Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik

Sindschar_FluchtHandlungsempfehlungen an die deutsche Politik aufgrund der akuten Lage in Südkurdistan (Nordirak) und Rojava (Nordsyrien)
von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 15.08.2014

Die Dschihadisten der Gruppe „Islamischer Staat“ (IS, auch als ISIS bekannt), die nach der Einnahme von Mossul und weiterer irakischer Städte im Juni ein bis nach Syrien reichendes Kalifat ausgerufen haben, begannen Anfang August mit einer neuen Offensive in Südkurdistan/Nordirak.

Im Fokus stehen kurdische Siedlungsgebiete. Konkret handelt es sich um die sogenannten „umstrittenen Gebiete“, die sich offiziell  außerhalb der kurdischen Autonomieregion befinden und über deren Zugehörigkeit laut irakischer Verfassung ein Referendum zu entscheiden hat. Fast zeitgleich mit dem Einmarsch des IS in Mossul hatten die kurdischen Peschmerga diese Gebiete einschließlich der Erdölstadt Kerkuk unter ihre Kontrolle gebracht.

Der aktuelle Vorstoß der Dschihadisten zielt darauf ab, ein durchgehendes Gebiet von Mossul über die bereits Ende Juni eroberte turkmenische Stadt Tal Afar bis zur syrischen Grenze unter die Kontrolle des „Islamischen Staates“ zu bringen. Dies würde die Versorgungswege des IS in seinem grenzübergreifenden Kalifat und dessen faktischer Hauptstadt Rakka im Norden Syriens wesentlich erleichtern. Der IS eroberte seit Anfang August große Gebiete nördlich und westlich von Mossul einschließlich der Städte Şengal (Sindschar), Sumar und Karakosch. Auch der größte Staudamm des Irak 40 Kilometer nordwestlich von Mossul am Tigris fiel unter die Kontrolle der Dschihadisten, die zudem zwei weitere Ölfelder besetzten.

Laut aktuellen Berichten aus der Region wurden allein in Şengal mindestens 3000 Menschen massakriert. 5000 weitere, darunter 1500 Frauen und Mädchen seien verschleppt worden.

 

1. Fluchtwelle der Minderheiten und Religionsgruppen:

  • Nach der Vertreibung der Christen aus Mossul fliehen auch die Einwohner von Karakosch, der größten christlichen Stadt des Irak, die am 7. August vom IS eingenommen wurde. Nach Angaben des chaldäischen Patriarchen Louis Raphaël Sako waren letzte Woche 100.000 Christen vielfach zu Fuß auf dem Weg in Richtung der kurdischen Autonomieregion.
  • Erneut auf der Flucht sind auch zehntausende schiitische Turkmenen, die nach der Eroberung ihrer Stadt Tal Afar durch den IS Ende Juni nach Şengal geflohen waren.
  • Die größte Bedrohung besteht indessen für die mehrheitlich êzîdische Bevölkerung der an Syrien grenzenden Region Şengal. Von weltweit knapp einer Million Angehörigen dieser Glaubensrichtung leben 600.000 im Irak und hiervon die Mehrheit in Şengal und Sheikhan.
  • EzidInnen, AssyrerInnen, KurdInnen, Kakai-KurdInnen, Schabak-KurdInnen, TurkmenInnen und viele andere Volks- und Religionsgemeinschaften sind wegen des Vormarschs des IS einer großen Gefahr des Genozides ausgesetzt.

 Handlungsempfehlungen:

Die wichtigste gemeinsame Forderung der kurdischen Organisationen/Vereine/Verbände  bezüglich der akuten Situation ist humanitäre Hilfe (Wasser, Nahrung und ärztliche Versorgung sowie Medikamente). Dies gilt vor allem für die Flüchtlinge aus der Region Şengal. UN-Angaben zufolge befinden sich derzeit etwa 200.000 Menschen auf der Flucht. Örtliche Berichte sprechen gar von weitaus größeren Zahlen. Ein Teil der Flüchtlinge konnte  sich in die 200 Kilometer entfernte kurdische Autonomieregion retten. Entsprechend den Angaben der UN (Stand: 14.08.2014) befinden sich nur noch 1.000 Menschen im Şengalgebirge (Sindschargebirge) eingeschlossen. UN-Angaben zufolge wurde ein Teil der Flüchtlinge gerettet, der Großteil konnte aber selbst entkommen. Etwa 50.000 von ihnen haben die Grenze zu Rojava (Nordsyrien) erreicht, andere halten sich nun in der kurdischen Autonomieregion des Irak (KRG) auf. Meldungen aus der Region sprechen von weitaus größeren Zahlen. Lokale Hilfsorganisationen aus Rojava und der kurdischen Autonomieregion im Irak berichten, dass die von dem Höhenzug entkommenen Menschen extrem erschöpft seien und unter Flüssigkeitsmangel litten. Zudem seien viele der betroffenen Menschen durch die Ereignisse stark traumatisiert worden. Viele hatten über Tage bei hohen Temperaturen mit wenig Wasser und Nahrung im Sindschar-Gebirge ausgeharrt. Immer noch ringen viele Menschen um ihr Leben. So kommt es nahezu täglich zu neuen Todesmeldungen.

 

  • Aus dem Rojava genannten kurdischen Selbstverwaltungsgebiet im Norden Syriens überquerten die dortigen, im jahrelangen Kampf gegen die Dschihadisten erprobten Milizen der Volksverteidigungseinheiten (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) die Grenze zum Irak. Gemeinsam mit verbündeten arabischen Stämmen und assyrischen Milizen befreiten sie zuerst die von den KDP-Peschmerga den IS-Terroristen überlassene Grenzstadt Rabia. Anschließend kämpften sie einen Fluchtkorridor zwischen den Şengal-Bergen und dem Grenzübergang Til Kocer (Al Yarubbia) bei Rabia frei. Laut aktuellen Angaben, die uns vor Ort erreichen, konnten auf diesem Wege Zehntausende Menschen, denen die Flucht nach Rojava gelungen ist, in Sicherheit gebracht werden. Dort werden sie jetzt in Flüchtlingslagern untergebracht. Alleine im Newroz-Camp in der Stadt Derik befinden sich laut UNHCR derzeit über 15.000 Flüchtlinge. Allerdings leiden die Menschen auch dort an Lebensmittel- und Medikamentenmangel. Der Kanton Cizîre, in welchem sich das Flüchtlingscamp befindet, ist selbst einem wirtschaftlichem Embargo durch die Türkei und die Barzani-Regierung ausgesetzt und wird von syrischer Seite her von den Dschihadisten des IS attackiert, sodass es an der Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung nicht nur für die Flüchtlinge sondern für die gesamte Bevölkerung des Kantons mangelt. Viele Tausende mehr sind in den umliegenden Dörfern und Städten in der Gegend untergekommen. Immer noch kommen tausende Menschen in Rojava (Nordsyrien) an.

Bis vor kurzem noch verweigerte die UN mit ihrem Flüchtlingshilfswerk UNHCR allerdings Hilfeleistungen für die Menschen in Rojava, da die Selbstverwaltung von der Staatengemeinschaft nicht offiziell anerkannt ist. Die aktuell geleistete Hilfe ist bei weitem nicht ausreichend.

Die aktuelle humanitäre Hilfe deckt kaum den Bedarf, der zur Versorgung der Flüchtlinge notwendig ist. Bei der Frage, wie den Menschen vor Ort geholfen werden kann, muss das Thema der humanitären Hilfen deswegen absolute Priorität haben.

 

  • Zwar ist die kurdische Autonomieregion des Irak (KRG) international anerkannt, jedoch wird auch dort keine notwendige Hilfe für die dortigen Flüchtlinge geleistet. Die Co-Vorsitzende des Kurdistan Nationalkongresses Nilüfer Koç, welche sich ebenfalls in der Region aufhält, spricht von bis zu 1.5 Millionen Binnenflüchtlinge. Diese Zahlen werden seitens der KRG bestätigt. Den Flüchtlingen fehlt es an Unterkünften und anderer Grundversorgung. Laut lokalen Medienberichten soll die KRG mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert sein. Es werden dringend humanitäre Hilfsorganisationen in die kurdische Autonomieregion des Irak (KRG) eingeladen.
  • Weitere Handlungsempfehlungen sind Schritte und Möglichkeiten für den Schutz der Êzîden zu prüfen, die in sämtlichen ihrer Heimatgebieten von Angriffen der IS bedroht sind. Hilfe- und Unterstützungsleistung bei dem  Aufbau der sich neu konstituierenden Selbstverteidigungseinheiten in Şengal stellen einen wichtigen Beitrag hierfür dar.  Derzeit organisieren sich die Şengal-Verteidigungseinheiten, die vor allem aus Êzîden aus der Region bestehen.

 

2. Situation des Flüchtlingslagers Maxmur (Makhmour)

In dem Lager (40 Kilometer von Erbil entfernt) leben seit den 90er Jahren rund 13.000 Kurden aus der Türkei, die von der türkischen Armee aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Das Lager befindet sich offiziell unter Schutz der UN. Nach dem Vorrücken der IS wurden die Bewohner Maxmurs nach Erbil, wo sie in einem Stadtpark kampieren müssen, und nach Rania evakuiert. Bis zum Montag gelang es den in Maxmur vereinten kurdischen Kräften aus PKK, YPG sowie Peschmerga der Parteien KDP, PUK und Goran und örtlichen Selbstverteidigungskräften, den IS aus dieser strategisch wichtigen Stadt auf halber Strecke zwischen Mossul und Kerkuk zurückzudrängen. Von Maxmur aus wäre für den IS ein Angriff auf Erbil möglich gewesen.

Handlungsempfehlungen:

  • Die UN muss an ihre Verantwortung erinnert werden, damit sie sich um die Flüchtlinge kümmert.
  • Delegationsreisen von politischen Verantwortlichen, NGOs und Experten aus Deutschland und Europa in die betroffenen Gebiete sollten organisiert werden, damit vor Ort in Erfahrung gebracht werden kann, an welcher Grundversorgung es den Menschen fehlt.

 

3. Angriffe auf Jalawa

Die IS-Kämpfer rücken immer weiter an die kurdische Autonomiezone heran. Am Montag fielen zudem Teile der kurdischen Stadt Jalawa bei Xaneqin (Khanaqin) an den IS. Der Stadt Jalawa fällt aus strategischer Perspektive gesehen eine wichtige Bedeutung zu. Sie grenzt direkt an den Iran. Hinter der Grenze leben vor allem arabische Sunniten, welche Sympathien für den IS hegen sollen. Derzeit wird die Stadt gemeinsam von Pershmerga der PUK und PKK-KämpferInnen verteidigt. Sollte die vollständige Kontrolle der Stadt in die Hände des IS geraten, ist davon auszugehen, dass von da aus Gebiete des Irans attackiert werden könnten. In Folge dessen würde die Fragilität der Region ausgeweitet werden.

Handlungsempfehlungen:

  • Schutz für die religiöse Gruppen der Region u.a. den Kakai-Kurden. Hilfeleistung für die neuen Flüchtlinge.

 

  1. Unterstützung des IS durch die Türkei und die Golfstaaten:

Die US-Regierung hatte 2003 durch den Sturz des Baath-Regimes und die nachfolgende Unterstützung der sektiererisch gegenüber den Sunniten agierenden schiitischen Maliki-Regierung den Boden für die jetzige Situation bereitet. Es sind zudem die engsten Verbündeten der USA – der NATO-Staat Türkei und die Golfmonarchien – die dschihadistische Gruppen wie den IS seit Jahren unterstützten. Saudi-Arabien und Katar finanzieren und bewaffnen die sunnitischen Dschihadisten im Kampf gegen die syrische Baath- und die Maliki-Regierung im Irak.

Internationale Think-Tanks sowie Medien, Oppositionsparteien und Menschenrechtsorganisationen aus der Türkei berichten und belegen, dass die Türkei als wichtigstes Durchreiseland internationaler Dschihadisten nach Syrien fungiert. Sie erlaubt Mitgliedern des IS und der zu Al Qaida gehörenden Al Nusra Front, von türkischem Territorium aus gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava sowie syrische Regierungstruppen zu agieren. Verwundete Dschihadisten lassen sich in türkischen Krankenhäusern versorgen. Im Juli flogen laut Medienberichten dutzende kaukasische IS-Kämpfer via Turkish Airlines in die Türkei, um geleitet vom türkischen Geheimdienst MIT die Grenze nach Syrien zu überqueren. Nach Angaben von Oppositionsparteien und Menschenrechtsorganisationen unterhält der IS sogar Ausbildungscamps auf türkischem Boden und wird logistisch und militärisch vom türkischen Geheimdienst MIT unterstützt. Vor kurzem gab der MOSSAD bekannt, über mindestens zwei Ausbildungslager auf türkischem Staatsterritorium Bescheid zu wissen.

Handlungsempfehlungen:

  • Möchte man den IS ernsthaft bekämpfen, dann muss in erster Linie die über die Türkei und die Golfstaaten laufende Unterstützung für den IS verhindert werden. Zwar wird vielfach auch hierzulande über die türkische Unterstützung für den IS berichtet, doch politische Konsequenzen hieraus wurden bislang nicht gezogen. Politischer Druck gegen die Regierungen dieser Staaten ist deshalb auszuüben, mögliche Sanktionen sind zu prüfen.

 

  1. Kurdischer Widerstand gegen IS:

Die Volksverteidigungseinheiten YPG aus Rojava, die bereits seit zwei Jahren den Ansturm der Dschihadisten auf die Selbstverwaltungsregion erfolgreich abwehren, die PKK-Guerilla, welche ihr Rückzugsgebiet im Nordirak unterhält und die Peshmerga gelten derzeit als einzige effektive Kraft, die dem Vormarsch der Dschihadisten Widerstand entgegensetzen kann. Gegenwärtig agieren in bestimmten Regionen alle drei bewaffneten Kräfte im Kampf gegen den IS unter gemeinsamer Koordination. Ziel ist es, einen gemeinsamen militärischen Kommandorat zu etablieren.

Abschließende Handlungsempfehlungen:

  • Für die Konfliktregion: Dialog und Einbindung aller kurdischen Akteure in dieser Widerstandsphase sind notwendig. Neben der KRG sollte die demokratische Verwaltung von Rojava sowie die PKK in einen Dialog über Möglichkeiten und Strategien im Kampf gegen den IS miteinbezogen werden. Dieser gemeinsame und legitime Widerstand aller kurdischen bewaffneten Kräfte sollte anerkannt werden und Unterstützung finden. Alle sollten in die Gremien um den Aufbau der Selbstverteidigung der Menschen gegen die IS-Anfriffe einbezogen und unterstützt werden. Um den Demokratieaufbau in der Region ermöglichen zu können, sollten sämtliche kurdischen demokratischen Kräfte als Ansprechpartner wahrgenommen werden. Hilfeleistungen können ebenfalls über die Demokratische Partei der Völker HDP aus der Türkei erfolgen. Diese leistet seit Jahren Hilfe für die kurdischen Gebiete in Nordsyrien und verfügt dahingehend über entsprechende Erfahrungen.
  • In Deutschland und Europa: Die in diesem Kontext zu Recht von vielen Kreisen geforderten Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland und die Streichung der PKK aus der umstrittenen „Terrorliste“ sind Schritte, die Deutschland und Europa tätigen sollten. Die derzeitigen Entwicklungen in der Region und die Rolle, welche die PKK in ihr spielt, verdeutlichen abermals, dass diese Verbots- und Kriminalisierungspolitik gegenüber der PKK und damit einhergehend auch gegen die kurdische Community in Deutschland in keiner Weise mehr haltbar ist. Die Grundlagen für diese Kriminalisierungs- und Verbotspraxis sind längst überholt. Eine Abkehr Deutschlands von dieser Politik würde sicherlich auch ein positives Signal für die Entwicklungen in der Region mit sich bringen.