Ein Ende der mörderischen Kämpfe scheint nicht absehbar

werner_rufDer Konflikt in Syrien und die Neugestaltung des Nahen Ostens

Werner Ruf, Prof. emer., Friedensforscher und Nahostexperte

Es scheint, als ob die Krise in Syrien der letzte Akt in der Kette der Umwälzungen ist, die im Dezember 2010 in Tunesien begannen und gemeinhin unter dem Titel „Arabischer Frühling“ oder „Arabellion“ zusammengefasst werden. Spätestens mit Beginn der Aufstände in Ägypten im Januar 2011 wurde klar, dass der Westen (mit Ausnahme Frankreichs) die bis dahin Jahrzehnte lang gestützten Diktatoren wie heiße Kartoffeln fallen ließ. Die US-Administration begrüßte in überschwänglichen Erklärungen die Aufstände und unterstützte „den Wandel“ in der arabischen Welt.1 Dies mag wenig überraschend erscheinen, wenn man sich daran erinnert, dass bereits die Vorgänger-Administration des George W. Bush die Invasionen in Afghanistan und Irak damit begründet hatte, Ziel der US-Außenpolitik sei die „Demokratisierung des Mittleren Ostens“. Dass mit „Demokratisierung“ immer auch die Etablierung marktwirtschaftlicher Strukturen vor allem im Außenhandel gemeint ist, sollte dabei nicht übersehen werden, ist doch der zentrale Slogan immer „democracy and market economy“.

Machtverschiebungen

Spätestens mit dem Krieg in Libyen zeigte sich eine neue und auf den ersten Blick verblüffende Konstellation in der Weltpolitik: Es war die Arabische Liga unter Führung der Staaten des Golf-Kooperationsrats, die jene Vorlage erarbeitete, die zur Grundlage der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats wurde, die den „Einsatz aller notwendigen Mittel“ zur Errichtung einer „Flugverbotszone“ an eine undefinierte „Koalition der Willigen“ übertrug und schließlich zu einem vernichtenden Luftkrieg und zum Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi und zu seiner Ermordung führte.2 An der Vorbereitung und Legitimierung dieses Krieges hatte der katarische Sender Al Jazeera mit systematischer und gezielter Desinformation entscheidenden Anteil. Im Rahmen der Koalition der Willigen beteiligten sich am Krieg selbst auch drei arabische Staaten: Katar, Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Dies deutet auf eine Verschiebung der Kräftekonstellation im Nahen Osten, die hier nur kurz skizziert werden kann: Jenseits ihrer Rolle bei der Vorbereitung des Libyen-Krieges und seiner medial-manipulativen Begleitung haben die Golfstaaten – allen voran Saudi-Arabien und Katar – die Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten dazu genutzt, ihren Einfluss auszudehnen: Sie unterstützen und finanzieren die islamistischen Parteien in Marokko, Tunesien, Ägypten, Jemen, die in all diesen Ländern zur entscheidenden politischen Kraft geworden sind, und seit geraumer Zeit eben auch in Syrien. Dieser „Wandel“ hat zu tun mit der Veränderung der Rolle der USA in der Weltpolitik: Die Kriege in Afghanistan und Irak sind verloren. Hinterlassen haben sie zwei zerfallene Staaten, die mehr denn je Brutstätten jenes Terrorismus geworden sind, den die USA zu bekämpfen vorgaben. In Libyen und demnächst in Syrien zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Der damit einhergehende Machtverlust ist gekennzeichnet durch die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise, die an den USA keineswegs spurlos vorübergegangen ist, und durch den Zwang, erstmalig, wenn auch geringfügig, den Militärhaushalt zu kürzen. Hinzu kommt die Umorientierung der US-Militärstruktur auf den Pazifik, da im Aufstieg Chinas die derzeit größere Gefahr gesehen wird.

Da bieten sich die reaktionären Despotien des Golfs als die verlässlichen Bündnispartner an, die sie bereits in den 70er und 80er Jahren gewesen waren. Der puristische Wahabismus Saudi-Arabiens besaß stets fließende Übergänge zu Ideologie und Zielsetzung des Salafismus und des von al-Qaida propagierten Dschihadismus. Es ist daher kein Zufall, dass gerade die salafistischen Bewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten besondere Förderung durch Saudi-Arabien und Katar genießen: Durch die Etablierung dieser reaktionären Kräfte schaffen die Staaten des Golf-Kooperationsrats, dem demnächst auch Marokko und Jordanien beitreten sollen, ein politisches Gegengewicht im arabischen Raum, das ihre eigene Herrschaftsbasis absichern soll. Von den arabischen Revolten, an denen die Islamisten anfangs keinen Anteil hatten, soll keine Gefahr für ihre despotische Herrschaftsbasis ausgehen, die fortschrittlichen und teilweise sozialistischen Ziele der Bewegungen sollen im Keim erstickt werden. So ist es kein Zufall, dass die säkularen Kräfte der Region (Marokko, Tunesien, Ägypten) bekämpft werden, die dort bestehenden säkularen Regime (Libyen, Syrien) mit Hilfe islamistischer Kräfte zu Fall gebracht werden müssen.

Die USA nutzen hierbei die regionalen hegemonialen Rivalitäten zwischen den Despotien am Golf und dem Iran, der nach Zerstörung seines traditionellen Rivalen Irak zur regionalen Großmacht aufgestiegen ist, um Saudi-Arabien, Katar und den Rest der Staaten der Arabischen Halbinsel als Gegenmacht zu etablieren. Diese wiederum ziehen aus dieser Allianz den Vorteil, die sozialen Proteste ihrer schiitischen Minderheiten in das Machtspiel der Rivalitäten am Golf einzubeziehen und sich als Bollwerk gegen die „iranische Gefahr“ zu präsentieren. Der mediale Umgang und die Inaktivität des Westens bei der blutigen Unterdrückung der Revolte in Bahrain sprechen hierfür Bände. Schließlich haben die von Saudi-Arabien und Katar finanzierten Islamisten entscheidende Trümpfe in der Hand: Sie stehen konsequent für Prinzipien der freien Marktwirtschaft und sind damit Garanten für den freien Fluss von Öl und Gas aus diesem Raum; ihre Stabilisierung – auch gegen innere soziale Proteste – liegt damit im unmittelbaren Interesse des Westens. Gemeinsam mit Israel sind sie perspektivisch die politische Achse, auf die der Westen baut, um eine, wenn auch noch so prekäre, neue Stabilität in diesem energiereichen Raum herzustellen.

Im Konflikt in Syrien geht es um die Hegemonie im Nahen Osten

In diesen geostrategischen Zusammenhang ist die Krise in Syrien einzuordnen: Für die USA (und Israel) ist Syrien der einzige verlässliche Partner des Iran. Die Ausschaltung des Assad-Regimes stellt daher einen wichtigen Schritt zur Schwächung und weiteren Einkreisung des Iran dar. Für die Saudis und Kataris ist Syrien die letzte säkulare Bastion im Nahen Osten und daher eine Herausforderung für die wahabitisch-theokratische Ordnung der arabischen Despotien. Diese sind nun dabei, im Zuge der arabischen Revolten, islamistische Vasallenregime einzusetzen. Die einigende Klammer ist die Gegnerschaft zum schiitischen Iran, der von der wahabitischen Seite durch Mobilisierung der Sunniten bekämpft wird: So wird das Assad-Regime wegen seiner alawitischen Basis als Zweig der (für die Wahabiten häretischen) Schia bekämpft. Die Mobilisierung gegen die Schiiten ist zugleich die Instrumentalisierung der Religion im Kampf gegen die eigenen, sozial diskriminierten schiitischen Minderheiten in den Golf-Staaten. So präsentieren sich die reaktionärsten, undemokratischsten Staaten der Welt, in denen Menschenrechtsverletzung zum Kern ihrer Systeme gehören, mit dem Beifall des Westens als Verteidiger der Menschenrechte!

Die Behauptungen des Assad-Regimes, wonach es sich gegen „Terroristen“ wehren müsse, wurden lange Zeit im Westen ignoriert. Sicherlich ist es richtig, dass nach der ökonomischen Öffnung des Jahres 2005 die große Masse der syrischen Bevölkerung – und das sind vor allem Sunniten – noch mehr verarmte. Richtig dürfte auch sein, dass die ersten Proteste in Dar´a aus der Bevölkerung kamen. Doch seit spätes-tens April/Mai 2011 sickerten bewaffnete Banden nach Syrien ein, und es ist bezeichnend, dass Al Jazeera solche Berichte seiner Reporter systematisch unterdrückte.3 Allmählich haben auch die deutschen Medien ihre Berichterstattung zum Konflikt verändert: Neben der jungen Welt ist dies vor allem die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wo schon am 16. April 2012 Wolfgang Günter Lerch die „islamischen Extremisten“ erwähnte. Mittlerweile sind „mindestens 3?000 libysche Kämpfer“ in Syrien,4 bei denen es sich offensichtlich um kriegserprobte ehemalige Afghanistan-Kämpfer handelt, die von Anfang an am Aufstand in Libyen beteiligt waren. Noch bedeutsamer dürften die aus Irak einsi¬ckernden Dschihadisten sein, doch auch aus der Türkei scheinen mit Wissen und logistischer Hilfe der USA islamistische Kämpfer nach Syrien geschleust zu werden, die ja schon in Afghanistan lange Jahre die besten Verbündeten der USA gewesen waren. Über ihre wachsende Rolle berichtete abermals die FAZ.5

Aus einem Bericht der website DEBKAfile,6 die dem israelischen Auslandsnachrichtendienst Mossad nahesteht, geht hervor, dass Teile der Dschihadisten von saudischen und katarischen Geheimdienst-Offizieren nach dem Vorbild des Aufstands in Libyen geführt werden, dass aber Rivalitäten zwischen den Gruppierungen deren militärische Effizienz erheblich beeinträchtigen, so dass es nicht gelingt, nennenswerte Teile des Landes dauerhaft unter Kontrolle zu bringen, obwohl die USA offensichtlich massive Unterstützung bereitstellen.

Damit, so scheint es, ist der Krieg in Syrien noch lange nicht beendet, und die Aufgabe der Syrien-Initiative des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan spricht Bände für die mangelnde Unterstützung, die er vom Westen und von seinem Amtsnachfolger erhielt. Fest steht: Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats wird der Westen in Syrien nicht eingreifen, ja bisweilen entsteht der Eindruck, dass bestimmte, besonders in Wahlkampfzeiten wenig kriegslüsterne Kreise in den USA Russland und China dankbar sind für die Verweigerung einer interventionistischen Resolution. So könnte der Kampf um Aleppo möglicherweise als eine Wende erscheinen, denn den „Aufständischen“ ist es offenbar nicht gelungen, sich trotz massiver Unterstützung von außen mit Geld, Waffen und Kämpfern dort festzusetzen. Gleichzeitig geraten die Tausende von zivilen Opfern zur Propaganda-Masse der Kriegsparteien. Ein Ende der mörderischen Kämpfe scheint nicht absehbar, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Unterstützung, die dem Friedensplan Kofi Annans im Westen zuteilwurde.
Das Kurden-Problem: Brennpunkt einer Neuordnung im Nahen Osten?

Wenig bedacht und beachtet wird, welche Folgen der Krieg für die Region hat: Syrien ist eben nicht die einfache Front, wie sie lange dargestellt wurde, in der ein verbrecherisches Regime gegen sein Volk kämpft: Längst ist dieser Krieg zu einem Bürgerkrieg geworden. Längst hat dieser Krieg auch auf den Libanon übergegriffen, und er droht die ganze Region in Flammen zu setzen. Die Türkei verfolgt – schon wegen der Kurdenfrage – unmittelbar eigene Interessen und ist vielfältig am Konflikt beteiligt, wobei derzeit undurchschaubar ist, inwieweit sie (ausschließlich) eigene Interessen verfolgt oder inwieweit sie als NATO-Partner und verlängerter Arm der USA agiert. Schon die relative Autonomie der Kurden im Irak ist eine Herausforderung für die türkische Politik gegenüber der eigenen kurdischen Minderheit, und es scheint, dass zumindest der Barzani-Clan im Nord-Irak die syrischen Kurden auch militärisch unterstützt.7

Die Entwicklung in den syrischen Kurdengebieten muss für die türkische Regierung umso bedrohlicher erscheinen. Offenbar haben dort kurdische Gruppen das Kommando übernommen, die Ortsnamen werden kurdisiert, die kurdische Partei PYD (Partei der Demokratischen Einheit) hat weitgehend die Verwaltung übernommen und entwickelt basisdemokratische Entscheidungsstrukturen. Zugleich ist das Verhältnis der kurdischen Mehrheitsbevölkerung zu den auch in diesen Gebieten lebenden Minderheiten offensichtlich von Toleranz und Respekt gekennzeichnet. Frauen und Männer werden für neu geschaffene Polizei-Einheiten ausgebildet.8 Das Assad-Regime scheint sie gewähren zu lassen, um keine weitere Front aufzumachen, gleichzeitig kann diese Zurückhaltung auch verstanden werden als Antwort auf die türkische Unterstützung für den „Syrischen Nationalrat“ und jene Kämpfer, die sich, unterstützt von den USA und der arabischen Reaktion, mehr oder weniger unter dem Dach der „Freien Syrischen Armee“ versammelt haben.

Im Falle eines Sieges der syrischen Rebellen, die immer mehr unter der Kontrolle von Salafisten und Dschihadisten stehen, könnten gerade die Kurden-Gebiete zu einem neuen Brennpunkt der internationalen Politik werden: Einer islamis¬tischen Machtübernahme dürften sie sich mit allen Mitteln widersetzen. Sie könnten so eine Vorreiterrolle spielen im Machtkampf, der seit den arabischen Revolten im ganzen Raum begonnen hat und dem die säkulare Linke von Marokko bis Ägypten bisher klagend, aber machtlos gegenübersteht.9 Auszuschließen ist aber auch nicht, dass als Folge der Krise in Syrien ein weiteres autonomes kurdisches Gebiet entsteht, das in Interaktion mit dem mehrheitlich kurdischen Nord-Irak die seit den Pariser Vorort-Konferenzen verdrängte Kurden-Frage wieder auf die internationale Tagesordnung setzt. Dies ist mit Sicherheit die Horror-Vorstellung für die türkische Politik und erklärt deren Unterstützung für die saudisch-katarischen politischen Ziele. Indirekt könnte so die kurdische Frage zu einem Sprengsatz werden, der ernsthaft die Frage einer (auch territorialen) Neuordnung des Nahen Ostens auf die internationale Tagesordnung zwingt. Dabei wird es jedoch nicht nur um die Territorialität gehen, sondern auch um die mittelfristige ideologische Ausrichtung des gesamten Raumes: Wird er von reaktionär-islamistischen Kräften beherrscht oder werden säkulare (und sozialistische) Kräfte mittelfristig die Hegemonie gewinnen können.

Fußnoten:
1) Ruf, Werner: Die arabischen Revolten und der Westen. ISW-Report Nr.? 86, München, Sept. 2011.
2) Paech, Norman: Libyen und das Völkerrecht. In: Becker, Johannes M., Sommer, Gert (Hrsg.): Der Libyen-Krieg. Das Öl und die ‚Verantwortung zu schützen’, Münster 2012, S. 61–76. Ruf, Werner: Libyen und die arabische Welt. In: a.?a. O.?S.?159–172.
3) S.?das Interview von Paul Jay mit dem Al-Jazeera-Reporter Ali Hashem, der wegen der Unterdrückung von Nachrichten seinen Dienst bei dem Sender quittierte: INAMO Nr.?70, Sommer 2012, S.?43–76.
4) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 2012
5) Erhardt, Christoph: Syrischer Jungbrunnen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. August 2012, S.?8.
6) http://www.debka.com/article/22223/The-bid-for-Syria%E2%80%99s-first-safe-haven-in-Aleppo-region-is-thwarted. [02-08-12]
S. such: http://www.dedefensa.org/article-notes_sur_la_syrie_narrative_tournant_et_hubris_31_07_2012.html [02-08-12].
7) So die deutsche Tagesschau am 1. August 2012. http://www.tagesschau.de/ausland/kurden-syrien100.html [02-08-12].
8) Der Freitag, 3. Aug. 2012.
9) Dot-Pouillard, Nicolas: La crise syrienne déchire les gauches arabes. In: Le Monde diplomatique (frz. Ausgabe), Aug. 2012, S.?11.

Quelle: Kurdistan Report Nr. 163 September/Oktober 2012

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