Internationale Solidarität neu durchdenken

Meral Çiçek, Journalistin und Vorsitzende des Kurdish Women’s Relations Office (REPAK), über die Grenzenlosigkeit des Frauenbefreiungskampfes, 27.10.2018

Vor einigen Tagen fand auf der indonesischen Insel Bali die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank statt. Während Regierungs- und Unternehmensvertreter auf der touristischen Insel Indonesiens zusammenkamen, suchten die Menschen auf der indonesischen Insel Sulawesi nach dem Erdbeben noch immer nach Leichen unter den Trümmern.

Die diesjährige Tagung des IWF und der Weltbank fand unter dem Motto „Maximierung von Entwicklungsfinanzierung“ statt. Unter Entwicklung ist natürlich nicht die Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zu verstehen. Stattdessen geht es dem globalen Kapital darum, durch transnationale Unternehmen noch stärker von der Unterentwicklung des globalen Südens Profit zu schlagen. Es geht also um die Maximierung der Ausbeutung von Gemeinschaften, indigenen Völkern, ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen, BäuerInnen, der Erde, natürlichen Ressourcen und der Natur.

Während die Hauptakteure des globalen Finanzkapitals also in gut geschützten Sälen nach Wegen suchten die kapitalistische Ausbeutungsordnung zu erweitern, hat die globale Koalition der Völker in peripheren Vierteln innerhalb bescheidenen Räumlichkeiten verschiedene antiimperialistische Bewegungen aus Asien und Lateinamerika zusammengeführt. Die von ihr vom 8. bis 14. Oktober 2018 unter dem Motto „Wir fordern unsere Rechte und Zukunft zurück: Kämpft gegen Unternehmensübernahme von Entwicklung“ organisierte Gegenkonferenz fand unter schwierigen Bedingungen statt. Denn wenige Tage vor der Konferenz hatte die indonesische Regierung interveniert und dafür gesorgt, dass der Mietvertrag für die Räumlichkeiten gekündigt wird. Das gleiche geschah mit den alternativen Räumlichkeiten. Die Protestaktion gegen die IWF-Weltbank-Tagung wurde angegriffen, Protestierende festgenommen. Deshalb musste die Konferenz der globalen Koalition der Völker gut getarnt werden.

Die kurdische Frauenbefreiungsbewegung wurde von der Internationalen Frauenallianz (IWA), der sie angehört, zur Konferenz eingeladen um über Frauenwiderstände gegen den Imperialismus in Kurdistan zu referieren. Die meisten marxistisch-leninistischen oder maoistischen Bewegungen in Asien-Pazifik fokussieren sich auf den Kampf gegen den Imperialismus. Aus diesem Grund ist die Diskussion des Begriffs Imperialismus im Rahmen des Hegemonialismus der kapitalistischen Moderne auf großes Interesse gestoßen. Aber mit dieser Kolumne möchte ich auf einen anderen wichtigen Begriff Bezug nehmen. Hauptslogan der Konferenz, an der Bewegungen aus asiatischen Ländern wie Indonesien, Philippinen, Indien, Sri Lanka, Bangladesch, Kirgisien, Pakistan, aber auch aus Lateinamerika teilgenommen haben, war „Hoch die internationale Solidarität“.

Dieser Kampfspruch ist uns KurdInnen nicht fremd; im Gegenteil, „Hoch die internationale Solidarität“ ist einer der Kampfsprüche, der in Deutschland auf jeder kurdischen Demo gerufen wird. Internationale Solidarität ist der gemeinsame Kampfruf und die wichtigste Waffe der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker gegen die Unterdrückung und Ausbeutung. Sie ist eine der wichtigsten Komponenten der Strategie der sozialistischen Revolution. Denn die internationale Solidarität wird die ArbeiterInnen aller Länder und die unterdrückten Völker zum Sieg über den Imperialismus führen. Das sagt uns vor allem das Paradigma des sozialistischen Kampf im 20. Jahrhundert.

Während in Bali also immer wieder „Hoch die internationale Solidarität!“ gerufen wurde, musste ich über die Aktualität dieses Konzepts nachdenken. Unabhängig vom Fakt, dass Solidarität nicht nur ein Kampfruf ist, sondern Konkretheit bedarf. Ohne die Bedeutung und Notwendigkeit von Solidarität herabzusetzen. Natürlich geht es bei internationaler Solidarität – wenigstens der sozialistischen Überzeugung nach – nicht nur um gegenseitigen oder einseitiges „Helfen“, sondern um gemeinsamen Kampf. Aber ich denke, dass wir entsprechend der Realität unserer Zeit und den sich ändernden Bedingungen auch auf begrifflicher und theoretischer Ebene neue Anstöße benötigen. Und in diesem Zusammenhang sollten wir den Begriff Nation (sowohl in Zusammenhang mit internationaler Solidarität als auch mit Internationalismus) neu behandeln. Beispielsweise müssen wir uns fragen, inwieweit der Begriff Internationalismus ausreicht, um die Grenzenlosigkeit des Frauenbefreiungskampfs zu bezeichnen. Ist es denn möglich den Befreiungskampf der Frau, die ja die erste unterdrückte Nation in der Geschichte darstellt, auf Grundlage einer Identität, die entsprechend von nationalstaatlichen Grenzen konstruiert worden ist, zu bestimmen?

Die Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans schlägt deshalb den Begriff Demokratischer Weltfrauenkonföderalismus vor. Außerdem glaubt sie, dass der von Abdullah Öcalan definierte – und nicht auf Ethnien basierende – Begriff der demokratischen Nation ((Mehr zum Begriff der demokratischen Nation: http://ocalan-books.com/#/book/demokratische-nation))  auch für den Frauenbefreiungskampf zu neuen Ergebnissen führen kann.

Kommen wir zurück zu internationaler Solidarität. Es geht nicht um eine richtig-falsch-Diskussion, sondern darum Wege und Methoden zu finden, die den Kampf aller Individuen und Gemeinschaften, die vom Hegemonialismus der kapitalistischen Moderne auf verschiedene Arten ausgebeutet werden, stärker zusammenzuführen – ohne Unterschiede aufzuheben. Es geht darum, parallel hierzu den begrifflichen und theoretischen Bereich des Kampfes voranzubringen. Theorie und Praxis synchron nach vorne zu tragen.