Fast ein Jahr nach Şengal geht der Genozid weiter – diesmal sehr still.
von Rosa Burc, Politikwissenschaftlerin, 02.07.2015
Vierundsiebzig. Schon lange mehr als nur eine Zahl für das êzîdische Volk. Vierundsiebzig Mal verraten, vertrieben, zwangsislamisiert, entführt, enteignet, vergewaltigt und massakriert. Vierundsiebzig Mal der gleiche Schmerz eines stillen Genozids. So still, dass die Weltöffentlichkeit erst mit dem Einfallen des IS in Şengal (Sindschar) letzten Sommer von der Existenz des êzîdischen Volkes erfuhr.
Die Bilder der Frauen, Männer und Kinder, die Barfuß in der glühenden Sommerhitze wochenlang zur türkischen Grenze marschierten, um sich so gut wie möglich in Sicherheit zu bringen, sorgten für einen Moment der internationalen Empörung und des Mitgefühls. Die Bilder waren zu ausdrucksstark, um sie zu ignorieren. Sie boten die beste Voraussetzung für dramaturgische Berichterstattungen: eine halbe Million Menschen einer Volksgruppe auf der Flucht vor den barbarischen IS-Banden. Nichts außer den Geschichten von Tod, Verrat und Vertreibung im Gepäck. Doch die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Êzîden war nicht von langer Dauer. Bereits nach einigen Wochen war das schlechte Gewissen der internationalen Gemeinschaft beruhigt. Die Êzîden waren nun alle entweder in den Flüchtlingslagern in kurdischen Städten untergebracht oder kämpften im Şengal-Gebirge an erster Front. Die Gefahr eines Genozids schien vorüber und die Arbeit getan. Man konnte sich wieder anderen Themen widmen.
Heute, fast ein Jahr nach Şengal, sind es wieder die Êzîden, die sich auf den Weg gemacht haben. In Bussen sind sie hundertfach an die türkisch-bulgarische Grenze gefahren. In den Flüchtlingslagern – so das Gerücht – seien sie nicht mehr in Sicherheit und die EU würde alle aufnehmen, die es bis zur Grenze schafften. Auf Hörensagen und mit Hoffnung auf Sicherheit in Europa waren sie 25 Stunden unterwegs. Manche wurden auf halber Strecke aufgehalten und zurück geschickt, andere schafften es zwar bis nach Edirne, aber nicht über die Grenze. Nun warten sie an Istanbuler Busbahnhöfen und Straßenrändern auf eine Lösung oder werden von Schlepperbanden aufgesucht. Eine typische Flüchtlingstragödie, so wie sie sich an allen EU Außengrenzen abspielt –, könnte man meinen! Vielmehr wirkt das alles wie die Fortführung der sich mittlerweile vierundsiebzig Mal wiederholenden Vertreibungs- und Vernichtungspolitik gegen das êzîdische Volk.
Die historischen Siedlungsgebiete der Êzîden befinden rund um die Regionen des heutigen Iraks, Syriens und Ost/Südost Anatoliens. Im „millet“-System des Osmanischen Reiches hatte das êzîdîsche Volk keinen eigenen Status als distinkte Glaubensrichtung und wurde schnell zur Zielscheibe starker Repressionen und Diskriminierungen. Denn in den Augen des sunnitisch-muslimischen Staates, sowie der Mehrheitsgesellschaft, waren die Êzîden nichts weiter als Ungläubige. Die ersten Zwangsumsiedlungen begannen im Zuge des Krimkrieges (1853–1856) und wurden dann während des Krieges zwischen den Osmanen und Russen (1877–1878) fortgeführt. Das êzîdîsche Volk wurde in dieser Zeit nach Armenien und Georgien deportiert. Die größte Zwangsumsiedlung fand jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt, als die Êzîden, wie andere nicht-sunnitische Volksgruppen, Opfer der Osmanischen Armee und der Hamidiye-Banden wurden. Wieder wurden sie entweder zwangsdeportiert oder umgebracht. Besonders stark traf es die êzîdîsche Bevölkerung in Van, Doğubeyazıt und Kars. Manche der Überlebenden wurden zwangsassimiliert, andere flohen nach Armenien und führten ihr êzîdisches Leben auf der anderen Seite des Ararat-Bergs weiter.
Einige wenige wiederum blieben. Sie führten ein unauffälliges Leben in ihrer eigenen Heimat, waren jedoch starker Diskriminierung ausgesetzt. Als sich die gesamtpolitische Situation in der Türkei in den 1980iger Jahren verschärfte, waren auch die Êzîden davon betroffen. Das türkische Militär hatte grade geputscht und die Auswirkungen der Sicherheitsparanoia waren überall im Land angekommen. In dieser Zeit solidarisierten sich die Êzîden stark mit der kurdischen Freiheitsbewegung und lehnten es ab als Dorfschützer des türkischen Staates rekrutiert zu werden. Nicht nur ihre Identität als êzîdische Kurden, sondern auch ihre politische Positionierung machte aus ihnen einen weiteren, wenn auch nicht allzu neuen, Staatsfeind. Die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zeigte sich anhand repressiver Eingriffe in die Bürgerrechte der in der Türkei lebenden Êzîden. So wurde beispielsweise die Spalte der Religionszugehörigkeit im Personalausweis mit einem X versehen. Somit war die Brandmarkung des êzîdîschen Volkes als „Gottlose und Ungläubige“ durch staatliche Hand materialisiert, und die Diskriminierung innerhalb der Gesellschaft erreichte einen neuen Hochpunkt. Starke Flüchtlingsströme führten dazu, dass ganze êzîdîsche Siedlungsgebiete innerhalb der türkischen Grenzen nun fast entvölkert waren. Die Êzîden waren nicht mehr Einheimische ihrer Dörfer, sondern Flüchtlinge Europas. Für die Türkei war somit das „êzîdîsche Problem“ gelöst. Für die Êzîden jedoch war die geografische Zerstreuung vor allem ein weiterer Identitätsverlust.
Während die Auswirkungen der 1980iger Jahre gesellschaftlich noch gar nicht aufgearbeitet werden konnten, befindet sich das êzîdîsche Volk wieder in einer existentiellen Notlage. Fast ein ganzes Jahr leben die Êzîden aus Şengal nun in den Flüchtlingslagern innerhalb der türkischen Grenzen. Es handelt sich jedoch hierbei nicht um die Lager der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD, womit sich die Türkei sei Beginn der Flüchtlingskrise rühmt, sondern um Unterkunftslösungen, die von Freiwilligen vor Ort organisiert und finanziert werden. Kurdische Städte, wie unter anderem Amed (türk. Diyarbakır), Midyad (türk. Midyat) und Wêranşar (türk. Viranşehir), haben aus eigenen Mitteln Zeltstädte für die Flüchtlinge aus Şengal aufgebaut. Finanziell, logistisch oder humanitär kommt keine Hilfe aus Ankara. Der türkische Staat hat den Êzîden bisher noch nicht einmal den Status als Flüchtlinge zugesprochen. Somit stehen ihnen auch keinerlei staatliche Leistungen zu. Keine medizinische Versorgung für Kranke und Hilfsbedürftige, kein Unterricht für Kinder im Schulalter – vom Mangel an psychologischer Betreuung für traumatisierte Menschen mal ganz zu schweigen. Seit mehr als 10 Monaten leben sie in nummerierten Zelten, die mit Ziegelsteinen festgehalten werden. Gekocht wird gemeinschaftlich, aber auch nur das, was zufällig gerade gespendet wurde.
Dass es hier an Unterstützung von Seiten des türkischen Staates mangelt, ist nicht allzu verwunderlich mit Blick auf die Geschichte oder auf die Reden der AKP-Politiker, die sich nicht davor scheuen, das êzîdîsche Volk weiterhin öffentlich als „Gottlose“ zu beschimpfen. Genauso wenig verwunderlich ist es, dass in den Flüchtlingslagern Gerüchte verbreitet werden, dass die Êzîden in kurdischen Städten nicht sicher seien und am besten ihr Glück in Europa suchen sollten. Wie so oft schon in der Geschichte geschehen, handelt es sich nämlich hierbei um einen Versuch, die êzîdîsche Realität in der Region von der Bildoberfläche zu löschen. Denn mit einem weiteren Exodus, auch wenn dieser „nur“ nach Europa führt, wäre das, was der IS in Şengal angefangen hat, vollendet. Das Êzîdentum lebt vom Praktizieren des Glaubens und der Tradition in der Heimat. Eine weitere geografische Zerstreuung würde aus diesem Grund immense Schäden für das gesamte Kulturgut mit sich bringen – oder mit den Worten der êzîdîschen Kulturstiftung – einen „weißen“ Genozid bedeuten.
Die Êzîden beten drei Mal am Tag mit dem Blick zur Sonne, glauben an den Dualismus von Gut und Böse und an die Kraft des Guten, das Böse zu besiegen. Um ein sicheres und menschenwürdiges Leben für die Êzîden in ihren traditionellen Siedlungsgebieten zu gewährleisten, und dem stillen Genozid ein Ende zu bereiten, ist es nun an der Zeit, dass sich die internationale Gemeinschaft gewissenhaft zur Sonne wendet. Die Überarbeitung des Flüchtlingsgesetzes in der Türkei, insbesondere mit Blick auf ihre historische Verantwortung gegenüber dem Êzîdentum, könnte in diesem Zusammenhang der erste Schritt sein.