Hintergrundinformationen zum aktuellen Hungerstreik

cezaevlerindeki-aclik-grevi(…) Gegen die menschenverachtende Politik, die den Menschen keinen anderen Ausweg lässt, als durch den Einsatz ihres Lebens Widerstand zu leisten, muss schleunigst vorgegangen werden. Eine ähnliche Situation ergab sich schon während des Hungerstreiks palästinensischer Gefangener im Frühjahr dieses Jahres. Wenn die deutsche Öffentlichkeit erneut ein entsprechendes Einfühlungsvermögen wie damals aufbringt, dann könnte die türkische Regierung unter Druck gesetzt und somit das Leben hunderter Menschen gerettet werden. Obwohl die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit der hungerstreikenden Gefängnisinsassen trägt, hüllt sie sich weiterhin in Schweigen. Während hunderte Menschen von Tag zu Tag dem Tode näher rücken, blockiert die türkische Regierung weiterhin sämtliche Bemühungen der kurdischen Seite um eine Lösung.

Die kurdische Frage betrifft den Irak, den Iran, Syrien und besonders die Türkei – und ist eines der großen, bis heute ungelösten Probleme des Mittleren Ostens. Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Freiheitsbewegung dauert mittlerweile seit mehr als 30 Jahren an. Bislang haben mehr als 40 000 Menschen ihr Leben im Verlauf der lang anhaltenden militärischen Auseinandersetzung verloren, rund 4500 Dörfer sind von der türkischen Armee entvölkert oder niedergebrannt, mehr als 17000 kurdische Intelektuelle und politisch Aktive von Todesschwadronen ermordet worden, Millionen Menschen geflohen. Derzeit leben rund 1 Mio. kurdische MigrantInnen in der BRD.

Die AKP-Regierung setzt seit 2007 fortschreitend eine autokratische Politik um und versucht, jegliche gesellschaftliche Opposition, die sich für die Menschenrechte und/oder die Rechte der KurdInnen einsetzt, zu kriminalisieren und zu unterdrücken. 2011 wurden 1555 Fälle von Folter bei türkischen Menschenrechtsorganisationen angezeigt, 29 Menschen extralegal hingerichtet, fast täglich finden Militäroperationen statt, immer wieder wird von Kriegsverbrechen durch die Armee berichtet. In den letzten 15 Monaten haben die „verantwortlichen“ PolitikerInnen eine Vielzahl völkerrechtswidriger, grenzüberschreitender Militäroperationen angeordnet. Dabei wurden u. a. mehr als 50 ZivilistInnen getötet. Auch die Verluste auf Seiten des Militärs und der Guerilla haben demzufolge in den letzten Monaten erheblich zugenommen.

Mehr als 8000 Inhaftierungen in den letzten drei Jahren
In den letzten dreieinhalb Jahren wurden im Rahmen der so genannten KCK-Operationen über 8000 kurdische KommunalpolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen, AnwältInnen und AktivistInnen inhaftiert, darunter auch 6 ParlamentarierInnen und 35 BürgermeisterInnen. Von mehr als 100 festgenommenen regierungskritischen, meist kurdischen, JournalistInnen sitzen derzeit 76 in Haft.
Kürzlich hat das New Yorker Komitee zum Schutz von JournalistInnen (CPJ) zunehmende Angriffe auf die Pressefreiheit in der Türkei beklagt. So heißt es in einem am 21.10.2012 veröffentlichten Bericht, dass die türkischen Behörden derzeit „eine der weltweit größten Kampagnen gegen die Presse“ betrieben. Insgesamt seien 76 Journalisten in Haft – so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Den meisten Inhaftierten würden Terrorvergehen aufgrund ihrer journalistischen Arbeit vorgeworfen.

Die KCK, die „Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans“, ist ein Dachverband, in dem unterschiedliche kurdische Gruppierungen aus den o. g. Ländern das Projekt der „Demokratischen Autonomie“ entwickeln und verwirklichen. In diesem Rahmen soll innerhalb der jeweiligen Staaten im Rahmen konföderalistischer Strukturen eine basisdemokratische Selbstverwaltung realisiert werden, um u. a. die Rechte der KurdInnen und sämtlicher religiöser wie ethnischer Gruppen zu gewährleisten. In der Türkei geht der Staat mit juristischer, polizeistaatlicher und militärischer Gewalt vor, um das zu verhindern. Die andauernden, in diesem Ausmaß weltweit einmaligen Verhaftungswellen sind ein Teil dieser Politik. Der Innenminister bekundete, dass die Verhaftungen von der AKP ausgehen – eine klare Verletzung der Gewaltenteilung. Ein Teil der Repression ist die Totalisolation von Abdullah Öcalan. Seit Juli 2011 werden sämtliche anwaltlichen Besuche verhindert. 36 AnwältInnen des Politikers ließ die Regierung ohne juristische Grundlage im Rahmen der KCK-Verfahren inhaftieren. Lediglich zwei dieser AnwältInnen wurden freigelassen.

In türkischen Gefängnissen gibt es nur eine mangelhafte medizinische Versorgung. Gefangene müssen sich zudem oftmals im Beisein von Wärtern und Soldaten untersuchen lassen. Es wird darüber hinaus systematisch gefoltert. Viele der Wärter werden u. a. gemäß der „Panama-Schule“, einer Schulungsmethode für Folterpraktiken, ausgebildet. Auch dagegen richten sich die Gefangenen mit ihrem jetzigen Hungerstreik. Medienberichten zufolge sind die 15000 politischen Gefangenen in der Türkei weltweit einmalig. Darunter befinden sich auch mehr als 2300 Kinder/Minderjährige.

All das verdeutlicht, dass der Demokratisierungsprozess in der Türkei derzeit rückläufig ist. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht, das Recht auf Organisierung und weitere demokratische Rechte leiden unter staatlicher Gewalt. Trotz dieser Repression wird in- und außerhalb der Gefängnisse Widerstand geleistet. Die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) setzt in den kurdischen Provinzen eine an den Menschen orientierte Politik durch, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen wird.

Abbruch von Friedensverhandlungen
Abdullah Öcalan bemüht sich seit 1998 um eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage, erarbeitete dazu eine Roadmap und initiierte die Verlagerung des Fokus der kurdischen Freiheitsbewegung von militärischen Aktionen auf politische Lösungen. Die Regierungen der Türkei haben seit 1993 den Kontakt mit dem führenden Politiker gesucht und damit seine Schlüsselrolle für eine Lösung des Konfliktes anerkannt. Die Regierung Erdogan hatte zuletzt zweieinhalb Jahre Verhandlungen mit Abdullah Öcalan geführt, brach diesen Prozess aber im Juli 2011 ab. Ergebnis der Gespräche waren unterschriftsreife Protokolle, die u. a. einen Stufenplan für vertrauensbildende Maßnahmen bis hin zu einem beidseitigen Waffenstillstand unter internationaler Aufsicht vorsahen. Die gesamte kurdische Freiheitsbewegung betrachtet Abdullah Öcalan als Vertreter in einem Dialog, die überwiegende Mehrheit der KurdInnen steht hinter ihm. 3,5 Millionen KurdInnen sprachen sich 2006/2007, trotz erheblicher Repression, mit ihrer Unterschrift für Öcalan als ihren politischen Repräsentanten aus.

Die Rolle von Abdullah Öcalan
Eine entscheidende Rolle in einem möglichen Friedensprozess kann Abdullah Öcalan allerdings nicht aus dem Gefängnis heraus mit vollständig unterbundenen Kommunikationsmöglichkeiten ausfüllen. Oft, wie auch derzeit, befindet er sich in völliger Isolation von der Außenwelt. Seine Freilassung ist notwendig, um die militärische Logik des Konflikts zu durchbrechen und den Fokus endgültig auf friedliche Verhandlungen zu legen. Um diese Tatsache zu thematisieren und Solidarität zu zeigen, findet zurzeit eine weltweite Unterschriftenkampagne statt mit dem Ziel, Millionen Unterschriften zu sammeln. Unter anderem Gerry Adams, Präsident von Sinn Féin aus Irland, Dr. Heiner Geißler, ehemaliger Minister aus Deutschland, Leyla Zana, Parlamentsabgeordnete und Sacharow-Preisträgerin aus der Türkei, Luisa Morgantini, ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments aus Italien, Doris Gercke, Schriftstellerin aus Deutschland, Pierre Laurent, Präsident der Partei der Europäischen Linken aus Frankreich, Prof. David Graeber, Anthropologe aus den USA, Prof. Immanuel Wallerstein, Soziologe aus den USA, Prof. Ueli Mäder, Soziologe aus der Schweiz, Nicolas Rea, Peer im House of Lords aus dem UK und Vedat Türkali, Schriftsteller aus der Türkei, haben als ErstunterzeichnerInnen die Forderung: „Ich unterstütze die Forderung nach Freiheit für Abdullah Öcalan und die politischen Gefangenen in der Türkei. Öcalans Freiheit wird einen Durchbruch für die Demokratisierung der Türkei und einen Friedensprozess in Kurdistan darstellen“, unterstützt.

Um auf die Totalisolation Abdullah Öcalans hinzuweisen und eine Demokratisierung der Türkei zu beschleunigen, hatten bereits Anfang 2012 tausende politische Gefangene einen 50-tägigen Hungerstreik in türkischen Gefängnissen durchgeführt. Dieser wurde durch einen ebenfalls 52-tägigen Hungerstreik kurdischer Intellektueller und ExilpolitikerInnen in Strasbourg (u. a. vor dem Europarat) mit der Forderung unterstützt, die EU solle politischen Druck auf die Türkei ausüben, die Menschenrechte einzuhalten und einen Friedensdialog zu ermöglichen. Diesbezügliche Zusagen verantwortlicher PolitikerInnen der EU-Kommission und des Europaparlaments wurden bis heute jedoch nicht eingelöst.

Widerstand der politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen
Die Geschichte des Widerstands der politischen Gefangenen in der Türkei und Kurdistan hat eine lange Tradition. Seit dem Militärputsch 1980 kam es immer wieder zu Aufständen und Hungerstreiks gegen unerträgliche Haftbedingungen und Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Wärter. Dutzende Gefangene starben durch Todesfasten, Polizeiübergriffe oder Brände.

Einige Beispiele:

  • Im Jahr 1981 begannen 14 Gefangene der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) im Gefängnis von Diyarbakir (kurd. Amed) den ersten Hungerstreik nach dem Militärputsch. Sie protestierten damit gegen die unmenschlichen Haftbedingungen sowie systematische Folter durch Polizei und Wärter. Kemal Pir, ein Mitbegründer der PKK, sagte 1982 während eines Hungerstreiks gegen die Folter: „Wir lieben das Leben so sehr, dass wir bereit sind, dafür zu sterben.“ Er starb am 4. Oktober 1982, dem 56. Tag des Hungerstreiks, Hayri Durmus nur wenige Tage später. Auch Ali Çiçek und Akif Yilmaz verloren ihr Leben. Diese Form des Widerstands machte die Situation im Gefängnis von Diyarbakir (Amed) weltweit bekannt.
  • Die Repression gegen politische Gefangene ist in der Türkei immer besonders stark. Am 4. Januar 1996 wurden im Ümraniye-Gefängnis in Istanbul vier politische Gefangene durch Gefängniswärter ermordet.
  • Das von Juristen, Menschenrechtsorganisationen und MedizinerInnen als „Massensarg“ bezeichnete F-Typ-Gefängnis von Eskisehir wurde im Jahre 1996 „eröffnet“. Als die Regierung beabsichtigte, hunderte politische Gefangene dorthin zu verlegen, antworteten diese mit einem Aufstand. Sie befürchteten zu Recht, dass sie u. a. der Isolation und der Willkür und Gewalt von Polizei und Wachpersonal in weit höherem Maße ausgesetzt sein würden. 12 Gefangene starben in den anschließenden Hungerstreiks, viele wurden zu Invaliden.
  • 1996 wurden auch zehn Gefangene der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) im Gefängnis von Diyarbakir (Amed) durch Einsatzkommandos auf bestialische Art ermordet und massakriert.
  • Am 26. September 1999 kam es im Ulucanlar-Gefängnis Ankara, nachdem ihm tags zuvor der damalige türkische Innenminister Mehmet Agar (zurzeit selbst im Gefängnis wegen Putschversuchsvorwürfen) einen Besuch abgestattet hatte, zu einem Massaker. Dabei wurden mehr als 50 politische Gefangene gefoltert und anschließend 10 von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und hingerichtet bzw. zu Tode gefoltert.
  • Am 20. Oktober 1999 traten ca. 1000 Gefangene in 18 Gefängnissen in einen unbefristeten Hungerstreik. Sie protestierten damit gegen die Isolationshaft in F-Typ-Gefängnissen und für die Einhaltung der Menschenrechte. Am Dienstag, den 19. Dezember 1999, griffen um 4 Uhr morgens Polizei und Militär in 20 Gefängnissen gleichzeitig die Häftlinge an und beendeten den Hungerstreik blutig. Bei der Aktion der „Sicherheitskräfte“ wurden mehrere Gefangene ermordet. Der Hungerstreik kostete mehr als 100 Menschen das Leben. Dutzende Gefangene wurden durch die Folgen dieser Form des Widerstands zu Invaliden.

Ein Hungerstreik ist für politische Gefangene oft das letzte Mittel, um gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen und Willkür zu protestieren, da ihre Forderungen ansonsten nicht angehört werden – und ihre Situation ignoriert wird.

Gegen die menschenverachtende Politik, die den Menschen keinen anderen Ausweg lässt, als durch den Einsatz ihres Lebens Widerstand zu leisten, muss schleunigst vorgegangen werden. Eine ähnliche Situation ergab sich schon während des Hungerstreiks palästinensischer Gefangener im Frühjahr dieses Jahres. Wenn die deutsche Öffentlichkeit erneut ein entsprechendes Einfühlungsvermögen wie damals aufbringt, dann könnte die türkische Regierung unter Druck gesetzt und somit das Leben hunderter Menschen gerettet werden. Obwohl die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit der hungerstreikenden Gefängnisinsassen trägt, hüllt sie sich weiterhin in Schweigen. Während hunderte Menschen von Tag zu Tag dem Tode näher rücken, blockiert die türkische Regierung weiterhin sämtliche Bemühungen der kurdischen Seite um eine Lösung.

23.10.2012

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

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