Journalist und Autor Hasan Cemal zu Besuch in Kandil
Der Autor Hasan Cemal, dessen Wege sich nach seiner Kritik an die türkische Regierung und der darauf folgenden Reaktion des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan von der Zeitung „Milliyet“ getrennt hat, hat sich mit dem Vorsitzenden des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK, Murat Karayilan am 24. März in Kandil getroffen. Karayilan forderte in der Reportage, die in der unabhängigen Internetzeitung T24 veröffentlicht wurde, vom Parlament einen Entschluss für den Rückzug zu fassen. Er forderte zudem: „Wir wollen für unseren Rückzug über die Grenzen einen rechtlichen Rahmen.“
Außerdem betonte Karayilan, dass sie eine Zeit der Überzeugung in den eigenen Reihen bräuchten und es darum nötig sei, dass „die Verbindung zwischen Imrali und Kandil noch offener und noch zügiger arbeiten müsste“.
Karayilan sagte, dass „eine vollständige Beendigung des bewaffneten Kampfes nicht so einfach sei, wie gedacht“, sondern eine „Wegbereinigung“ der Themen KCK-Gefangene, 10%-Wahlhürde, Opfer unbekannter Täter, das Massaker von Roboskî usw. notwendig sei.
Im Folgenden sind einige Auszüge des Interviews von Hasan Cemal, das bei T24 veröffentlicht worden sind:
WAFFENSTILLSTAND UND RÜCKZUG
Wenn der Waffenstillstand nicht auf Gegenseitigkeit beruht, wird er nicht realisiert. Aber ich hoffe, dass der Waffenstillstand auf Gegenseitigkeit beruht. Jeder weiß um dieses Faktum. Um diesen Prozess in die Praxis umzusetzen, sind Schritte der Regierung und des Parlaments notwendig. Wenn sich die türkische Republik positiv annähert, können wir für die Lösung der Probleme in der Türkei die Waffen raushalten.
Aber bei diesem Thema [dem Rückzug] sind wir gezwungen, aus den vergangenen Erfahrungen zu lernen. Wir haben genau acht Mal einen Waffenstillstand ausgerufen. Und 1999 haben wir einen Rückzug durchgeführt … Es waren alles sehr schmerzhafte Erfahrungen. Aus diesem Grund muss der Rückzug ausgereifter sein. Und zum Anfang muss zunächst eine gesetzliche Basis geschaffen werden. Es müssen bewaffnete Kräfte und Menschen vom Schwarzen Meer über Erzurum bis hin nach Dersim zurückgezogen werden. Das ist nicht leicht. Ein Entschluss der Regierung und des Parlaments sind notwendig. Ein solcher Entschluss bedeutet Sicherheit, Sicherheit für unsere Kräfte, damit sie sich ohne Verluste zurückziehen können.
ES IST EIN ENTSCHLUSS DES TÜRKISCHEN PARLAMENTS NOTWENDIG
Es gibt einen zweiten Punkt. Das größte Problem der Türkei der letzen 100 Jahre wird gelöst. Eine solche Lösung auf ungesetzlichem Weg ist unmöglich. Zurzeit ist es ein Lösungsprojekt, welches über Apo durchgeführt wird. Wer verhandelt mit ihm? Der Staatssekretär der MIT … Aber die Justiz ist gegen die beiden Staatssekretäre der MIT, Emre Taner und Hakan Fidan schon wegen der vorhergehenden Gespräche aktiv geworden und hat Untersuchungen eingeleitet. Das bedeutet also, dass ein gesetzlicher Boden sehr wichtig ist. Anders gesagt, ein Entschluss des türkischen Parlaments ist notwendig. Auch bei dem Aufstand von Koçgiri im Jahr 1921 hatte das türkische Parlament einen Entschluss, eine Kommission zusammengesetzt und der Aufstand wurde dadurch beendet. Natürlich sind es heute andere Voraussetzungen, aber es gibt einen seit 30 Jahren dauernden Aufstand und es sind nicht nur die Entschlüsse der Regierung, sondern auch die des Parlaments notwendig. Diese Schritte sind notwendig, wenn wir ernsthaft und aufrichtig sind. Ministerpräsident Erdogan sagte [am 22.März]: „Das Parlament ist nicht notwendig, wir als Regierung machen das.“ Dies ist ein unvollständiger Rahmen. Auch das türkische Parlament kann einen Entschluss fassen. Es kann einen Entschluss dazu fassen, damit die bestehenden Kämpfe eingestellt werden können, die Fragen des friedlichen Dialoges gelöst werden können, wie sich die PKK-Kräfte außerhalb der Grenzen zurückziehen können und eine Kommission diesen Prozess beobachten kann.“
DER ERSTE PUNKT IST DER RECHTLICHE RAHMEN
Lassen wir die eben gesagten Dinge, also die Voraussetzungen mal außer acht. Es sollte wenigstens die Entscheidung des türkischen Parlaments gehört werden … Es gibt noch immer voreingenommene Stimmen gegen den derzeitigen Prozess. Auch wir hatten Vorurteile … Aber wir haben untereinander diskutiert und dazu diesen Weg eingeschlagen. Für eine endgültige Lösung ist es notwendig, sich von den Vorurteilen zu befreien. Es soll bitte seitens der Regierung ein Schritt getan werden. Was wir jetzt für einen Rückzug außerhalb der Grenzen wollen, ist ein gesetzlicher Rahmen. Das ist der erste Schritt.
FÜR EINEN ORDENTLICHEN RÜCKZUG MUSS ÖCALAN EINBEZOGEN SEIN
Der Architekt dieses Prozesses ist Apo. Um den Rückzug ordentlich gestalten zu können, muss Apo auf irgendeine Weise mit einbezogen werden. Er hat dazu eine Erklärung abgegeben, aber dies sieht einen umfangreichen Rahmen vor. Es ist schon eine Sache für sich, alle Kräfte zum Rückzug zu bewegen. Aus diesem Grund ist es von großer Wichtigkeit, die Verbindung Imrali-Kandil noch durchlässiger und noch schneller arbeiten zu lassen. Und zur Beobachtung des Rückzugs und zur Lösung eventueller Probleme könnte eine 30-köpfige Delegation von Fachleuten gegründet werden.
Wie schnell wir auch agieren, der Rückzug wird sich unserer Meinung nach bis zum Herbst hinziehen. Es braucht eine organisatorische Vorbereitung. Und danach beginnt Schritt für Schritt die Zeit der Überzeugung.
EINE BEENDIGUNG DES BEWAFFNETEN KAMPFES IST NICHT SO EINFACH
Die Pflicht der Regierung ist nun die Vorbereitung des rechtlichen Bodens. Die Regierung stellt diesen Rückzug als etwas Einfaches dar. Aber dies ist keine so einfache Sache. Die Menschen setzen ihr Leben dafür aufs Spiel, sind auf die Berge gegangen. Es ist wichtig, sie nun vom Rückzug zu überzeugen. Die Beendigung des bewaffneten Kampfes als Ganzes ist nicht so einfach, wie es den Anschein hat.
AUFRUF AN ERDOGAN UND GÜL
In dieser neuen Ära werden die Probleme nunmehr politisch und mit demokratischen Mitteln gelöst. Bevor diese Ära eingeläutet wird, gibt es aber noch einige Punkte, die getan werden müssen. Und dazu ist es notwendig, dass die Parteien nicht oberflächlich, sondern ernsthaft und komplex an die Sache herangehen. Jeder sollte wissen, dass ein 100-jähriges Problem gelöst wird und die Beziehungen zwischen Türken und Kurden eine neue geschichtliche Ära beginnen. Und dies gilt nicht nur für die Kurden in der Türkei, sondern für alle Kurden und es ist sogar für den Mittleren Osten eine wichtige Entwicklung. Diejenigen, die dieses historische Problem lösen, werden zweifellos ihre Namen in großen Buchstaben in die Geschichtsbücher einbringen. Diese Situation ist sowohl für Apo als auch für den türkischen Ministerpräsidenten, Herrn Erdogan, eine sehr wichtige historische Mission. Natürlich werden diejenigen, die die Führung in dieser historischen Sache übernehmen, in die Geschichte eingehen. Ich appelliere vor allem an den Ministerpräsidenten der Republik Türkei, den Staatspräsidenten und die Regierung, diesen Fall auch von dieser Seite zu betrachten, ihre historische Verantwortung zu übernehmen und die notwendigen, mutigen Schritte so schnell wie möglich zu tun.
ES BEDARF AUF JEDEN FALL EINER NEUEN VERFASSUNG
Es bedarf auf jeden Fall einer neuen Verfassung. Der Entwurf einer Verfassung, die eine regelrechte Neugründung vorsieht, die die vollkommene Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage mit einbezieht, ist notwendig. Die Demokratisierung der Türkei bedeutet gleichzeitig den wirklichen Frieden und die gesellschaftliche Versöhnung.
Die kurdische Frage und das demokratische Problem sind miteinander verwoben. Die kurdische Frage zu lösen bedeutet, die Türkei zu demokratisieren. Nicht eine Verleugnung aller ethnischen und religiösen Identitäten, sondern eine demokratische Einigung, die das anerkennt, sehen wir als eine positive Perspektive. Es gibt für uns in der neuen Verfassung drei wichtige Dinge. Die Neudefinition zur Staatsangehörigkeit, die Definition der Identitäten, die Definition der Nation Türkei …
EINE WEGBEREINIGUNG IST WICHTIG FÜR DIE „NORMALISIERUNG“
Das Thema Abschied von den Waffen kann verlängert werden, kann aber auch in kurzer Zeit beendigt werden. In dieser Hinsicht ist die Wegbereinigung sehr wichtig. Beispielsweise sind die KCK-Gefangenen ein Dolch im Lösungsprozess. Erst einmal muss dieser Dolch entfernt werden. Sagt doch der Ministerpräsident Erdogan, legt die Waffen zur Seite und kommt, macht Politik. Schön und gut, aber diejenigen, die Politik machen, sind heute in den Gefängnissen, werden verurteilt und bestraft. Hatten sie doch nichts mit Gewalt zu tun. Dieses Problem muss mit einem Gesetz gelöst werden. Dann die Wahlhürde von 10%, das Anti-Terror-Gesetz, das Parteiengesetz. All diese Dinge müssen zuerst einmal neu geordnet werden. Wenn wir schon von gesellschaftlicher Aussöhnung sprechen, warum reinigen wir nicht auch allen Schmutz weg? Die Morde durch sogenannte unbekannter Täter müssen zum Beispiel gelöst werden. Vergangene Massaker und der Sammelgräber, der Fall Roboskî … In diesem Fall ist der Uludere-Bericht des türkischen Parlaments eine regelrechte Schande. Und wenn eben alle diese Punkte im Rahmen einer „Wegreinigung“ bearbeitet werden, dann ist der Tag des Abschieds von den Waffen im Sinne der Normalisierung des Prozesses sehr nah.
Quelle: T24, 24.03.2013, ISKU