Gerät der Lösungsprozess ins Stocken?

müzakereDie türkische Regierung kommt ihren Aufgaben im Lösungsprozess nicht nach
Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 21.06.2013.

Auf den Tag genau vor drei Monaten wurde der Aufruf des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vor über einer Million Menschen in Amed vorgetragen. Die türkischen Fernsehsender trugen die Message per Liveübertragung auch in die Wohnzimmer der türkischen Haushalte, und selbst in den internationalen Medien fand die Ansprache Öcalans breiten Widerhall.

Öcalan verkündete „Heute beginnt einen neue Ära “ und „Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik“. Vor dem Newrozfest hatte Öcalan erneut monatelang mit Mitgliedern des türkischen Geheimdiensts, die im Auftrag der AKP-Regierung bei ihm waren, Gespräche und Verhandlungen geführt. Auch mit Delegationen der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) führte Öcalan lange Gespräche. Über die BDP-Delegationen gab es auch einen Briefverkehr zwischen Imrali und der PKK-Führung auf den Kandilbergen. 

Aus dem regen Dialogverkehr rund um die Gefängnisinsel Imrali entwickelte sich erneut die Hoffnung auf eine Lösung der drängendsten Frage der Türkei. Durch die Initiative Abdullah Öcalans wurde die Tür hierfür aufgestoßen. Nun mussten die PKK, die BDP und die türkische Regierung die Initiative ergreifen. Doch was ist in den vergangenen drei Monaten für die Lösung geschehen? Wer hat was gemacht? Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz.

Erste Stufe des Lösungsprozesses – Die PKK erfüllt ihre Aufgaben

Öcalans Vorschlag für den Lösungsprozess sieht drei Schritte vor. Für die kurdische Seite richtet sich ihr Verhalten nach der von Öcalan verkündeten Roadmap und auch die türkische Regierung hat bislang keine ablehnende Haltung gegen Öcalans Vorschlag geäußert. Im Gegenteil, denn Öcalan hatte die Roadmap für Verhandlungen bereits während des damals gescheiterten Dialogprozesses zwischen ihm und dem Staat im Zeitraum von 2009 und 2011 zu Papier gebracht und damals hatte der Sonderbevollmächtigte von Ministerpräsident Erdogan, Hakan Fidan, geäußert, dass Erdogan zu 90-95% mit der Roadmap Öcalans konform geht.

Der „Demokratische Lösungsplan“ Öcalans sieht in der ersten Stufe zunächst ein beidseitiges Schweigen der Waffen vor. Um zu verdeutlichen, dass die kurdische Seite es mit diesem Prozess ernst meint, hat er gar darum gebeten, dass die Guerillakräfte sich aus den Gebieten Nordkurdistans zurückziehen. Die PKK folgte der Aufforderung ihres Vorsitzenden und verkündete am 8.Mai, dass sie mit dem Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte beginnen wird. Auch wenn der Rückzug im vollen Gange ist, wird er sich aufgrund der zum Teil großen Distanz zur Grenze nach Südkurdistan (Nordirak) bis in den Herbst hineinziehen. Doch die Waffen der kurdischen Seite schweigen. Und abgesehen von einigen militärischen Aktionen der türkischen Seite ist es bisher auch zu keiner schwerwiegenden bewaffneten Auseinandersetzung zwischen beiden Seiten gekommen. Da der bewaffnete Kampf zur Ruhe gekommen ist, sollte es mit der zweiten Stufe des Lösungsplans weitergehen.

Zweite Stufe des Lösungsprozesses – Wenig Bewegung aufseiten der Regierung

Musste bei der ersten Stufe die PKK ihrer Verantwortung für einen Lösungsprozess gerecht werden, so muss in der zweiten Stufe vor allem die türkische Regierung ihren Friedens- und Lösungswillen unter Beweis stellen. Nachdem die kurdische Seite ihrerseits durch den Rückzug ihrer Kräfte den Weg für eine politische Lösung geräumt hat, soll nun die türkische Regierung dasselbe tun. Doch daran hapert es derzeit. So erklärt, der KCK-Exekutivratsvorsitzende Murat Karayilan, dass der türkische Staat mit seiner derzeitigen Haltung den Prozess sabotiert. Auch der BDP Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas machte vor dem Hintergrund der Reaktion der AKP-Regierung auf die Demokratiebewegung im Land, die durch die Proteste rund um den Gezi Park ausgelöst worden sind, dass mit der derzeitigen Mentalität der Regierung keine Lösung erzielt werden kann. Auch sonst bewegt sich die AKP derzeit herzlich wenig auf die kurdische Seite zu. Im Rahmen der zweiten Stufe stellt die kurdische Bewegung noch vor den Diskussionen um eine neue Verfassung, welche zur vollständigen Lösung der kurdischen Frage und zur Demokratisierung der Türkei beitragen soll, die folgenden dringenden Forderungen in Richtung AKP, damit der Lösungsprozess voranschreiten kann:

• Aufhebung der Isolationsbedingungen von Abdullah Öcalan

Abdullah Öcalan ist auf der kurdischen Seite der wichtigste Akteur im gegenwärtigen Lösungsprozess. Die kurdische Freiheitsbewegung und der größte Teil der kurdischen Bevölkerung hat vollstes Vertrauen in seine Person. Damit der gegenwärtige Prozess auf einer gesunden Basis voranschreiten kann, bedarf es deshalb Kommunikationswege zwischen Öcalan und den Organisationen der kurdischen Freiheitsbewegung. Hierfür müssen die Isolationsbedingungen Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali aufgehoben werden.

• Militärische Aktivitäten vollständig einstellen

Zwar hat auch das türkische Militär nach Ankündigung des Rückzugs der kurdischen Guerillakräfte ihre militärischen Aktivitäten deutlich zurückgeschraubt, komplett eingestellt haben sie diese allerdings noch nicht. So berichten die ersten Guerillagruppen, die bereits im Rahmen des Rückzugs die von der PKK kontrollierten Gebiete in Südkurdistan erreicht haben, dass sich der Rückzug durch die militärischen Bewegungen der türkischen Armee erschwert und verzögert haben. Sie berichten, dass sie große Mühen aufbringen mussten, um Gefechtssituationen, die zu einem Abbruch des Prozesses führen könnten, zu vermeiden. Neben den Truppenbewegungen hat die türkische Armee auch ihre Drohnenflüge über den Gebieten der PKK nicht eingestellt. Dies wird von der kurdischen Seite als eine provokative Haltung gegen einen Lösungsprozess gewertet.

• Keine neuen Dorfschützer und Militärkasernen

Irritierend, wenn man von einem Lösungsprozess spricht, wirken auch die Ankündigungen auf türkischer Seite, dass neue Militärkasernen in den kurdischen Regionen errichtet und neue Dorfschützerverbände eingestellt werden sollen. Diese Ankündigungen zeugen eher von einer Kriegsmobilisierung. Die kurdische Bewegung stellt sich nicht allein gegen die Ankündigungen, sondern sie fordert auch, dass alle Dorfschützer entlassen und die Zahl der Militärkasernen im Sinne einer friedlichen Zukunft deutlich vermindert werden müssen.

• Haftentlassungen für KCK-Gefangene und kranke Inhaftierte

Die KCK Festnahmewellen sind noch sehr frisch in der Erinnerung der kurdischen Gesellschaft. Ab April 2009 wurden fast täglich Dutzende kurdische politische AktivistInnen bei Razzien und Hausdurchsuchungen festgenommen. Die kurdische Seite bezeichnete diese Operationen, durch die zeitweise bis zu 10.000 Menschen verhaftet wurden, als politischen Genozid. Die meisten Verfahren gegen die KCK-Gefangenen dauern gegenwärtig noch an. Die Forderung der kurdischen Seite lautet klar und deutlich, dass diese Menschen aus der Haft entlassen werden müssen. Will man den politischen Raum in der Türkei öffnen, müssen die politischen AktivistInnen der kurdischen Seite auch in Freiheit sein.

Auch die Situation der kranken Inhaftierten steht weit oben auf der Tagesordnung der kurdischen Seite. Gegenwärtig befinden sich 411 kranke Gefangene, von denen sich 122 an der Schwelle zum Tod befinden, (Quelle: IHD, Stand 7.Juni) in den türkischen Gefängnissen. Die Forderung nach Haftverschonung für diese Menschen stößt derzeit auf taube Ohren des türkischen Justizministeriums.

Wie weiter?

Beim letzten Besuch der BDP-Delegation bei Abdullah Öcalan auf Imrali am 07.Juni kündigte Selahattin Demirtas an, dass Öcalan in den nächsten 15 Tagen eine ausführliche Stellungnahme zum gegenwärtigen Stand im Lösungsprozess verkünden will. Diese Erklärung müsste also in den kommenden Tagen an die Öffentlichkeit gelangen, doch dieser Tage hat das Justizministerium noch keine Besuchserlaubnis für eine BDP-Delegation bei Öcalan ausgestellt. Sicherlich wird bei der Bewertung Öcalans die antidemokratische Haltung der AKP-Regierung bei den Gezi Aufständen eine wichtige Rolle spielen. Denn schließlich sieht die kurdische Seite im Rahmen eines Lösungsprozesses eine weitgehende Demokratisierung der Türkei vor. Wie weit die jetzige türkische Regierung aber davon entfernt ist, hat sie durch ihren Umgang mit den landesweiten Protesten der ganzen Welt eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Um die Demokratisierung der Türkei wird es bei den Diskussionen um eine neue Verfassung gehen, die ebenfalls Teil des zweiten Schrittes des Lösungsprozesses sind. Aber sollten die oben genannten Forderungen nicht erfüllt werden, wird es vermutlich zu diesen Diskussionen gar nicht erst kommen. Am 20. Juni haben sich zwar Mitglieder der BDP-Fraktion und der Regierungsvertreter bezüglich der dringenden Forderungen zusammengesetzt. Doch wenn man die Aussagen des BDP Co-Vorsitzenden Demirtas nach dem Treffen liest, scheint auch hier nicht der große Sprung im Lösungsprozess erreicht worden zu sein.

Reißt sich die türkische Regierung nicht zusammen, droht sie erneut eine historische Gelegenheit für die Lösung der kurdischen Frage aus der Hand zu geben. Abschließen möchte ich mit einem Zitat des KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat Karayilan, in welchem er unterstreicht, wer die Verantwortung für ein mögliches Scheitern des Prozesses trägt:

„Wir sagen offen und ehrlich: Wenn der Staat und die Regierung die kurdische Frage lösen wollen, müssen sie ernsthaft handeln. Es ist die Zeit praktischer Schritte. Wenn sie das nicht tun, wird der Prozess ins Stocken geraten. Und wenn er dann schließlich stoppt, ist der Staat allein dafür verantwortlich. Von nun an hängt der Prozess vom Verhalten der AKP-Regierung ab. Wir haben nämlich alles getan, was wir bisher im Rahmen einer Lösung tun können. Und wenn der Staat nicht darauf reagiert, müssen wir die Situation überdenken und unser weiteres Vorgehen neu bestimmen.“

Schreibe einen Kommentar