Ein Rückblick auf die Vergangenheit und Aussichten auf die Entwicklungen der Türkei

logo1Ein Beitrag zur Debatte um den Erdoğan-Besuch von Civaka Azad, 21.05.2014

Wieder ist es soweit, dass der türkische Ministerpräsident R. T. Erdoğan nach Deutschland kommt und sich in der Lanxess-Arena „präsentieren“ will. Vor dem Hintergrund des Grubenunglücks von Soma mit über 300 Toten sorgt Erdoğans anstehender Besuch in Köln seit Tagen für Aufregung in der deutschen Politik und bei türkischstämmigen Menschen. Es wurden Proteste angekündigt. Eine Erklärung jagt die nächste. Doch was steckt wirklich hinter diesem Protest und Aufruhr?

Um Erdoğan zu verstehen, muss man „türkisch“ denken können. Denn der als autoritär zu bezeichnende Ministerpräsident ergreift den Leitfaden seiner Handlungen nicht aus dem Nichts. Sein Handeln basiert nicht unwesentlich auf der undemokratischen türkischen Verfassung. Er spiegelt auch die von Ängsten und unzähligen Feindbildern geprägten Gesellschaftsvorstellungen der rund 50% WählerInnen, die die AKP unterstützen.

Die aktuelle türkische Verfassung ist noch immer dieselbe, die 1982 nach dem Militärputsch am 12. September 1980 von den Militärs diktiert wurde. Es ist also keine zivile, sondern eine militärische Verfassung. Und die ist dem entsprechend rassistisch und militaristisch. Mit dieser Verfassung geht auf Grundlage des „Atatürk-Nationalismus“ eine brutale und rassistische Diskriminierung von Nicht-TürkInnen einher.

Es boomte auf Kosten der Demokratie

Man muss auch in Betracht ziehen, dass sich die Durchsetzungsfähigkeit von Erdoğan und somit auch die der AKP-Regierung nicht von heute auf Morgen entwickelt hat. Seit ihrer Gründung 2001 einwickelte sich die AKP in der Türkei auch auf Basis der Unterdrückung der „Anderen“. Mal waren es die RepublikanerInnen, mal die SozialistInnen, mal die AlevitInnen, mal die nicht-Muslime, mal die ArmenierInnen, mal die Opposition – aber immer wieder waren es die KurdInnen, die unter dieser Herrschaft gelitten haben. Der Aufschrei derjenigen Menschen, die durch die Politik der AKP unterdrückt werden, wurde größtenteils überhört. An deren Stelle lobte man im In- und Ausland mit Doppelmoral die AKP für ihre „demokratischen Schritte“, die „demokratische Öffnung“, „demokratische Reformen“, „demokratische Entwicklungen“ und weitere „Projekte“. Vor Allem „bewunderte“ man den Wirtschaftsboom. Anzeichen einer Demokratisierung waren jedoch aus Sicht der „Anderen“, also auch aus Sicht der Kurden nicht zu erkennen.

Durch Reformen auf dem Papier und „Sonntagsreden“ vertuschte Erdoğan seine Handlungen und Ziele. So sagte er beispielsweise am 17.02.2008 in Köln: „Denn die Strecke, die wir auf dem Feld der Demokratie zurücklegen, bringt uns auch bezüglich der Wirtschaft voran. Denn solange wir die Demokratie und die Wirtschaft in einem Kopf-an-Kopf-Rennen weiterführen, kann, mit Gottes Hilfe, niemand etwas Negatives über die Türkei sagen. (…) Mit Verboten, mit Verhindern, mit Aufrichten von Mauern, durch Entfernen von Demokratie und Menschenrechten kann man nirgendwohin gelangen.“ ((“Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, 17.05.2010, http://www.sueddeutsche.de/))

Der Ansatz war richtig, aber die darauf folgende Politik war fatal. Erinnern wir uns an die jüngste Repressionswelle, die Verhaftungswellen in den Jahren 2009 bis heute gegen die meist kurdischen PolitikerInnen, BürgermeisterInnen, Abgeordnete, JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen, GewerkschaftlerInnen, StudentInnen und Kinder. Die Zahl der Inhaftierten stieg zeitweise bis zu 10.000. All das Schweigen der „Partner“ im In- und Ausland hat die AKP und der Menschenrechtsverstöße legitimiert.

„Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

In derselben Rede in Köln, bezeichnete Erdoğan auch die Politik der Assimilation gegenüber türkischen MigrantInnen in Deutschland als Verbrechen. In dieser Bezeichnung schließen wir uns seiner Meinung an, wenn er sagt: „Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ ((Ebd.))

In der Türkei betreibt die AKP-Regierung in Kontinuität zu den Regierungen seit der Staatsgründung 1923 jedoch genau diese Assimilationspolitik. Nicht allein die KurdInnen waren davon betroffen. Im Jahr 1938 haben die kurdischen Aleviten ein Massaker in Dersim erlebt, bei dem ca. 80.000 Menschen ermordet wurden. ((Dersim 1937/38 – 76 Jahre danach, Erklärung von Yek-Kom, Mai 2013, www.civaka-azad.org))   Massaker, Verleugnung, Vertreibung, Deportation, Folter, Staatsgewalt, zerstörte und entvölkerte Dörfer gehören leider bis heute noch immer zum Alltag der KurdInnen in der Türkei. Weiteren Bevölkerungsgruppen ging und geht es nicht anders.

Nationalistische türkische Staatsdoktrin

Der Leitspruch „Die Türkei den Türken“ wurde immer wieder von türkischen Politiker und Herrschenden angewandt. Sogar heute noch wiederholt Ministerpräsident R. T. Erdoğan in zahlreichen seiner Reden die Parole „eine Nation, eine Heimat, eine Religion, eine Sprache, eine Flagge“. Durch die Fortführung dieser symbolischen Sprache wird allen dieses Erbe aufgezwungen. Diese Rhetorik ist keine Option, sondern staatlicher Zwang. Die Äußerungen Erdoğans finden ihren Ursprung ebenfalls in der Verfassung, deren Präambel u.a. konstatiert, „(…) dass keinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geduldet werden und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates werden vermischt werden (…)«. ((Die Verfassung der Republik Türkei, Stand 01.01.2012 Übersetzung von Prof. Dr. Christian Rumpf))

44 ethnische und religiöse Gruppen in der Türkei

Attila Durak, ein Fotograf, Künstler, zeichnete in den Jahren 2000 bis 2007 die kulturelle Vielfalt der Türkei in seinen Menschenportraits und erzählte deren Geschichten. Anhand einer Feldforschung in hunderten Städten, Gemeinden und Dörfern überall in der Türkei dokumentierte er 44 ethnische und religiöse Gruppen fotografisch und stellte in einer Ausstellung diesen kulturellen Reichtum der Türkei, dem Publikum vor. ((Die vielen Farben der Türkei, FAZ, 05.06.2008, von Rainer Hermann))

Zu diesen Gemeinschaften gehörten die ethnischen Gruppen, wie TürkInnen, KurdInnen, ArmenierInnen, AraberInnen, PomakInnen, LasInnen, AramäerInnen, AssyrerInnen, Hemschin-ArmenierInnen, AlevitInnen, GeorgierInnen, PontierInnen, TscherkessInnen, TschetschenInnen, BosnierInnen, AlbanerInnen, MazedonierInnen, JüdInnen, GriechInnen, NasturierInnen, ChaldäerInnen, Roma, EzidInnen, Christliche AraberInnen sowie alle aus dem Türkischen stammenden Identitäten wie die YörükInnen, TurkmenInnen, Tahtaci, TatarInnen, KirgisInnen, KarapapakInnen, Aseri, UsbekInnen, Kasachen, MuhacirInnen, GagausInnen und Zeybek. Diese multikulturellen Identitäten sollten nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung betrachtet werden. In diesem Sinne, nachdem sie nun aufgezählt sind, verdient diese Vielfalt die Feststellung, dass »die Türkei nicht den Türken, sondern sämtlichen dort lebenden Gruppen gehört«. Das Wichtigste ist, dass dafür eine Versöhnung der Kulturen entwickelt werden muss. Das schließt auch ein, dass ein Bewusstsein dafür geweckt werden sollte, sich intensiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Erdoğan betonte in seine Rede von 17.02.2008 auch, dass das Türkische in den deutschen Schulen als Muttersprache zur Auswahl stehen sollte, damit türkische Kinder im Vergleich zu den anderen SchülerInnen, die Schullaufbahn nicht mit einem Nachteil von 1 zu 0 beginnen müssen.“ ((“Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, 17.05.2010, http://www.sueddeutsche.de/))  Erdoğan erwähnte aber mit keinem Wort die Assimilationspolitik in der Türkei. Im Schatten der türkischen Sprache existieren laut Atilla Durak 26 Sprachen in der Türkei. ((Die vielen Farben der Türkei, FAZ, 05.06.2008, von Rainer Hermann))

Systematische Verleugnung der kurdischen Bevölkerung

Am Beispiel der kurdischen Sprache kann man auch die Ausrichtung der Politik der türkischen Regierungen erkennen. Die im Jahr 1923 gegründete türkische Republik begann eine Politik durchzusetzen, auf deren Grundlage mit der Zeit kurdische Schulen, Institutionen, Publikationen sowie die Wörter „Kurden“ und „Kurdistan“ innerhalb der Grenzen der neuen Republik verboten wurden. Die Reaktionen der KurdInnen auf diesen aggressiven Kurs wurden 1925 bis 1938 blutig und grausam niedergeschlagen. ((Der Scheich-Said-Aufstand von 1925 wurde mit aller militärischen Härte niedergeschlagen (Olson, Robert: The Kurdish Rebellions of Sheikh Said))  Während und nach diesen militärischen Maßnahmen – Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wurden mehr als 1 Million KurdInnen zwangsumgesiedelt; das wurde sogar gesetzlich legitimiert. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die offizielle Politik der türkischen Republik gegen die KurdInnen in den 1930er Jahren darauf abzielte, die kurdische Bevölkerung samt ihrer Kultur und Sprache zu assimilieren oder zu vernichten.

Trotz dieser sehr offensiven Vorgehensweise scheiterte der türkische Staat daran, die kurdische Identität in der Türkei unter Anwendung von Gewalt in kurzer Zeit zu assimilieren. Dass die oben beschriebenen Bevölkerungsgruppen eine nicht türkische Identität und eine nicht türkische Sprache als Muttersprache hatten, stellte für die politische Elite des Landes ein Dilemma dar. Dieses Dilemma zog eine Politik nach sich, mit deren Hilfe die Existenz der KurdInnen samt ihrem Land und ihrer Sprache geleugnet wurde. Diese Politik sah vor, alle offenkundigen Zeichen der Existenz der kurdischen Identität, in allen Bereichen, in denen der Staat eingreifen kann, zu unterdrücken und wenn möglich gänzlich abzuschaffen. ((Siehe Haig 2004: S. 130, op.cit.))

In der Tat wurde sehr sorgfältig daran gearbeitet, die kurdische Sprache zu verbieten, ohne sie namentlich zu erwähnen. Ein Gesetz aus dem Jahr 1983 demonstriert diese Haltung am Deutlichsten: In Artikel 2 des Gesetzes Nr. 2932 ((Gesetz Nr. 2932 vom 19. Oktober 1983 über Veröffentlichungen in anderen Sprachen als dem Türkischen, Resmi Gazete (Amtsblatt) Nr. 18199 vom 22. Oktober 1983.))  hieß es dazu: „Die Darlegung, Verbreitung und Veröffentlichung von Gedankengut in einer anderen Sprache als der ersten Amtssprache der von der Türkei anerkannten Staaten ist verboten.“ Durch diese Formulierung war das Kurdische, das nirgends in der Welt erste Amtssprache eines Staates war, verboten, ohne namentlich erwähnt zu werden. Der Gipfel dieser Politik wurde im Jahr 1983 erreicht: Türkisch wurde gesetzlich als Muttersprache aller türkischen Staatsbürger festgelegt. ((Artikel 3 desselben Gesetzes (Nr. 2932) lautet: „Die Muttersprache der türkischen Staatsbürger ist Türkisch. […] Jegliche Art von Aktivitäten hinsichtlich der Benutzung und der Verbreitung einer anderen Muttersprache als Türkisch ist verboten.))

Wenn Erdoğan also sagt, dass Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist – und wir bezweifeln diese Aussage nicht – dann ist Erdoğan also genau für derartige Verbrechen verantwortlich. Als „historischen Schritt“ kündigte der Ministerpräsident am 12. Juni 2012 in Ankara an, dass man kurdischen Kindern die Möglichkeit geben möchte, mehrere Stunden pro Woche in staatlichen Schulen die kurdische Sprache als Wahlfach zu lernen.

Die damalige Co-Vorsitzende der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) Gültan Kışanak sagte dazu: „Wahlfächer können nur im Rahmen von Fremdsprachenunterricht erteilt werden. Einem Menschen seine Muttersprache als Fremdsprache beibringen zu wollen, ist reine Despotie. (…) Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wird heute durch die Hand der AKP durchgeführt.” ((Wir werden ein unwürdiges Leben nicht Akzeptieren, 13.06.2012, Özgür Gündem, Gültan Kışınak))   Kurdisch als Wahlfach zu diskutieren kommt also der Fortsetzung der Assimilationspolitik mit neuen Mitteln gleich. Hinzu kommt, dass es sehr dreist ist, den Menschen zunächst ihre angeborenen Rechte zu verweigern, um es dann als gütige Geste darzustellen, wenn man diese Rechte dann in Scheibchenform Stück für Stück zurückgibt. Wer gibt wem wessen Rechte? Gibt es jemanden, der das versteht und/oder moralisch richtig findet?

Erinnern wir uns noch einmal zurück: Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen sowie der Menschenrechtsverein für Demokratie und Internationales Recht (MAF-DAD) hatten am 01. November 2011 im Haus der Demokratie in Berlin im Rahmen einer Pressekonferenz erklärt, dass sie eine Strafanzeige gegen R.T Erdoğan und neun weitere Vertreter aus Politik und Militär gemäß deutschem Völkerstrafgesetzbuch erstattet haben.

Die Vorwürfe in der Anzeige, die bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe eingereicht wurde, wiegen schwer: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Diese sollen seit 2003 von türkischen Sicherheitskräften und der Armee an der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und im Nordirak begangen worden sein. ((Kriegsverbrechen in der Türkei, Medieninformation 02. 11. 2011 – Strafanzeige gegen Ministerpräsident Erdogan und die Generalstabschefs der Türkei))

Erinnern wir uns auch an Folgendes noch einmal zurück: In Bochum wollte Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder Erdoğan einen Preis überreichen: den “Steiger-Award” mit Erdoğan für “Toleranz”, „Menschlichkeit“ und “Offenheit” gewürdigt werden sollte. „Erdoğan bemühe sich seit Jahren um einen demokratischen Wandel in seinem Land”, so die Veranstalter. Auch betonten sie, dass die Türkei längst ein wichtiger Partner Deutschlands und Europas geworden sei. “Für diese Bemühungen, aber auch als deutliches Zeichen für gelebte deutsch-türkische Freundschaft” wollte man Erdoğan den Preis in der Kategorie Europa verleihen.

Es sorgte zu Recht für große Empörung, dass gerade ein Politiker, der für seine kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, einen Preis für Toleranz und Menschlichkeit erhalten sollte. Die Proteste der AlevitInnen, KurdInnen, ArmenierInnen, AssyrerInnen und türkischstämmigen Menschen, bewogen Erdoğan letztlich zur Absage. ((Pressemitteilung der Kampagne „Demokratie hinter Gittern“ zur Verleihung des Steiger Awards 2012 an den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, 12.03.2012))  Wenn wir von Doppelmoral aus dem Ausland sprechen, meinen wir genau solche Herangehensweisen, die anstelle politischen Drucks – der ja seitens der Bundesregierung und der EU entfaltet werden müsste, damit die türkische Regierung zur Einhaltung der Menschenrechte bewegt wird – eine völlig irreführende demokratische Auszeichnung vorsehen.

Friedensprozess mit KurdInnen und nötige Schritte

Der momentan ins Stocken geratene „Friedensprozess“ zwischen der türkischen Regierung und der PKK wurde nach Verlautbarungen der PKK in drei Etappen unterteilt:

•    Waffenstillstand und Rückzug der Guerillas
•    Demokratisierung sowie Verfassungs- und Gesetzesreformen
•    Normalisierung und Niederlegung der Waffen.

Doch hinsichtlich des Verlaufs, der Inhalte und Ziele dieser Etappen hat die AKP-Regierung offenbar komplett andere und/oder bisher nicht geäußerte und vereinbarte Vorstellungen – was vermutlich der Grund dafür ist, dass der Prozess ins Stocken geriet. Es ist bis Heute nicht klar, ob und welche Schritte der türkische Staat im Gegenzug unternehmen will.

Die kurdische Seite forderte die AKP-Regierung mehrmals dazu auf, die vereinbarten notwendigen Schritte in der zweiten Stufe des Lösungsprozesses umzusetzen. ((Der Weg zur Lösung; Civaka Azad Infoblätter, Ausgabe 5 / August 2013))

Die Forderungen an die Regierung lauten unter anderem:

  • Alle politischen Gefangenen, allen voran die kranken Gefangen, müssen aus der Haft entlassen werden.
  • Die Isolationsbedingungen gegen Abdullah Öcalan müssen beendet sowie seine Möglichkeit zur Kommunikation mit der Außenwelt geschaffen werden.
  • Die 10% Wahlhürde muss gesenkt und eine Demokratisierung der Wahl- und Parteigesetze eingeleitet werden.
  • Statt eines wie bisher strikt zentralistisch ausgerichteten Staatsaufbaus müssen die kommunalen Selbstverwaltungsstrukturen innerhalb des türkischen Staates ausgeweitet und gestärkt werden.
  • Der Bau von neuen Militärstationen, Staudämmen und Wasserkraftwerken muss gestoppt werden.
  • Die Pressefreiheit muss garantiert und alle inhaftierten Journalisten müssen umgehend aus der Haft entlassen werden.
  • Muttersprachlicher Unterricht an Schulen muss ermöglicht und alle rechtlichen Hindernisse für die Nutzung der jeweiligen Muttersprache müssen abgeschafft werden.
  • Es müssen Bedingungen geschaffen werden, damit die mehr als vier Millionen kurdischen Binnenflüchtlinge zurück in ihre Heimat können.
  • Das Dorfschützersystem muss abgeschafft werden.
  • Die militärische Mobilisierung muss beendet, Soldaten, Polizisten, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge müssen aus den Militärstationen abgezogen werden.
  • Die Anti-Terrorgesetze (TMK) sowie alle anti-demokratischen Gesetze aus dem türkischen Strafgesetzbuch (TCK) müssen abgeschafft werden.
  • Die Weiterführung der „Staatssicherheitsgerichte“ (DGM) durch die Einberufung von Gerichten mit Sonderbefugnissen muss beendet werden.
  • Der Naturzerstörung, insbesondere in Folge von Staudamm- und Wasserkraftwerkprojekten, in den kurdischen und anderen Landesteilen der Türkei muss Einhalt geboten werden; die ökologische Zerstörung muss gestoppt werden.

Mit diesen und weiteren Schritten soll die Ausarbeitung einer neuen demokratischen Verfassung für die Türkei einhergehen. In dieser Verfassung sollen die Identitäten aller Gruppen in der Türkei anerkannt werden. Neben der Anerkennung der Identität soll die Organisationsfreiheit aller Gruppen garantiert werden.

Konfrontation mit der Vergangenheit auf dem Weg in eine friedliche Zukunft

Eigentlich stehen die Türkei und die AKP-Regierung vor vielen Aufgaben. Eine vollständige und gerechte Aufarbeitung der Vergangenheit ist für den gesellschaftlichen Ausgleich und das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Und wie zuvor im Rahmen anderer Friedensprozesse, wie z.B. der Konflikttransformation in Südafrika, ist die Einrichtung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission von großer Bedeutung.

 

  • Diese Kommission soll und kann die Aufarbeitung und Verfolgung der erlebten Verbrechen befördern, die sogenannten »Morde unbekannter Täter«, die Massengräber, die »Verschwundenen« und die grausamen Folterpraktiken aufklären. Denn während den jahrzehntelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der Guerilla der PKK wurden mehr als 17.000 Morde von sogenannten unbekannten Tätern begangen. Seit den neunziger Jahren wurden überwiegend in kurdischen Städten PolitikerInnen, JournalistInnen, BäuerInnen und politische AktivistInnen von staatlichen Todesschwadronen verschleppt, extralegal hingerichtet und viele in Massengräbern verscharrt.
  • Sie muss sich mit den seit 1989 an 253 verschiedenen Orten entdeckten 3.248 Massengräbern befassen, sie öffnen und die Identität der Opfer feststellen. Sie muss sich den Forderungen der Angehörigen tausender durch staatliche Sicherheitskräfte Festgenommener und danach verschwundener Menschen stellen, die ungeklärten Morde aufklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Die „Samstagsmütter‘‘ (Cumartesi Anneleri), Angehörige der Verschwundenen, treffen sich seit Mai 1995 – mit einer kurzen Unterbrechung nach 1999 – jeden Samstag in mehreren Städten, um nach dem Verbleib ihrer Kinder und Angehörigen zu fragen.
  • Wir können festhalten: Damit die Türkei zu ihrer inneren Ruhe kommen und Frieden leben kann, muss sie zunächst das Vertrauen aller Bevölkerungsgruppen innerhalb ihrer Grenzen zurück gewinnen. Um ihre „falsche“ Politik überwinden zu können, muss sie sich auch selbst vertrauen können. Erst danach kann eine geduldige, demokratische, friedliche, freiheitliche, der Wahrheit ins Gesicht schauende und ihre Vielfältigkeit in Reichtum verwandelnde Türkei entstehen.
  • Dafür müssen jedoch sowohl Staat und Regierung als auch die Gesellschaft in Bezug auf die genannten Punkte der Wahrheit ins Gesicht sehen und sich gegebenenfalls für begangene Fehler entschuldigen.
  • Die Türkei muss dazu in der Lage sein, die aus ihrer Genozidpolitik resultierenden Massaker an ArmenierInnen, AssyrerInnen, AlevitInnen, KurdInnen und Pontus-GriechInnen aufzuarbeiten.
  • Sie muss allen durch ihre Verleugnungs- und Assimilationspolitik vom Aussterben bedrohten ethnischen Gruppen ihre Identität gewähren und mit ihnen das Geschehene verarbeiten.
  • Bei den 3,5 bis 4,5 Millionen kurdischen Menschen, die in den letzten dreißig Jahren im Rahmen des Krieges aus über 3.500 Dörfern vertrieben wurden, muss die Regierung sich entschuldigen und mit ihnen gemeinsam das Geschehene aufarbeiten.
  • Sie muss sich mit hunderttausenden Menschen auseinandersetzen, die im Rahmen des Militärputsches vom 12. September 1980 festgenommen und gefoltert wurden, weil sie vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hatten.
  • Sie muss sich mit dem Massaker von Dersim (Tunceli) im Jahre 1938 befassen, dem Zehntausende zum Opfer fielen, und sie muss sich bei den kurdischen Aleviten dafür entschuldigen.
  • Weiterhin muss sie das Massaker in Gurgum (Kahramanmaras), bei dem hunderte kurdische Aleviten ermordet wurden, das Massaker in Çorum und Sêwas (Sivas), wo zig Aleviten und Linke massakriert wurden, und viele weitere Massaker aufklären und aufarbeiten.

Die jüngsten Ereignisse wie z.B. das Massaker in Roboski am 28. Dezember 2011, bei dem 34 Menschen, die vom Grenzhandel in der Region lebten, durch die türkische Luftwaffe ermordet wurden oder die Tötung der jungen Protestierenden im Rahmen der Gezi-Proteste, die 300 Arbeiter die beim Grubenunglück von Soma ums Leben kamen, sind uns allen noch gewärtig.

Um diese Beispiele und noch zig andere ungenannte aufzuklären und aufzuarbeiten, braucht es Mut, Ernsthaftigkeit und Durchhaltevermögen.

Deshalb sollte die Türkei der Wahrheit ins Gesicht sehen. Damit die erwähnten und von Attila Durak fotografisch dokumentierten ethnischen Identitäten nicht irgendwann verschwinden und in Zukunft nur noch auf nostalgischen Fotos existieren, ist eine solche Vorgehensweise nötig. Die Frage, die die kurdische Freiheitsbewegung in den letzten dreißig Jahren der türkischen Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hat, lautet: „Wie ist ein Zusammenleben möglich?“ Eines ist allen klar – nichts wird mehr so sein wie früher. Aber wie wird es sein? Die Antwort darauf wird die Türkei finden, indem sie ihre ganze Vielfalt und alle gesellschaftlichen Gruppen in die Diskussion einbindet. Das ist für ein Land wie die Türkei mit ihrer Geschichte zwar nicht einfach, jedoch unumgänglich …

Ob Erdoğan am 24. Mai in Köln darauf eingehen oder stattdessen weiterhin sein politisches Kalkül propagandistisch umzusetzen versuchen wird, werden wir dann alle gemeinsam sehen.