Ilısu-Staudamm wieder in der Öffentlichkeit und Kritik – aber die Zerstörung geht weiter

Ercan Ayboga, Initiative zur Rettung von Hasankeyf, 23.11.2017

Die Diskussion über das Ilısu-Staudamm- und Wasserkraftwerksprojekt am Dicle (Tigris) in Nordkurdistan und die Kritik daran haben im Sommer 2017 wieder erheblich zugenommen. Jahrelang war es in der breiten Öffentlichkeit relativ still gewesen, selten kamen Nachrichten über das Ilısu-Projekt und den von der Flutung bedrohten antiken Ort Heskîf (Hasankeyf) in den Mainstream- oder größeren türkischen oder internationalen Medien. Nur kurdische und einige linke Medien waren regelmäßiger interessiert, wie es mit einem der weltweit kon troversesten Talsperrenprojekte aussieht.

Ein Schritt zurück …

Das Ilısu-Projekt wurde 1997 von der türkischen Regierung in Angriff genommen, fast genauso alt sind die Kampagnen gegen dieses zerstörerische Projekt. Es würde nur der Regierung in Ankara, einigen Großunternehmen wie Cengiz und der österreichischen Andritz und einigen GroßgrundbesitzerInnen nutzen. Die Bevölkerung vor Ort würde die Kosten tragen, denn sozial, kulturell und ökologisch wäre es – im wahrsten Sinne des Wortes – eine Katastrophe. Auch deshalb hat sich Widerstand dagegen formiert. Er äußert sich seit 2006 in der »Initiative zur Rettung von Hasankeyf« (HYG). Im Zentrum der Diskussion steht Heskîf, seit 12.000 Jahren ununterbrochen besiedelt und ein wichtiges Element und Identität der lokalen Bevölkerung. Doch es würde mehr verloren gehen: Das Dicle-Tal auf 136 km Länge plus 260 km Nebenflussstrecken mit 199 Dörfern würden durch den künstlichen Stausee ganz oder teilweise unter Wasser gesetzt werden.

Um den sich anbahnenden Verlust anders auszudrücken: Ein Herzstück Obermesopotamiens würde zerstört werden, wenn das Ilısu-Projekt nicht gestoppt wird. Der Bevölkerung ist es noch nicht zur Gänze bewusst, was verloren gehen würde. Wir behaupten, dass es sogar zu einem gesellschaftlichen Trauma führen würde. Denn das Dicle-Tal verleiht der Gesellschaft eine besondere Vielfalt und Tiefe.

Jahrelang ging der oppositionelle Teil der Gesellschaft dieser sich nähernden Zerstörung aus dem Weg, sie wurde verdrängt. Als nach erfolgreichen Kampagnen die internationale Finanzierung 2009 zum zweiten Mal gestoppt wurde, nahm die türkische Regierung die finanziellen Risiken auf sich und ließ 2010 den Bau durch das Ilısu-Konsortium starten. Dem konnten weder die AktivistInnen noch andere Organisationen Nordkurdistans ernsthaft etwas entgegensetzen. Auch wenn es unheimlich schwierig ist, größere Investitionsprojekte der AKP-Regierung endgültig zu Fall zu bringen – siehe Gezi-Park, Bergbauprojekt Cerattepe, andere Großprojekte in Istanbul – wäre es doch möglich gewesen, eine starke Kampagne zu initiieren. Die sich ab 2012 im Irak gegen das Ilısu-Projekt formierende »Save the Tigris and Iraqi Marshes«-Kampagne war zwar in jenen Jahren etwas Positives, auch weil sie mit der HYG zusammenarbeitet, doch konnte sie die irakische Regierung nicht ausreichend unter Druck setzen, damit diese international gegen Ilısu vorgeht. Zu beachten ist, dass das Ilısu-Projekt eine große Gefahr für die Trinkwasserversorgung und die Landwirtschaft des Irak darstellt.

Erst 2015 zeichnete sich ein Erstarken der Kampagne gegen das Ilısu-Projekt ab. Doch wurde dieser Umstand durch den wieder losgetretenen Krieg der AKP-Regierung im Sommer 2015 und den Ausnahmezustand ab Juli 2016 erheblich eingeschränkt.

Wie gelangten Ilısu und Heskîf wieder in die Medien?

Als die HYG am 14.08.2017 mit einer Presseerklärung bekannt gab, dass Felsstücke des Burgfelsens mit Sprengstoff zerstört werden, und dazu auch ein Video veröffentlichte, wurde das in wenigen Stunden in der ganzen Türkei verbreitet. Diese Bilder führten in sozialen Medien zu heftiger Kritik und viele Zivilorganisationen äußerten sich gegen das Ilısu-Projekt. Etliche linksliberale und einige Mainstream-Medien berichteten darüber. In den folgenden Tagen erschienen Artikel auch in mehreren international bekannten Medien.

Aufgrund der großen öffentlichen Kritik erklärte die für das Ilısu-Projekt verantwortliche Staatliche Wasseragentur (DSI), angeblich sei kein Sprengstoff eingesetzt worden und Ziel sei es, ZivilistInnen vor fallenden Steinen zu schützen. Dass dies eine Lüge war, bestätigte die lokale Bevölkerung in ihren Stellungnahmen gegenüber den Medien. Sie gaben auch an, dass die Explosionen Angst unter der Bevölkerung – insbesondere bei den Kindern – in Heskîf verbreitet hätten.

Das eigentliche Ziel dieser Zerstörungen ist vielschichtig: Die Menschen in Heskîf sollen weiter verdrängt, der Tourismus ganz zum Erliegen gebracht und genug Schutt für den geplanten antiken Hafen am Burgfelsen geschaffen werden – dieser ist für die Zeit nach dem Aufstau geplant. Es ist für Staat und Unternehmen viel günstiger, diese Felsen als Baumaterial zu nehmen, als etwas herantransportieren zu lassen. Auch sollen etwa 200 menschengemachte Höhlen – mit 5.500 gibt es in Heskîf doppelt so viele wie in Kappadokien – um den Burgfelsen herum zubetoniert werden. Die Felsen bestehen aus Kalk und könnten nach dem Aufstau sehr schnell ausgewaschen werden. Die Zerstörung Tausender Jahre Menschheitsgeschichte wird so für den Gewinn einiger Unternehmen in Kauf genommen.

Ein weiterer Skandal in diesem Zusammenhang ist, dass eine zweite erforderliche offizielle Genehmigung des regionalen Rats zur Erhaltung von Kulturgütern erst nach Beginn der Zerstörung der Felsen erteilt wurde. Somit waren einige der Sprengungen illegal. Im September, nach den Zerstörungen, begannen Bauunternehmen mit den Trümmern der Sprengungen zu arbeiten.

Die Zerstörung der Felsen ist eine neue Stufe in der »physischen Intervention« in Heskîf. Der irreparable Schaden hat schon im Herbst 2014 begonnen, als begonnen wurde, die drei Pfeiler der mindestens tausend Jahre alten historischen Brücke über den Dicle mit neuen Steinen zu verkleiden. Diese Abdeckung mit wasserdichten Natursteinen in einer ähnlichen Farbe wird offiziell als Konservierungsmaßnahme beschrieben. Wenn die Pfeiler unter Wasser lägen, sollten sie so geschützt werden, bis der Stausee nach etwa siebzig Jahren wieder verschwunden sei. Tatsächlich ist es eine irreparable Degradation, da die neuen Steine auf die alten aufgesetzt bzw. geklebt werden und nicht wieder zu entfernen sind. Wie auch immer, hätte es dagegen umgehend Proteste gegeben, wären die folgenden Zerstörungen schwerer zu realisieren gewesen. Damals war die politische Repression deutlich geringer als jetzt.

Das Kulturerbe von Heskîf verdankt seine herausragende Einzigartigkeit der Kombination mit dem umliegenden Dicle-Tal und der natürlichen Umgebung. Seit Jahren behauptet die türkische Regierung, dass mit der Schaffung des an den neuen Siedlungsort Neu-Hasankeyf angrenzenden Kulturparks das kulturelle Erbe Heskîfs gerettet werden würde. Denn ohne die Finanzierung durch das Ilısu-Projekt gebe es keine Gelder und Heskîf würde zerfallen, da es auch die lokale Bevölkerung nicht schützen könne. Propaganda pur, und die eigene Verantwortung wird verschleiert.

Die Versetzung von Monumenten ist aus zwei Gründen abzulehnen: Die Denkmäler verlieren an einem zusammenhangslosen Ort weitgehend ihre Bedeutung und die Gefahr ihrer Zerstörung bzw. Beschädigung ist aufgrund ihres Alters und ihrer Bausubstanz zu groß.

Der zweite Schritt in der Zerstörung des Kulturerbes von Heskîf war im Mai 2017 die Versetzung des Zeynel-Bey-Mausoleums in den Kulturpark bei Neu-Hasankeyf. Der DSI zufolge sollen insgesamt neun Monumente versetzt werden. Die Vorbereitungen für die Umsetzung des Zeynel-Bey-Monuments begannen 2015 und wurden geheim gehalten. Die Auftragsvergabe erfolgte nach drei gescheiterten Ausschreibungen unter unbekannten und höchstwahrscheinlich illegalen Umständen. Mit dem Know-how der niederländischen Firma Bresser Eurasia konnte das türkische Unternehmen Er-Bu Inşaat diese äußerst riskante Versetzung durchführen. Berichten von AnwohnerInnen zufolge sind durch die Aktion Risse in der Kuppel des 550 Jahre alten und ohnehin nicht stabilen Mausoleums entstanden.

Am 28.06.2017 organisierten mehrere niederländische NGOs und die HYG einen Protest gegen Bresser an deren Hauptsitz bei Rotterdam. Es wurde auf deren kritische Rolle hingewiesen, ohne ihre Beteiligung hätte Er-Bu Inşaat niemals das Zeynel-Bey-Grabmal versetzen können.

Die Umsetzung der weiteren acht Monumente kann jederzeit beginnen. Genaueres ist jedoch nicht zu erfahren, da die DSI keine Informationen herausgibt.

Zwangsenteignungen und Umsiedlung

Während der Bau des Ilısu-Projekts offiziell 1,2 Milliarden Euro kostet, werden für die Umsiedlung (Zwangsenteignung, Ansiedlung, Aufbau von Infrastruktur usw.) circa 800 Millionen Euro veranschlagt. Neben den Dörfern Ilısu und Heskîf ist keine weitere Umsiedlung geplant. Alle anderen Betroffenen sollen Geld erhalten und ihren neuen Wohnort selbst wählen. Es gibt 2017 immer noch einige Hundert Haushalte, die nicht die vorgeschlagene Entschädigungssumme akzeptiert haben und vor Gericht gegangen sind. Insbesondere in Heskîf und dem Dorf Şikeftan (Suçeken), über das im Sommer 2017 der Film »Tigris-Rebellen« in den Kinos erschien. Trotz mehrerer Proteste von EinwohnerInnen Heskîfs gegen den Umsiedlungsprozess werden sie sich verschulden. Die Preise für die neuen Apartments sind zwei bis drei Mal höher als die für ihre aktuellen Eigenheime. Ein weiteres Problem ist, dass die DSI zwei Drittel der Anträge von BewohnerInnen für die neuen Apartments in Neu-Hasankeyf abgelehnt hat. So ist zu erwarten, dass ein Teil der Wohnungen auch an wohlhabendere Menschen aus anderen Städten verkauft werden, was zu sozialen Spannungen führen könnte. Die Kammer der AgraringenieurInnen von Êlih (Batman) erklärte, dass achtzig Prozent der bisher gezahlten Entschädigungen außerhalb Êlihs investiert worden seien, was die seit langem geäußerten Bedenken bestätigte, dass die Menschen weit weg Arbeit und ein neues Leben suchen.

Im September 2017 wurden Bilder von Menschen aus Heskîf veröffentlicht, die zeigen, dass die noch im Bau befindlichen Wohnungen schon jetzt Risse aufweisen und die Bewehrung aus dem Beton herausragt. Die besorgten EinwohnerInnen teilen mit, dass der Grund für die schlechte Bauqualität die hohe Baugeschwindigkeit sei.

Aktueller Stand

Bei der Anti-Ilısu-Kampagne ist zu beachten, dass es der wieder aufgenommene bewaffnete Konflikt in Nordkurdistan der Regierung erlaubt, alle Arten von Protest zu unterdrücken. So konnte seit Frühsommer 2016 keine Demonstration mehr in Heskîf durchgeführt werden. Der Krieg erlaubte es der Regierung auch, den Streik der ArbeiterInnen von der Ilısu-Baustelle, der im Juni 2015 begonnen hatte, Ende 2015 zu unterdrücken. Seitdem kommt die große Mehrheit der ArbeiterInnen aus nichtkurdischen Provinzen. Sie leben auf der Baustelle, wo sie vom Militär geschützt werden.

Die Regierung hat Hunderte zusätzliche »Dorfschützer« angeworben und für die »Sicherheit« der Ilısu-Baustelle gegen die in der Nähe operierende Guerilla bewaffnet. Tausende Soldaten sind um die Baustelle herum stationiert, die in laufende Militäroperationen einbezogen und immer wieder Zielscheibe kleinerer Angriffe werden. Die Militarisierung hat ein so hohes Level erreicht, dass es unmöglich geworden ist, die Baustelle als unabhängigeR JournalistIn oder ForscherIn zu besuchen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden von der Regierung Gebiete in direkter Nähe zu Heskîf zu militärischen Zonen erklärt.

Mit dem Ziel, mögliche Proteste der irakischen Regierung zu unterbinden, haben sich im März 2017 mehrfach türkische Minister mit der irakischen Regierung getroffen. Infolgedessen äußerte sich der irakische Wasserminister positiv, was damit zu erklären ist, dass die Türkei wahrscheinlich nicht einzuhaltende Versprechen gemacht hat. Oder es wurden tatsächliche Zugeständnisse gemacht – wie mehr Wasserabfluss während der Aufstauphase –, welche die Fertigstellung des ganzen Projektes etwas hinausschieben. Leider zeigt die irakische Regierung wieder einmal eine schwache und in historischer Sicht verantwortungslose Haltung gegenüber der Türkei.

Positiv ist eine Petition mehrerer iranischer Zivilorganisationen zu nennen, die im Frühjahr 2017 gestartet wurde. Sie richtet sich an den UN-Generalsekretär und prangert an, dass das Ilısu-Projekt bereits zur Austrocknung der Mesopotamischen Sümpfe im Südirak und dies wiederum zu verstärkten Sandstürmen im Süden des Iran führt.

Mehrfach haben im Jahr 2017 VertreterInnen der DSI und der türkischen Regierung erklärt, dass Neu-Hasankeyf Anfang 2018 fertiggebaut sein und die Flutung des Dicle-Tals Ende 2018 oder Anfang 2019 beginnen würde. So soll das Ilısu-Projekt zu 97 % abgeschlossen sein. Das stimmt nicht, da bisher nur drei von sechs Turbinen des Wasserkraftwerks installiert worden sind – überhaupt ist dieses Kraftwerk von Anfang an ein technischer Problemfall bei dem ganzen Projekt. Außerdem sind in diesem Prozentsatz die ganzen Umsiedlungsmaßnahmen nicht eingerechnet. So sind die neue große Brücke nahe Heskîf (wichtig für den Verkehr der gesamten Region) und etliche neue Umgehungsstraßen noch im Bau. Weiter hält die Zwangsenteignung Hunderter betroffener Haushalte an und Neu-Hasankeyf ist noch nicht fertiggestellt. Seit drei Jahren verkündet die Regierung, achtzig Prozent des Ilısu-Projekts seien fertiggestellt. Zweifellos ist ein baulicher Fortschritt zu verzeichnen, doch wird hier versucht, psychologisch zu vermitteln, dass jeder Widerstand zwecklos sei.

Momentan gibt es nur ein laufendes Verfahren gegen das Ilısu-Projekt und zwar seit 2006 das von vier Personen aus der Westtürkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Erst 2015 wurde der Fall als dringend eingestuft. Bisher ist jedoch keine Entscheidung getroffen worden, was erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit des EGMR aufwirft.

Zurzeit werden bei der HYG weitere Verfahren vor türkischen Gerichten diskutiert. Auch wenn die Rechtsstaatlichkeit im Staate Türkei kaum noch gewährleistet ist, soll jede Möglichkeit ausgenutzt werden.

Website: www.hasankeyfgirisimi.net, E-Mail: hasankeyfgirisimi@gmail.com, Facebook: hasankeyfyasatmagirisimi


Der Text erschien zuerst im Kurdistan Report 194 | November/Dezember 2017.