Fünf Jahre danach: „Todeskeller von Cizîr“ sind unvergessen

Die „Todeskeller von Cizîr“ – dieser Ausdruck steht für eine Reihe von Massakern, die das türkische Militär am 7. Februar 2016 in der nordkurdischen Stadt Cizîr verübte – in Wohngebäuden, in denen etliche Menschen während der Militärbelagerung Schutz vor den Kriegsverbrechen des türkischen Staates suchten. Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen, doch bis heute hat die Justiz den Opfern keine Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind in den „Todeskellern von Cizîr“ mindestens 177 Personen bei lebendigem Leib von Sicherheitskräften verbrannt oder erschossen worden. Insgesamt starben mindestens 288 Menschen. Während in einigen Kellern die darin schutzsuchenden Personen verbrannt wurden, als das Militär Benzin in die mit Menschen gefüllten Keller leitete, erstürmten türkische Truppen andere Keller und erschossen die Anwesenden, bevor sie sie verbrannten. Die Leichen von 14 in den Todeskellern von Cizîr getöteten Menschen sind bis heute verschwunden. Bei ihnen handelt es sich um Feride Yıldız, Mardin Çelebi, Hacer Aslan, Osman Gökhan, Hüseyin Derviş, Servet Aslan, İdris Susin, Ali Aslan, Cemal Pürlek, Emrah Aşkan, Osman Esmeray, Mustafa Keçanlu, Emrah Aşkın und Sakine Durmiş. Sieben von ihnen sollen auf anonymen Friedhöfen in anderen Städten beigesetzt worden sein.

Die erste Ausgangssperre über Cizîr

Am 4. September 2015 verhängte die türkische Regierung über die Stadt Cizîr in der Provinz Şirnex (Şırnak) eine Ausgangssperre. Es war die erste einer langen, bis heute nicht abreißenden Kette von Ausgangssperren. Während dieser ersten Ausgangssperre griff der türkische Staat mit allen Kräften, die ihm dabei zur Verfügung standen, bis an die Zähne bewaffnet mit konventionellen Waffen, neun Tage lang die Stadt an. Eine Gruppe stellte sich ihnen damals entgegen. 21 Tote, Dutzende Verletzte und Hunderte zerstörte Häuser und Wohnungen hatte der neuntägige Angriff auf Cizîr zur Folge.

Zweite Belagerung in Cizîr

Am 14. Dezember 2015 begann die zweite Belagerung der damals etwa 115.000 Bewohner umfassenden Stadt. 79 Tage lang bombardierte die türkische Armee Cizîr sowohl aus der Luft als auch vom Boden aus. Die Polizei und das Militär nahmen ganze Viertel unter Feuer, zerstörten die Telefon-, Strom- und Wasserversorgung und kesselten mehrere tausend Menschen ein. Bewohner, die in den Kellern ihrer Wohnhäuser Schutz vor den Angriffen suchten, wurden auf grausame Art ermordet. In diesen 79 Tagen sind mindestens 259 weitere Menschen von türkischen Sicherheitskräften getötet worden. Wegen dieser brutalen Vorgehensweise gegen die Verletzten, die sich zu ihrem eigenen Schutz in den Untergeschossen der Gebäude verschanzten, haben sich die Tatorte auch als „Keller des Grauens“ in das Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft gebrannt. Die Leichen von insgesamt 177 Menschen, darunter 25 Kindern, wurden aus den Trümmern in den Vierteln Cûdî und Sûr geborgen. Allein in drei Kellern, die der breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, kamen jeweils 31, 62 und 50 Menschen ums Leben.

110.000 Menschen vertrieben

Die schwerste Zerstörung wurde in den Stadtvierteln Cûdî, Yafes, Sûr und Nûr angerichtet. 80 Prozent der genannten Viertel wurden dem Erdboden gleich gemacht. 500 Gebäude wurden vollständig zerstört und 2.000 Häuser schwer beschädigt. Nach 20 Tagen wurden 110.000 Menschen mit Gewalt aus der Stadt vertrieben. Daraufhin wurde die Zerstörung ausgeweitet, 500 weitere Häuser wurden von der staatlichen Baubehörde TOKI abgerissen. Die verwinkelten Altbauten wurden vernichtet und es wurden 6.500 Wohnungen in militärisch kontrollierten Plattenbauten errichtet.

Ermittlungen in 121 Todesfällen werden verschleppt

Obwohl nun fünf Jahre vergangen sind, gibt es noch immer keine Fortschritte in den Ermittlungen zu den Todesumständen von 121 Personen. 83 der Verfahren wurde eingestellt. Von diesen 83 wurde in 51 Fällen ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof beantragt. Weitere vier Verfahren wurden eingefroren und bei 34 Verfahren auf „Nichtzuständigkeit“ entschieden.

Norman Paech: Das, was in Cizîr geschah, waren Kriegsverbrechen

Der Hamburger Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech bezeichnet die Geschehnisse in Cizîr und anderen Regionen, die 2015/2016 vom türkischen Militär belagert wurden, als „Krieg gegen die Bevölkerung“. Die Massaker klassifiziert Paech als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch da die Türkei eine Vielzahl völkerrechtlich verbindlicher Abkommen nicht ratifiziert hat, könne sie nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof für die Angriffe und Massaker, die ganz klar den Tatbestand eines Kriegsverbrechens wie auch den eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllen, verurteilt werden. Nur wenn der UN-Sicherheitsrat es anfordert, wäre eine Anklage gegen die Verantwortlichen aus der türkischen Regierung in Den Haag möglich. Die Realisierung davon hänge allerdings von juristischen wie auch von politischen Gründen sowie der Haltung der Vereinten Nationen ab.

EGMR weist Klage ab

Im Februar 2019 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage gegen den türkischen Staat über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr abgewiesen. Begründet wurde die Entscheidung mit der sogenannten Nichtzuständigkeit. Die Straßburger Richter befassten sich inhaltlich nicht mit der Klage und entschieden, dass zunächst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse. Es seien noch zwei Klagen beim Verfassungsgericht anhängig und diese müssten abgewartet werden, bevor sich der EGMR mit dem Fall befassen könne.

Bei dem Verfahren vor dem EGMR ging es um die Fälle von Ömer Elçi und Orhan Tunç. Orhan Tunç war in Cizîr von Sicherheitskräften angeschossen worden und hatte sich verletzt in einen Keller geflüchtet. Sein Bruder, der Ko-Vorsitzende des Volksrates von Cizîr, Mehmet Tunç, leitete beim EGMR eine Klage ein und erwirkte eine Eilentscheidung, wonach der türkische Staat zum Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit alle seine Möglichkeiten einsetzen müsse. Die Regierung in Ankara ignorierte die Entscheidung und ließ den Mann sterben. Mehmet Tunç starb wenige Tage später ebenfalls im Februar 2016.

Die Anträge im Namen von Ömer Elçi und Orhan Tunç waren vom EGMR von 35 Anträgen als Pilot-Verfahren ausgewählt worden. Dieses Verfahren trifft für einen Pilot-Fall eine Musterentscheidung, der Vorbild für unzählige rechtlich gleichgelagerte Fälle bildet, die dann in einem beschleunigten Verfahren beim EGMR entschieden werden. Dennoch entschied sich der europäische Menschengerichtshof gegen eine Musterentscheidung für die Türkei und hielt beharrlich an der Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs fest. Und das, obwohl in der Türkei längst nicht mehr von einem funktionierenden Rechtsstaat gesprochen werden kann.

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