation für schuldig. So wird erklärt, dass der Angriff auf Shengal beim jüngsten Türkei-Besuch von Barzani geplant worden sei.

Wenn in Betracht gezogen wird, dass die KDP in der Vergangenheit zusammen mit dem Irak, dem Iran und der Türkei gegen die PKK militärisch gekämpft hat, ist diese Vermutung wahrscheinlich. Von vielen kurdischen Kreisen wird diese Situation als ein „neuer Versuch eines Massakers und Verrats an den Eziden“ kommentiert. Die KDP, die mit dieser Provokation wohl erhoffte einen Rückzug der YBŞ aus der Region zu erzwingen, wird angesichts der Reaktionen verschiedenster kurdischer Kreise und der unerwarteten Gegenwehr zwangsläufig zurückweichen müssen.

Zeitgleiche Angriffe auf vom SDF kontrollierte Gebiete

Ein weiteres auffallendes Ereignis nach dem Besuch von Barzani sind die zeitgleich durchgeführten Angriffe auf die Kräfte der SDF in Rojava. Sofort nach dem Besuch haben der IS, an die FSA gebundene Gruppen und türkische Soldaten gegen die vom SDF kontrollierten Gebiete, allen voran Minbic, eine ernsthafte Angriffswelle gestartet. Zusammen mit dem Zurückschlagen all dieser Angriffe wurden in der Region wichtige diplomatische und politische Schritte in die Wege geleitet, die ein weiteren Vordringens der Türkei vorzeitig stoppten.

Aufrufe zum Boykott beim Verfassungsreferendum

Eine weitere erwähnenswerte Entwicklung nach dem Besuch Barzanis sind die Boykott-Aufrufe der als Barzani-nahen bekannten Parteien PAK, PDK-Norden und PSK in der Türkei/Nordkurdistan.

Neben einem „Ja“ beim Referendum am 16. April wird es Erdogans Alleinherrschafts-Ambitionen am meisten in die Hände spielen, wenn die Menschen nicht an die Wahlurnen gehen. Wenn wir uns vor Augen halten, dass selbst Umfragen von AKP-nahe Institutionen erklären, dass bei einer Wahlbeteiligung von über 85 Prozent ein „Nein“ sicher ist, dann wird ein Boykott der AKP in die Hände spielen. In dieser Phase ist also ein Aufruf zum Boykott gleichbedeutend mit einem „Ja“.

Es ist bekannt, dass die AKP in jeder Wahlperiode mit Barzani zusammenarbeitet. So ergibt sich die Forderung der AKP an die KDP mit ihrem Einfluss auf kurdische Wahlstimmen neben einem „Ja“ für einen Boykott zu werben.

Doch die immer größer werdende und verschiedenste Kreise umfassende Front der „Nein-Wähler“ scheint auch hier die Pläne der AKP und KDP durchzukreuzen.

Wenn wir also auf die Frage in der Überschrift zurückkommen; Barzani und Erdogan wollten mit ihrem Treffen drei Fliegen mit einem Streich schlagen. Doch es scheint, dass keinem dieser drei Initiativen ein Erfolg versichert ist.