Erdoğan und der IS: Eine Bruderschaft unter den Augen der internationalen Mächte

Am Abend des 20. Januar griffen mehr als 200 IS-Kämpfer mit Autobomben und schweren Waffen das Sina’a-Gefängnis in Hasakah an, in dem sich rund 4000 inhaftierte IS-Mitglieder und 700 Minderjährige aus insgesamt 54 Ländern befanden. Gleichzeitig probten die Insassen im Gefängnis einen Aufstand. Die meisten Gefängniswärter und Bedienstete wurden getötet, und eine unbekannte Zahl von IS-Gefangenen entkam in die umliegenden Viertel. Ein großes Waffen- und Munitionslager wurde in das Gefängnis gebracht, doch das schnelle Eingreifen der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) verhinderte, dass die Gefangenen an diesen Waffenvorrat herankamen. Nach anderthalb Wochen heftiger Kämpfe gelang es den Einheiten der SDF mit Unterstützung der US-geführten Koalition, die Kontrolle über das Gefängnis und die Umgebung wiederzuerlangen. Nach der Operation gaben die SDF an, dass 77 Wärter und andere Mitarbeiter, 40 SDF-Kämpfer und 4 Zivilisten ihr Leben verloren haben und 374 IS-Kämpfer getötet worden sind.

Zum Zeitpunkt des Angriffs in Hasaka wurden wir Zeugen intensiver Angriffe auf die 20 km entfernte Region Tel Temir, die aus den von der Türkei besetzten Gebieten Sere Kaniye (Ras-al-Ain) und Gire Sipi (Tell Abyad) ausgingen. Wir konnten auch beobachten, wie das syrische Regime aus dem Süden von Al Tabqah und Raqqa vorrückte und versuchte, einige Gebiete einzunehmen, die unter der Kontrolle der SDF stehen. Wir haben gesehen, dass die Gebiete Tel Rifat und Sehba, die angeblich unter russischem Schutz stehen und von Kurden bewohnt werden, die aus Afrin geflohen sind, vom türkischen Staat und seinen Söldnern schwer bombardiert wurden. Und wir erinnern uns, dass am 21. und 22. Dezember bei den 17. Astana-Gesprächen [Gespräche zwischen Russland, Iran und der Türkei über die Zukunft Syriens] als wichtigster Punkt vereinbart wurde, dass die Region unter der Kontrolle der SDF von den Teilnehmerstaaten als illegitim betrachtet wird. IS-Mitglieder, die bei dem Angriff in Hasakah gefangen genommen wurden, gaben zu, dass einige der Kämpfer aus dem Irak stammten, die meisten jedoch aus den türkisch besetzten Gebieten Sere Kaniye und Gire Spi, und dass der Angriff von dort aus geplant wurde.

All dies zusammengenommen zeigt, dass es sich beim Angriff in Hasakah um keinen gewöhnlichen Angriff handelt, sondern dass dieser umfassend geplant, koordiniert und umgesetzt worden war. Es ist nicht schwer zu erraten, was passiert wäre, wenn es den Tausenden von IS-Gefangenen gelungen wäre, die Waffen in die Hand zu bekommen und in die Stadt zu gelangen. Beschlagnahmte Dokumente und Geständnisse zeigen, dass es Pläne gab, eine Übernahme von Hasakah mit Angriffen auf andere Gebiete zu verbinden. Mit Angriffen und Massakern wollte der wieder an die Spitze der Weltagenda gelangen, wie schon bei der Einnahme von Mosul im Jahr 2014.

Zusammen mit den türkischen Angriffen aus dem Norden und dem Angriff des syrischen Regimes aus dem Süden hätte dies das Ende des autonomen Status von Nordostsyrien bedeutet, was einer Umsetzung der Pläne von Astana gleich käme. Doch die SDF-Kämpfer, die den Geist des Widerstands von Kobanê lebendig halten, konnten die Gefahr abwenden.

Keine Reaktion des Westens auf IS-Angriff trotz drohender Gefahr

Die großen internationalen Medien berichteten zwar über diese Ereignisse, allerdings nur bruchstückhaft und mit geringem Interesse an der Perspektive der SDF. Auf der Tagesordnung der globalen Mächte und internationaler Institutionen stand dieser Angriff hingegen kaum.

Abgesehen von einer Erklärung des US-Außenministeriums gab es weder von anderen internationalen Akteuren noch von den internationalen Institutionen eine Stellungnahme – nicht einmal von Josep Borrell, dem EU-Außenbeauftragten, und das trotz der Bedrohung, die der IS für Europa darstellt. Zu den Ländern, in denen IS-Bombenanschläge verübt wurden, gehören Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien und England. Bei diesen Anschlägen kamen Hunderte von Menschen ums Leben, doch die internationalen Vertreter hielten es nicht für nötig, ein Wort über den Anschlag in Hasakah zu verlieren, bei dem insgesamt 495 Menschen ums Leben kamen und der der Auslöser für weitere IS-Anschläge überall hätte sein können.

Seit der Befreiung der letzten Gebiete, die vom IS kontrolliert worden waren,  vor fast drei Jahren fordert die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens [AANES] die internationalen Mächte auf, eine Lösung für die in den Gefängnissen und Lagern der Region inhaftierten IS-Mitglieder und ihre Familien zu finden. Sie fordern, dass die ausländischen Staatsangehörigen und ihre Familien in ihre Heimatländer zurückgeführt und dort vor Gericht gestellt werden, doch die Reaktion darauf ist begrenzt und uneinheitlich und konzentriert sich oft nur auf die Kinder.

Auch die Forderung nach der Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs in Nordostsyrien bleibt unbeantwortet. Obwohl die EU 6 Milliarden Euro für Geflüchtete in der Türkei zur Verfügung gestellt hat, wurde die Last der IS-Mitglieder und ihrer Familien in Nordostsyrien der autonomen Verwaltung aufgebürdet, die nur minimale Hilfe erhält.

Das Hasakah-Gefängnis ist ursprünglich als Schulgebäude konzipiert worden. Es ist nicht geeignet, um darin Tausende von gefährlichen Kämpfern unterzubringen. Das al-Hol Camp, in dem fast 60.000 Familienangehörige der IS-Kämpfer untergebracht sind, gilt als das gefährlichste Geflüchtetencamp der Welt. Jede Woche wird von Morden berichtet, insbesondere von Hinrichtungen von Menschen, die versuchen, mit der Ideologie des IS zu brechen. Die ganze Welt stellt sich blind und taub gegenüber der Tatsache, dass hier Kinder zu Selbstmordattentätern erzogen werden. Wenn keine internationale Lösung für die in Nordostsyrien festgehaltenen Kämpfer und ihre Familien gefunden wird, wird diese Situation wie eine Zeitbombe explodieren. Wenn das passiert, wird das schlimme Folgen für die Region und für die ganze Welt haben.

Nach der Niederlage von IS startet die Türkei einen Angriff

Am 1. Februar, während die meisten der 121 Menschen, die bei der Niederschlagung des IS-Angriffs noch nicht einmal beigesetzt worden sind, bombardierten türkische Kampfflugzeuge die Region Derik in Nordostsyrien sowie die Gebiete Sinjar und Makhmur im Irak, als ob sie sich für die Niederlage von IS rächen wollten. Bei diesen Bombardierungen kamen in Derik vier, in Sindschar drei und in Makhmur zwei Menschen ums Leben, während viele weitere verletzt wurden.

Die mittlerweile dreizehntausendköpfige Gemeinschaft, die im Camp Makhmur lebt, kam nach Südkurdistan – nicht nach Europa -, um der Zerstörung ihrer Dörfer in der Türkei in den 1990er Jahren zu entkommen. Im Jahr 2014 griff die IS auch hier an. Alle Zivilisten im Lager wurden evakuiert, und das Camp wurde nach intensiven Kämpfen vom IS zurückerobert. Masoud Barzani, der damalige Präsident der irakischen Region Kurdistan, besuchte Makhmur und gratulierte den Menschen für ihren Widerstand.

Als der IS 2014 in Sindschar angriff und einen Völkermord an den Ezîden verübte, wurde ein noch größerer Völkermord durch Kämpfer der HPG [Volksverteidigungskräfte], des bewaffneten Flügels der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), und der syrisch-kurdischen YPG [Volksverteidigungseinheiten] und YPJ [Frauenverteidigungseinheiten] verhindert, die einen Korridor von Rojava aus öffneten und rund 300.000 Menschen evakuierten. Bevor sie das Gebiet verließen, eroberten dieselben Gruppen Sinjar vom IS zurück und halfen der Bevölkerung, ihre eigenen Selbstverteidigungskräfte zu bilden.

Sowohl in Makhmur als auch in Sindschar sind diese Selbstverteidigungskräfte, die die Bevölkerung vor den Angriffen der IS schützen, häufig Luftangriffen der Türkei ausgesetzt. Die Angriffe der Türkei mit NATO-Waffen wurden von den internationalen Mächten stillschweigend übergangen und fanden in den internationalen Medien kaum Erwähnung. Der Luftraum des gesamten Iraks und Nordostsyriens steht unter amerikanischer Kontrolle.

IS-Anführer in Gebiet unter türkischem Schutz getötet

Am 3. Februar gab US-Präsident Biden bekannt, dass der IS-Führer Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraischi bei einem US-Angriff in der Stadt Atmah nahe der türkischen Grenze getötet worden sei. Er sagte, der ermordete IS-Führer habe den jüngsten Anschlag auf das Gefängnis von Hasakah geplant und sei auch aktiv an dem Völkermord im Sindschar-Gebiet im Jahr 2014 beteiligt gewesen. Im Oktober 2019 wurde al-Quraischis Vorgänger, Abu Bakr al-Baghdadi, ebenfalls in einem Gebiet nahe der türkischen Grenze getötet. In beiden Fällen handelt es sich um die Region Idlib, die in Zusammenarbeit mit Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und anderen militanten Dschihadistengruppen faktisch unter der Besatzung und dem Schutz der Türkei steht.

Idlib ist verwaltungstechnisch, militärisch, politisch und wirtschaftlich von der Türkei abhängig. Die türkische Lira wird als Währung verwendet, in den Schulen wird türkischer Unterricht erteilt, und die türkische Armee bietet Schutz gegen Russland und das syrische Regime. Wir können uns leicht vorstellen, dass beide IS-Anführer unter dem Schutz der Türkei standen. Die USA führten beide Operationen durch, ohne die Türkei zu informieren. Stattdessen gab die USA bekannt, dass die SDF an der Ermordung von al-Baghdadi beteiligt waren, während sie den Kräften der SDF nach der Ermordung von al-Quraischi allgemein dankten. Russland wurde über die Operation informiert, um etwaige Missverständnisse vorzubeugen.

Die kurdische Bewegung hat immer wieder behauptet, dass der IS von der Türkei unterstützt und teilweise gesteuert wurde. An Beweisen und Beispielen für ihre Zusammenarbeit herrscht kein Mangel. Während der IS versuchte, nach Damaskus vorzustoßen, gaben gefangen genommene hochrangige IS-Mitglieder zu, dass sie von Erdoğan selbst zum Angriff auf Kobanê angewiesen wurden. Das russische Verteidigungsministerium machte die Beziehungen zwischen der Türkei und dem IS öffentlich, nachdem eines ihrer Kampfjets 2016 von der Türkei abgeschossen worden war.

IS-Bombenanschläge in der Türkei hatten Erdoğan geholfen, an die Macht zu kommen

Nachdem Erdogan bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 seine Mehrheit verloren hatte, verhalfen ihm die Bombenanschläge des IS gegen die Kurden und die demokratischen linken Kräfte in der Türkei dabei, bei der Wiederholung der Wahlen im November wieder an die Macht zu kommen.

Es ist allgemein bekannt, dass Menschen aus der ganzen Welt, die nach Syrien gingen, um sich dem IS anzuschließen, die Türkei ohne Schwierigkeiten passieren konnten. IS-Mitglieder, die in der Türkei gefasst und vor Gericht gestellt wurden, wurden entweder sofort freigelassen oder zu sehr kurzen Haftstrafen verurteilt.

Der kürzlich ermordete IS-Anführer al-Quraischi war Turkmene. Sein Bruder ist der Vertreter der Irakisch-Turkmenischen Front in der Türkei. Es wird allgemein behauptet, dass Erdoğan nach der Ermordung von al-Baghdadi selbst dafür gesorgt hat, dass ein Turkmene als sein Nachfolger gewählt wurde.

Die von der Türkei besetzten Gebiete in Nordsyrien und das türkische Territorium selbst bieten militanten Dschihadisten Unterschlupf und geben ihnen die größte Freiheit, sich zu organisieren.

Die USA und die EU wissen sehr wohl um die Beziehung zwischen der Türkei und des IS, aber sie ziehen es vor, zu diesem Thema zu schweigen, da die Türkei als NATO-Mitglied eine wichtige Rolle in ihren geopolitischen Plänen spielt.

Selbst wenn wir einen Blick auf die Ukraine und die aktuelle Krise zwischen den USA und Russland werfen, stellen wir fest, dass Erdoğan an der Seite der Ukraine steht, was die Akzeptanz der Türkei bei den USA als wertvolles NATO-Mitglied stärkt.

Das selektive Schweigen und Handeln der westlichen Mächte hat fatale Folgen. Als die Türkei 2018 mit Zustimmung Russlands in Afrin einmarschierte, erklärten die USA, dass diese Region unter russischer Kontrolle stehe. Auch die Besetzung von Gire Spi und Sere Kaniye durch die Türkei im Jahr 2019 war nur dank des militärischen Rückzugs der USA möglich. Wie kann die westliche Welt angeführt von der EU und den USA schweigen, während die Türkei, ein Mitglied der NATO und des Europarats, Hand in Hand mit dem IS arbeitet? Die Tatsache, dass die Türkei eine solche Politik betreiben kann und immer noch als wertvoller Verbündeter des Westens angesehen wird, offenbart die Tiefe der westlichen Heuchelei. Sie zeigt in brutaler Klarheit, wie eigene Werte um der Interessen willen mit Füßen getreten werden.

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Der Autor Fayik Yağızay ist der Vertreter der Demokratischen Partei der Völker (HDP) beim Europarat in Straßburg.

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