Keine Bestrafung, sondern Kontroll- und Lenkungsmethode

Rechtsanwalt F. Özgür Erol vom Rechtsbüro Asrın über die Isolation auf Imralı, 14.03.2019

Der Versuch, die Isolationshaft auf Imralı als negativen Ausdruck einer Verbotsanordnung zu verstehen, wird dem Gegenstand nicht gerecht. Die Schwäche dieses Versuchs liegt darin, Macht und Politik im Rahmen juristischer Überlegungen erklären zu wollen. Vielversprechender erscheint, den Isolationsbegriff anhand seiner positiven Aspekte zu erklären, also als Kontroll- und Lenkungstechnik. Dies ist zugleich eine Kritik bzw. eine Selbstkritik daran, auf welcher Ebene wir den diesbezüglichen Diskurs bisher geführt haben.

Welches Rechtsverständnis, welche Politik steht hinter der Isolation auf Imralı? Trotz der zahlreichen Misserfolge der Isolation müssen wir uns fragen: Wozu führt sie? Was bringt sie hervor? Welchen Zwecken dient sie?

Die türkischen Gefängnisse sind ein Teil der umfassenden rechtlich-politischen Strukturen des Landes. Während das Gefängnissystem zunächst als etwas erscheinen mag, das sich um Bestrafung (Freiheitsberaubung) und Resozialisierung (damit verbundene Mechanismen) dreht, erinnern dessen Vollstreckungsmaßnahmen doch eher an die praktische Umsetzung rechtlicher Vereinbarungen, die umfassende Zwangsmaßnahmen einschließen. Diese Vereinbarungen beinhalten u. a. Belohnungen, Anreize und Sanktionen, die verhindern sollen, dass Inhaftierte ein gewisses Benehmen oder gewisse Verhaltensweisen an den Tag legen. So werden dem oder der Inhaftierten z. B. mehr Besuchszeiten oder ähnliche Möglichkeiten gewährt, solange er oder sie sich »gut« verhält. Bei unerwünschten Verhaltensweisen können Maßnahmen ergriffen werden, die vom Verwehren bestehender Rechte bis zum dauerhaften Einsperren in der Gefängniszelle reichen.

Ist Imralı Teil eines derartigen Gefängnissystems? Es war gewissermaßen nie Teil eines Systems, das auf den oben erwähnten rechtlichen Vereinbarungen basiert. Die asymmetrischen Eigenschaften, die Teil seiner Struktur sind, machten Imralı von Anfang an zu etwas, das sich außerhalb des Rechts bzw. im Widerspruch zum bestehenden Recht befand. Es ist auf technischer, physischer und rechtlicher Ebene weder ein Teil des Gefängnissystems noch vollständig unabhängig davon.

Imralı war schon immer Ausdruck einer äußerst effektiven, neuen und außergewöhnlichen Machttechnik, die daran krankt, dass sie weder wirklich rechtsstaatlich beschaffen ist noch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit vollkommen ausschließt. Agambens Annahme, »die Frage, ob Geschehnisse im Camp rechtsstaatlich sind oder nicht, ist bedeutungslos«, trifft auch für die Situation auf der Insel Imralı zu. Die Beziehung Imralıs zu Prinzipien des Rechts ist eng mit dem Umstand verbunden, dass es sich bei der Insel um einen Ort handelt, an dem das Recht außer Kraft gesetzt ist.

Die Insel Imralı ist nicht ausschließlich ein Ort, an dem sich ein Gefängnis befindet. Sie steht für ein System, mit dem ein völlig neues Bestrafungsregime umgesetzt wird. Alles auf der Insel ist auf dieses System ausgerichtet. Die Insel wurde zu einem menschenleeren Ort gemacht. Ihre Umgebung wurde zur militärischen Sperrzone erklärt. Metaphorisch gesehen bietet eine Insel die günstigsten geographischen Bedingungen für die Institutionalisierung derart außergewöhnlicher Maßnahmen. Eine Insel ist weder draußen noch drinnen; ihre Besonderheit ist die Abgeschiedenheit. Die seit zwanzig Jahren andauernde physische Isolation stellt einen Teil des Größeren dar. Sie bedeutet den Abbruch jeglicher Beziehungen zur Außenwelt, Isolationspolitik, Tod und ein Leben, das aufs Engste begrenzt ist. In dieser Situation wird die Verbindung zur Gesellschaft unterbunden, doch zum Machtsystem bleibt sie bestehen. Sie ist aufgrund der Intensivität der angewandten Ausnahmegesetzgebung sogar besonders intensiv. Das Leben unter diesen Bedingungen ist zum einen geprägt von einer absoluten Macht, die bis in die letzte Zelle des Menschen zu spüren ist. Zum anderen von einem Schwebezustand an der Schwelle zur völligen Rechtlosigkeit. Alle Personen (inklusive der staatlich Bediensteten), die die Insel betreten, müssen sich diesem System unterordnen. Das Ausnahmeregime toleriert keine Ausnahmen.

Auf Imralı hat das System Herrn Öcalan nicht an einen Ort verfrachtet, bei dem es sich vorrangig um einen »sicheren Ort« handelt. Die eigentliche Absicht dahinter liegt darin, ihn abzusondern, zu etwas »anderem« zu machen, zu vereinzeln, ständig zu beobachten und in gewisser Weise zu zersetzen. Das Imralı-System sollte daher nicht nur auf schwere Bestrafung, Rache und den Zwang zu Gehorsamkeit reduziert werden (obwohl diese Elemente natürlich einen Teil des Ganzen ausmachen). Das eigentliche Ziel des Systems besteht darin, zu trennen, zu brechen und den Gefangenen zu einem gefügigen Werkzeug zu machen.

Genau aus diesem Grund verstehen wir das Isolationssystem auf Imralı nicht als Methode der Bestrafung, sondern als Kontroll- und Lenkungsmethode. Teil dieser Methode ist die Überwachung und Aufnahme aller Treffen mit Familienangehörigen, AnwältInnen oder Delegationen, die offene oder versteckte Dokumentation jeglicher Gespräche zwischen den Gefangenen auf der Insel, die durchgehende Video- und Tonüberwachung der einzelnen Zellen und tagtägliche medizinische Untersuchungen. Diese Maßnahmen sind nicht nur Vorsichts- oder Einschüchterungsmaßnahmen. Es sind vielmehr Techniken, mit deren Hilfe Informationen gesammelt und analysiert werden, um sie zum Zwecke der Lenkung und Beeinflussung in Phasen politischer Auseinandersetzungen zu verwenden. Es geht um eine zweigleisige Funktion, mit der einerseits Informationen vom Gefangenen eingeholt und gleichzeitig Informationen über ihn gesammelt werden sollen. Das Recht, über all diese Informationen zu verfügen und sie zu analysieren, liegt in der Macht derjenigen begründet, die sich damit befassen (und sie scheinen wenig gewillt zu sein, diese Informationen mit anderen zu teilen).

Ein weiterer Aspekt der Lenkungsmethoden ist die Kontrolle über die Möglichkeiten, mit denen sich der Gefangene Informationen beschaffen kann. So war der Zugang zu einem Fernseher auf Imralı fünfzehn Jahre lang verboten (im Unterschied zu allen anderen Gefängnissen des Landes). Lange Zeit wurde nicht zugelassen, dass Herr Öcalan mehr als drei Bücher in seiner Zelle aufbewahrte. Zeitungen wurden nur zur Verfügung gestellt, nachdem sie ausgewählt, zensiert und z. T. länger aufbewahrt worden waren. Es wurde also entschieden, was der Gefangene wissen durfte und was nicht. Nach Treffen mit AnwältInnen wurden Ermittlungen und Verfahren eingeleitet. Herr Öcalan wurde unter Verweis auf einzelne von ihm verwendete Sätze während seiner AnwältInnengespräche mit 200 Tagen Zellenhaft bestraft. Wenn AnwältInnen zu Gesprächen auf Imralı erschienen, wurden keine politischen oder anderweitigen Delegationen zugelassen. Wenn wiederum derartige Delegationen auf Imralı zugelassen wurden, durften AnwältInnen die Insel nicht besuchen. Eine Maßnahme während der ersten fünfzehn Jahre Haft auf Imralı ist das perfekte Symbol für all das: Ein Radio, das Herrn Öcalan in seiner Zelle zur Verfügung gestellt wurde, war auf den offiziellen staatlichen Radiosender eingestellt und der Knopf zur Kanalwahl demontiert. Die Beschränkungspolitik wurde auf Imralı stets mit äußerster Sorgfalt aufrechterhalten.

Imralı ist eine Rechtsinstitution, die als Prototyp für die tatsächlichen Macht- und Kontrollmethoden dient

Es ist unmöglich, Imralı als ein System zu verstehen, das nur von oben angeordnet und zuvor vollständig geplant wurde. Ohne Zweifel wurden viele Details bereits zu Beginn von Herrn Öcalans Haft so geregelt, dass gewisse Ziele umgesetzt werden konnten. Doch mit der Zeit wurde Imralı zu einer Lenkungstechnik, die sich aus sich selbst heraus weiterentwickelte, erweiterte und auf weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgeweitet wurde.

Auch wenn wir Imralı als Teil eines Rechtssystems verstehen, kommen wir doch nicht umhin, Folgendes festzustellen: Imralı ist eine Rechtsinstitution, die als Prototyp für die tatsächlichen Macht- und Kontrollmethoden in der Türkei dient. Die durchgängige Existenz Imralıs als ein Ausnahmezustandsregime über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hat ermöglicht, dass der Ausnahmezustand bzw. die Ausnahme in ganz andere Bereiche ausgebreitet werden konnte. Imralı stellt den Kern bzw. die Basis dieser Entwicklung dar.

Erstmals wurde der demokratische Anstrich des bestehenden Rechtssystems auf Imralı preisgegeben: Die formale Gleichberechtigung und die juristische Objektivität spielten hier keine Rolle mehr.

  1. Zur formalen Gleichberechtigung: Die formale Gleichberechtigung vor dem Gesetz wird dadurch gewährleistet, dass die Rechtsprechung blind gegenüber dem Rechtsobjekt, also gleich gegenüber jeglicher Person angewendet werden kann. Doch in den letzten 25 Jahren haben wir in der Türkei erlebt, wie auf Imralı die Rechtsprechung auf eine einzelne Person zugeschnitten wurde. Es wurden Ausnahmeregelungen zu bestehenden Gesetzen hinzugefügt, an die man sich als »Öcalan-Gesetze« erinnern wird. Diese Ausnahmeregelungen wurden ununterbrochen und ausschließlich auf der Gefängnisinsel Imralı angewandt. Ein Beispiel für diese Regelung ist das Recht des Mandanten auf das Zustandekommen geheimer Gespräche mit seinen AnwältInnen. Die Ausnahme auf Imralı besagt allerdings, dass bei den Besuchen stets ein staatlicher Verantwortlicher zugegen ist und die Gespräche aufgezeichnet werden. Diese Regelung wurde in der Türkei als Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erlassen, das eine ungerechte Behandlung des Inhaftierten Öcalan bemängelt hatte. Mit der Verschärfung der Gesetzgebung zu lebenslangen Haftstrafen im Jahre 2005 veränderte sich der Status hunderter zum Tode verurteilter Häftlinge in der Türkei über Nacht. Sie wurden aus ihren bisherigen Zellen in Ein-Personen-Zellen verlegt. Dahinter stand die Absicht, die Praxis auf Imralı zu legitimieren und auf die anderen Gefängnisse des Landes auszuweiten. Die Maschinerie, die sich ständig mit dem Schaffen neuer Ausnahmen beschäftigte, wurde derart verfeinert, dass jede Gesetzesänderung im Land daraufhin überprüft wurde, welche Auswirkungen sie auf das Imralı-System haben könnte. Jedes Mal wurde das System aufs Neue daraufhin überprüft, ob es seiner Ausschlussfunktion weiterhin gerecht wird. Dieser Ausschluss entwickelte sich zu einer Kultur, die zur Aufrechterhaltung des gesamten Systems nötig war. Ein besonders einprägsames Beispiel ist die Amnestie für SchülerInnen bzw. StudentInnen aus dem Jahr 2011. Der Staat war penibel darauf bedacht auszuschließen, dass Öcalan von der Amnestie profitieren könnte. Die Amnestie für politisch begründete Vergehen wurde daher von vornherein ausgeschlossen. Diese Praxis wurde zunächst noch als Ausnahmeregelung verkauft, entwickelte sich im Laufe der Zeit jedoch zu einer Amnestiegesetzgebung für SchülerInnen bzw. StudentInnen, von der jegliche politische Vergehen ausgeschlossen wurden. All die Sonderregelungen, die im Laufe der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre auf Imralı gegen eine Person angewandt wurden, haben sich im Zuge des Ausnahmezustandes, der vor ca. zwei Jahren ausgerufen wurde, zu allgemeinem Recht entwickelt: spezifische rechtliche Vorkehrungen für einzelne Individuen oder gesellschaftliche Gruppen.
  2. Rechtlichkeit/Objektivität: Seit 2005 fanden alle Treffen auf Imralı unter der Aufsicht eines staatlichen Vertreters statt und wurden aufgenommen. Die Dokumentation der Gesprächsinhalte wurde ohne eine entsprechende rechtliche Grundlage praktiziert, dafür mit der sehr weitreichenden Auslegung folgender gesetzlicher Regelung begründet: »Die Unterlagen als verdächtig zu betrachtender Anwälte können beschlagnahmt werden.« Die Ausweitung gesetzlicher Ausnahmen durch Neuauslegung bestehenden Rechts ist eigentlich nicht vorgesehen. Wenn überhaupt, können Freiheitsrechte auf diesem Weg erweitert werden. Doch wieder maß niemand dieser Entwicklung wirklich Bedeutung bei. Ab Juli 2011 wurden keine AnwältInnen mehr nach Imralı gelassen. Die Insel war für sie damit komplett verschlossen. Auch diese Maßnahme fußte auf keinerlei gesetzlicher Grundlage oder richterlichem Beschluss. Sie war schlichtweg die Entscheidung eines beliebigen Verantwortlichen einer Behörde. Auf behördliche Weisung wurden damit die AnwältInnenbesuche in einem Gefängnis unterbunden. Die Praxis, statt Gesetzen behördliche Entscheidungen zur Grundlage zu nehmen, wurde schnell zur weit verbreiteten administrativen Praxis. Es reicht, sich die in Dutzenden Landkreisen erlassenen Ausgangssperren der Jahre 2015 und 2016 in Erinnerung zu rufen. Dabei handelte es sich um die inoffizielle Verhängung des Ausnahmezustandes, ohne dies jedoch beim Namen zu nennen. Wie genau aber erfolgte dies damals? Auf welcher rechtlichen Grundlage beruhten die damaligen Maßnahmen? Durch die weitreichende Auslegung des Paragraphen 11/C2 (((Artikel 11/C) Die Aufgaben und Pflichten des Gouverneurs der Provinz sind der Frieden und die Sicherheit der Person, die Immunität der Person, die Sicherheit des Lebens, die Bereitstellung des öffentlichen Wohls und die Autorität der Regierungsbehörde. Um dies zu erreichen, trifft der Gouverneur die notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen. Die Bestimmungen des Artikels 66 gelten für diejenigen, die den diesbezüglichen Entscheidungen und Maßnahmen nicht nachkommen.)) des Provinzverwaltungsgesetzes verhängte der Provinzgouverneur mithilfe einer behördlichen Weisung die Ausgangssperre in zahlreichen Städten, die dadurch von der Außenwelt isoliert wurden. Praktisch alle in der Verfassung verankerten Rechte von Millionen Menschen wurden durch eine einzige behördliche Entscheidung aufgehoben.

Genau von dieser Lenkungs- und Leitungstechnik spreche ich. Und genau das meine ich, wenn ich von der Ausweitung von auf Imralı eingeführten Taktiken und Techniken auf die gesamte Gesellschaft spreche. Der juristische Diskurs bietet zweifellos den Rahmen für einen sicheren und äußerst legitimen Diskurs. Doch wenn wir uns ausschließlich auf diese Art des Diskurses beschränken, werden wir in gewisser Weise zu Opfern eines oberflächlichen und negativen Diskurses. Uns gegenüber steht ein Machtsystem, das jegliches rechtliche Selbstverständnis aufgegeben und sich dessen vollständiger Zerschlagung verschrieben hat. Ich vertrete die Ansicht, dass sich das Zentrum dieser Abkehr zumindest im Verlauf der vergangenen 25 Jahre auf Imralı entwickelt hat. Wir sprechen über eine hegemoniale Form, die im Notfall das Recht aufs Abstellgleis schiebt, und einen Machtapparat, der mit außerordentlicher Autorität ausgestattet am Laufen gehalten wird. Diese Autorität kennt das Prinzip der Gewaltenteilung nicht und befindet sich unter Kontrolle der Bürokratie, sie hat sogar die Macht des Rechts übernommen.

Räume, die nicht an den Diskurs um weltweit gültige Menschenrechte gebunden sind

Wir können die Strukturen auf Imralı als einen Paradigmenwechsel im Strafrecht verstehen. Worin genau besteht dieser Wechsel? Es geht darum, Räume zu schaffen, die nicht an den Diskurs um weltweit gültige Menschenrechte gebunden sind. Dieser Diskurs diente seit dem Zweiten Weltkrieg dazu, der staatlichen Gewaltanwendung Grenzen aufzuzeigen. Ein weiteres Beispiel für diese Art neu geschaffener Räume ist Guantánamo. Im Rahmen des im Januar 2002 durch die USA ausgerufenen »Krieges gegen den Terror« wurden weltweit Personen festgenommen, denen man die Mitgliedschaft in dschihadistischen Organisationen wie al-Qaida oder bei den Taliban vorwarf. Sie wurden in das US-amerikanische Militärcamp Delta verfrachtet, also ein kleines Stück Land auf Kuba, das seit einhundert Jahren gemietet – oder doch wohl eher besetzt – ist. Den Medien wurden Aufnahmen zugespielt, die Gefangene in dem Camp mit orangener Häftlingskleidung, Fußfesseln, Handschellen, verbundenen Augen und auf dem Boden kauernd zeigten. Die USA weigerten sich, diese Häftlinge als Kriegsgefangene zu akzeptieren. Zugleich wurde argumentiert, da sich die Gefangenen nicht auf US-amerikanischem Territorium befänden, könnten sie nicht von grundlegenden Menschenrechten Gebrauch machen, wie dies bei US-BürgerInnen der Fall wäre. Ihre Inhaftierung war nicht aufgrund eines richterlichen Beschlusses erfolgt, sondern durch die Entscheidung des US-Präsidenten, sie als »Terroristen« einzustufen. Sie hatten kein Recht auf ein faires Verfahren, keinerlei Kontakt zu AnwältInnen oder Familienangehörigen und waren verschiedensten Methoden der Folter ausgesetzt. All diese Maßnahmen stellten eine deutliche Abkehr von all jenen grundlegenden Rechten dar, die noch während des 20. Jahrhunderts als unantastbar gegolten hatten.

Im März 2002 brachte John Yoo, Staatssekretär im US-Justizministerium, auf den Punkt, wozu Guantánamo dienen sollte: »Der Regierung geht es darum, ein neues Rechtsregime zu schaffen.« ((Siehe Philippe Sands: Hukuksuz Dünya, Verlag Alfa, Übers. B. F. Çallı, İstanbul April 2016, S. 242–243.)) Im Falle des britischen Staatsbürgers Ferroz Abbasi urteilte ein englisches Berufungsgericht, der Gefangene werde auf Grundlage »rechtlicher schwarzer Löcher« willkürlich gefangen gehalten. ((Ebd. S. 261.))

Von da an wurde Guantánamo regelmäßig als »rechtliches schwarzes Loch« bezeichnet. In Bezug auf unsere zu Beginn gemachte Feststellung können wir also festhalten, dass es bei dem, was wir als Paradigmenwechsel oder neues Rechtsregime bezeichnen, genau um diese Schaffung rechtlicher schwarzer Löcher geht. PräsidentInnen und PolitikerInnen wechseln, die Tage und Jahreszeiten vergehen, Leben und Generationen enden; doch die rechtlichen schwarzen Löcher bleiben bestehen. Und ein schwarzes Loch neigt immer dazu, sich auszubreiten. Mal ist es ein Gefängnis, mal ein Sammellager, eine Region oder eine Stadt, mal wiederum ein ganzes Land, das in ein großes rechtliches schwarzes Loch verwandelt werden kann.

Genau aus diesem Grund finden der moderne juristische Diskurs und Justizapparat keine wirksamen Antworten auf die Fragen, die Guantánamo und Imralı aufwerfen. Die Menschenrechte sollen den menschlichen Körper vor Peinigung und Qual schützen. Doch im Falle der ständigen Überwachung und Dokumentation von GefängnisinsassInnen, des Vorenthaltens ihnen zustehender Informationen, der umfangreichen Kontroll- und Lenkungstechniken bleibt der juristische Diskurs eine Antwort schuldig und lässt sich sogar zu einem Mitwisser bzw. einem Anhängsel des Systems machen.

Professionalisierung des Imralı-Systems

Da wären z. B. das CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter) und der von dieser Institution im März 2018 veröffentlichte Bericht. ((https://www.coe.int/en/web/cpt/-/council-of-europe-anti-torture-committee-publishes-report-on-imral-prison-turkey-)) Auch wenn dieser Bericht sehr akademisch, diplomatisch und juristisch daherkommt, leidet er doch an etwas Grundlegendem: Armut an moralisch-ethischen Werten und einem dementsprechenden Geist. Anstatt das Bestehende zu hinterfragen, beteiligt sich das CPT mit diesem Bericht an dem Versuch, das System auf Imralı zu professionalisieren. Sehen wir uns einmal die rationellen und rechtlichen Vorschläge in dem Bericht an. In dem Bericht wird der türkischen Regierung bedeutet, man könne nicht vom CPT erwarten, dass Vorwänden wie »Wetterbedingungen« oder »Schäden an der Fähre« für die Verweigerung von Besuchen auf Imralı Glauben geschenkt werde. Zudem wird ergänzt: »Für die Einschränkungen, die im Jahr 2013 umgesetzt wurden, gab es keinerlei Grundlagen im türkischen Recht.« Es wird also klar benannt, dass rechtswidrig vorgegangen wurde. In dem Bericht finden sich Vorschläge: »Insofern der Anwalt als Überbringer von Weisungen fungiert, kann in besonderen Fällen dafür gesorgt werden, dass stattdessen ein unabhängiger Anwalt Zugang erhält.« Statt also zu kritisieren, dass die Behörden ein Grundrecht einschränken, wird in dem Bericht vorgeschlagen, rationeller vorzugehen, den Anschein zu wahren und eineN »unabhängigeN AnwältIn« zuzulassen. EinE »unabhängigeR« AnwältIn!

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), also eine weitere Institution des Europarates, verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Nachdem im Juli 2011 jegliche AnwältInnenbesuche auf Imralı verboten worden waren, wandten sich die Rechtsbeistände Öcalans im Oktober desselben Jahres an den EGMR. Ihre wichtigste Forderung war der Zugang zur ihrem Mandanten. Doch die Isolation und die Verweigerung der AnwältInnenbesuche dauern seither an. Nicht nur, dass der EGMR in diesem Fall keine Entscheidung getroffen hat, in den letzten sieben Jahren wurde noch nicht einmal bewerkstelligt, den Antrag der AnwältInnen der türkischen Regierung zukommen zu lassen und von ihr eine Stellungnahme einzufordern, so wie es die normale Prozedur eigentlich verlangt. Doch über die seit 2010 bestehende Haltung(-losigkeit) des EGMR im Roboskî-Verfahren, dem Verfahren wegen der Ausgangssperren und dem Imralı-Verfahren ließe sich ein eigener Artikel verfassen, weswegen ich es an dieser Stelle dabei belassen möchte.

Ein außergewöhnlicher Zustand wird institutionalisiert

»Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie« (Carl Schmitt, Politische Theologie). ((Carl Schmitt: Siyasal İlahiyat (Politische Theologie), Verlag Emre Zeybekoğlu – Dost Kitabevi, 2016, S. 42.)) Bessere Worte hätte man dafür nicht finden können! Selbst wenn alles Gesagte in Vergessenheit gerät, sind es die Wunder, die in der Erinnerung der Gesellschaft weiterleben. Wunder basieren auf einer Kraft, die die Natur und die Gesellschaft transzendiert. Es wird ein neuer Herrschaftszustand hervorgebracht, indem ein außergewöhnlicher Zustand institutionalisiert wird, der sich ständig wiederholt. Es sind diese rechtlich-politischen Methoden und Lenkungstechniken, die Imralı zu einem Machtzentrum machen.

Auf Imralı wird dieser Herrschaftszustand einer umfassenden Analyse unterzogen, auf deren Grundlage Imralı zu einem Ort des Widerstandes gemacht wird. Imralı wurde in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem außergewöhnlichen Beispiel für widerständige Praxis gegen ein Machtsystem, das auf die Kontrolle jeglichen Verhaltens abzielt und sich selbst jeglicher Kontrolle entzieht; eine Praxis, die jegliche Berechenbarkeit vermissen lässt und dadurch unkontrollierbar wird. Dieser Aspekt wäre Thema für eine extra Analyse.

Aus diesem Grund reicht es nicht aus, dass wir nur die Einrichtung auf Imralı und ihren rechtlichen Status kritisieren. Selbst wenn wir damit Erfolg haben sollten, würde dann eine andere Institution den Platz von Imralı einnehmen und wir würden das als ZuschauerInnen so hinnehmen müssen. Ein Ausweg aus der Imralı-Isolation kann deshalb nur mit einer rechtlich-politischen Neuregelung erreicht werden.

Im Original erschien der Artikel im Kurdistan Report – März/April 2019.