“Frieden bedeutet demokratische Autonomie in Kurdistan”

Besê Hozat, Kovorsitzende de KCK-Exekutivrates, 16.06.2017

„Das AKP-Regime ist ein Kriegsregime. Die Kräfte, mit denen sie nun eine Allianz gebildet hat, sind solche, die in der Türkei jahrzehntelang den Krieg bestimmt und geführt haben. Das sind sozusagen Zentren des Spezialkriegs. Mit diesem Bündnis und der dazugehörigen Kriegspropaganda mag die AKP eine Anziehungskraft und Wirkung auf die nationalistischen Kreise ausüben. Ganz besonders könnte sie eine gewisse Wirkung auf die Kernbasis der AKP, die MHP und ähnliche nationalistische Parteien haben. Keine Auswirkung wird sie dagegen auf die kurdische Bevölkerung, die demokratische Gesellschaft der Türkei und auf die demokratischen Kräfte haben. Es ist spezieller, psychologischer Krieg, den sie führt. Seit Jahren wird dies gemacht und unsere Gesellschaft, die Gesellschaften der Türkei und die demokratische Öffentlichkeit lachen mittlerweile nur noch darüber, denn die psychologische Kriegsführung der AKP genießt keinerlei Glaubwürdigkeit mehr.

Süleyman Soylu ist ins Kato-Gebirge, also ins heiße Kriegsgebiet gereist. Süleyman Soylu ist Innenminister, was sucht er im Kato-Gebirge? Was er dort zu suchen hatte, ist offensichtlich. Der türkische Staat kann diesen Krieg nicht mehr allein mit seinen Soldaten führen, da die Soldaten über keinen Willen, Kraft, Moral und Motivation zum Kämpfen verfügen. Um diese Soldaten zu motivieren, reist er von einer Kriegsfront zur anderen. Hat Süleyman Soylu nichts Besseres zu tun? Er ist Innenminister und er sollte seine eigentlichen Aufgaben erledigen, statt von einer Kriegsfront zur anderen zu reisen. Aber er setzt seine ganze Hoffnung auf diesen Krieg.

Die Kurden haben sich vom Staat losgelöst

Die AKP ist Trägerin einer solchen Mentalität. Diese Kriegsallianz hat zurzeit keine Zukunftsaussichten. Man steht vor einer ernsthaften Sackgasse. Das System in der Türkei scheint blockiert und es gibt es eine ernste Krise. Die politische Krise und die wirtschaftliche Krise werden wohlmöglich zu einer sozialen Krise in der Bevölkerung führen. Zudem gibt es eine schreckliche Polarisierung. Die Türkei erlebt dabei die größte Polarisation in ihrer Geschichte. Es erfolgt zurzeit eine ernsthafte Spaltung in der Gesellschaft, und auch in den Reihen der Regierenden. Die Kurden haben sich bereits vom Staat gelöst und in Kurdistan ist von einem großen Widerstand die Rede. Dies stärkt auch die demokratische Dynamik in der Türkei sehr.

Wir können die soziologische Realität in der Türkei nicht wie früher bewerten. Dies gilt auch für die Staatsrealität. Egal, wie sehr dieser faschistische Block auf seine Liquidationspolitik besteht, hat sich die gegenwärtige soziale Struktur der Türkei verändert. Zudem hat sich auch die Region verändert. Sie ist nicht mehr vergleichbar mit dem Mittleren Osten von vor fünf oder sechs Jahren. Denn es herrscht ein ernsthafter Krieg in der Region, ein sogenannter Dritter Weltkrieg. Das System der Nationalstaaten in der Region fällt auseinander. Gleich an der türkischen Staatsgrenze haben die Kurden eine Revolution vollbracht und einen Status erreicht. Die Revolution in Rojava beeinflusst die gesamte Region, wie auch die Türkei. Deshalb ist die Situation eine komplett andere. Die Türkei erlebt ein völliges Versagen in der Außenpolitik. Sie betreibt eine prinzipienlose und unmoralische  Politik. Sie versucht die Außenpolitik mit kurzfristig gedachten taktischen Schachzügen zu führen, was jedoch keine langfristige Zukunft hat. Die regionalen Bündnisse der Türkei lösen sich auf, im Inneren gibt es eine schweren Krise, welche sich von Tag zu Tag vertieft. Deswegen werden die faschistischen Bündnisse keine Früchte tragen. Dieser Krieg, diese Gewalt und die Liquidationspolitik werden zu keinem Ergebnis führen. Diese Politik wird zu einem Ende des türkischen Staates führen.

Es gibt keine materielle Grundlage für Lösungsverhandlungen

Gegen die HDP wird eine Vernichtungspolitik geführt. Das ist auch der Grund für die Verhaftung der Ko-Vorsitzenden, Abgeordneten und Dutzenden von Politikern. Interessant ist, dass einige Kreisen weiterhin Diskussionen über die Konfliktlösung und Friedensverhandlungen weiterführen. Einige Mitglieder der CHP haben Selahattin Demirtas im Gefängnis besucht. So hat man eine neue Agenda in den Medien angestoßen. Es wird über ernste Dinge diskutiert. Ernste Dinge sollten eine Grundlage haben. Diskussionen zum Frieden und demokratischer Lösung sollten ernsthaft geführt werden. Gibt es eine materielle Grundlage dafür in der Türkei? Auf keinen Fall. In der Türkei wird eine Vernichtungspolitik gegenüber den Kurden geführt. Täglich werden Menschen ermordet. Kurdische Siedlungsgebiete wurden dem Boden gleichgemacht. Wenn es einen Willen zur Lösung gäbe, hätte man die Verhandlungen mit Öcalan nicht abgebrochen. Das Dolmabahçe-Abkommen würde nicht abgelehnt werden. Man würde keinen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führen. Im Jahr 2014 wurde ein neuer Kriegsplan vom türkischen Staat ausgearbeitet. Ein groß angelegter Krieg wurde beschlossen und auch umgesetzt. Wenn es ernsthafte Absichten für einen Frieden gäbe, dann würde man keinen Krieg vorantreiben. Derzeit gibt es in der Türkei keine Grundlage für den Frieden. Man lenkt die Friedensgespräche bewusst in eine falsche Richtung. Was ist Frieden? Es ist offensichtlich, was die Kurden und die demokratische Öffentlichkeit unter dem Frieden versteht. Frieden bedeutet demokratische Autonomie in Kurdistan und eine demokratische Republik in der Türkei. Also die Demokratisierung der Türkei. Mit einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage würde eine Demokratisierung der Türkei miteinhergehen.  Das ist Frieden. Eine andere Definition von Frieden trägt keine Bedeutung. Was die Menschen von Frieden verstehen, lässt einen staunen. Bedeutet Frieden sich der AKP zu ergeben? Diese Debatten bedeuten: „Ergeben wir uns der AKP und dem faschistischen Block, kämpfen wird nicht, leisten wir keinen Widerstand, leisten wir Gehorsam und lasst uns Sklaven sein!

Es hat nur eine Bedeutung in dieser Zeit, unter diesen Bedingungen über Frieden zu diskutieren; sich AKP zu ergeben, ihr zu gehorchen. Sich dem Faschismus zu ergeben. Kein Kampf zu führen und keinen Widerstand zu leisten. Was wäre jedoch der richtige Weg in dieser Zeit? Einen echten Widerstand zu leisten. In der Türkei wir eine schreckliche Vernichtungspolitik gegen die Kurden geführt. Die Türkei und Kurdistan haben sich in ein offenes Gefängnis verwandelt. Wir sprechen hierbei von einem Folterregime. Die Isolation über Öcalan ist beispielhaft dafür. Es gibt nichts Lächerlicheres, als in solch einer Phase über den Frieden zu diskutieren.

Manche diskutieren auch über Themen wie den Waffenstillstand. Gibt es dafür die materiellen Voraussetzungen? Diese Zeiten sind nun vorbei. Was nur noch in Frage kommt, ist der Prozess zur Anerkennung der demokratischen Autonomie. Bis jetzt wurde neun Mal der Waffenstillstand ausgerufen und es gab zwei Rückzüge der Kräfte aus der Türkei. Diese haben viele Opfer gekostet. Bei dem Rückzug im Jahre 1999 sind 500 unserer Kämpfer ums Leben gekommen. Auch bei den letzten Rückzügen gab es schwere Verluste. Und seitdem hat sich auch nichts verändert. Sowohl die AKP als auch die anderen Regierungen haben sich dem Frieden bloß im Sinne ihrer taktischen Eigeninteressen angenähert. Als Phase zur Stabilisierung und Stärkung der eigenen Macht und zur Gestaltung einer neuen Türkei in ihrem Sinne haben sie alle die Waffenstillstände ausgenutzt, das gilt vor allem für die AKP. Jetzt sind die Zeiten dafür vorbei und dies wird sich in der Weise auch nicht mehr wiederholen. Die kurdische Gesellschaft und wir haben daraus Schlüsse gezogen. Wir müssten auch diesbezüglich Selbstkritik ausüben. Wir haben auch zur langen Regierungszeit der AKP beigetragen, indem wir die Zeiten der Waffenruhe zu lang gehalten, und an Zeitpunkten Friedensinitiativen begonnen haben, die nicht notwendig waren, weil sie keine Erfolgsaussichten hatten. Wieso wir das getan haben? Aus dem Glauben an die Lösung der kurdischen Frage. Wir haben gedacht, dass man die Probleme mit Dialog, mit politischen Mitteln und auch durch Verhandlungen lösen könnte. Das war der Grund, wieso man so viele Chancen geboten hat. All das geschah aus gutem Glauben.

Der Prozess ist wirklich vorbei. Was zurzeit gemacht werden muss, ist die faschistisch gesinnte AKP zu stürzen. Ihre weitere Machtkonsolidation zu unterbinden. Denn es wird sehr schwer, eine Regierung zu stürzen, die sich vollständig institutionalisiert hat. Und wie kann man das bewältigen? Mit einem gemeinsamen Kampf und Widerstand. Und nicht indem man unnötige Friedens- und Lösungsverhandlungen führt, die Bevölkerung in Erwartungen setzt und so ihren Widerstands- und Kampfwillen schwächt. Einige tun genau das. Dies führt nur zur Unterstützung der AKP und auch der CHP.  Auch die Menschen in der HDP, die diese Debatten immer noch führen, ebnen den Weg dazu. Ich glaube nicht, dass das in Absicht geschieht, aber objektiv dient dieser Umstand der AKP. Man sollte sich von solchen Dingen fernhalten.“

 

Im Original ist die Bewertung am 06.06.2017 unter dem Titel “Hozat: Süreçler bitti; artık AKP’yi devirme zamanı!”auf der Homepage der Nachrichtenagentur Firanews erschienen.